Verkauf der Chipfertigung läßt viele Fragen offen

Digitals Alpha-Deal verunsichert die Anwender

09.01.1998

Kaum war der Verkauf der Chipfertigung an die bis dato als scharfer Rivale geltende Intel Corp. beschlossen, schockierte DEC seine Kunden mit einer weiteren Hiobsbotschaft. Auf der Comdex in Las Vegas kündigte Digital-Manager Bill Johnson an, daß sich das Unternehmen wegen der Einigung mit Intel auch aus dem Geschäft mit Prozessor-Boards für OEM-Kunden zurückziehen werde. Diese Aufgabe erledigen künftig der koreanische Hersteller Samsung und Deskstation Technology.

Angesehene Branchenkenner wie Linley Gwennap, Herausgeber des "Microprocessor Report", haben längst den Abgesang auf die Chiparchitektur angestimmt. Auf lange Sicht werde Digital seine Alpha-Produktlinie auslaufen lassen, spekuliert Gwennap öffentlich. Sobald der Hersteller damit beginne, Rechner mit den von Intel und HP entwickelten "IA-64"- ("Merced"-)Chips zu verkaufen, schwinde das Interesse an Alpha-Maschinen. Digital dementiert dies heftig. Erst kürzlich versicherte Paul Santner, Vorstand der Digital Equipment GmbH, gegenüber der CW, die Kooperation mit Intel sei "nicht der Anfang vom Ende (...), sondern der Beginn der Alpha-Ära". Anwender reagieren auf die jüngsten Aktivitäten mit Verunsicherung.

"Ich denke, daß die Alpha-Architektur mit dieser Entwicklung langsam sterben wird", glaubt Franz Grobbel aus dem IT-Bereich der Unternehmensberatung Kienbaum in Düsseldorf. Norbert Wiehl vom Institut für Kernchemie der Universität Mainz und zweiter Vorsitzender der Digital-Anwendervereinigung Decus München e.V., kommt zu einem anderen Urteil. "Natürlich ist so eine Entscheidung immer mit einem gewissen Risiko behaftet." Zunächst einmal bedeute dies für Alpha aber auch eine Chance. "Die Fabriken wären für Digital auf die Dauer wahrscheinlich sowieso zu teuer geworden." Der Hersteller habe es nicht geschafft, Alpha-Prozessoren in ausreichenden Stückzahlen abzusetzen, um die jetzt veräußerte Fabrik in Hudson, Massachusetts, auszulasten. Insofern sei der Deal durchaus auch positiv zu bewerten. Die längerfristigen Perspektiven beurteilt aber auch Wiehl kritisch: "Die Zukunft von Alpha wäre auch ohne die Einigung mit Intel fraglich gewesen."

Intel habe eingewilligt, Spitzentechnologie für einen Chip zur Verfügung zu stellen, der eines Tages Merceds schärfster Konkurrent werden wird, schreibt Gwennap in diesem Zusammenhang. Dies mache auf lange Sicht nur Sinn, wenn Intel darauf zählen könne, daß sich DEC - sobald Merced verfügbar ist - von Alpha verabschiedet. Digital Equipment käme nach dieser Argumentation die Rolle eines Lückenbüßers zu. Gwennap zufolge ist die Aufgabe der Alpha-Produktlinie möglicherweise längst beschlossene Sache und auch Teil der vertraglichen Vereinbarungen beider Unternehmen.

Daran änderten auch die anhaltenden Bemühungen Digitals, mit der preisgünstigen Alpha-Variante "21164PC" im Markt für High-end-PCs zu reüssieren, nichts. Gwennap wie auch sein Kollege Michael Slater, Gründer des "Microprocessor Report", halten dieses Vorhaben für wenig aussichtsreich (siehe Kasten).

Auch Reiner Korth, DV-Leiter beim Kernkraftwerk Lippe-Ems, sieht nach dem DEC-Intel-Abkommen "eine gewisse Verunsicherung im Markt". Von der Leistungsfähigkeit der Alpha-Prozessoren ist er zwar "sehr überzeugt". Die große Frage sei jedoch, wie sich Digital künftig am Markt positionieren werde. "Technologisch sind die Leute ja fit", meint der IT-Verantwortliche. Die Produkte seien ausgereift und performant. In der Logistik und im Vertrieb hapere es aber zur Zeit. Für das Kraftwerk habe man gerade erst zwei neue Alpha-Systeme bestellt und werde auch im Jahr 1998 noch voll auf Alpha setzen. Korth: "Danach müssen wir die Augen offen halten."

Wie sein Mitstreiter Wiehl kann auch Otto Titze, erster Vorsitzender der Decus-Vereinigung, dem Intel-DEC-Geschäft positive Seiten abgewinnen. Digital sage selbst, daß kommende Prozessorgenerationen jetzt schneller auf den Markt gebracht werden könnten. Ohne die Partnerschaft mit Intel hätte der Hersteller dafür enorm investieren müssen. Auch die geplante Portierung von Digitals Unix-Derivat auf die IA-64-Architektur - ebenfalls Bestandteil des Abkommens - könne sich positiv auswirken. "DEC hat uns immer wieder versichert, alles zu tun, um Alpha weiterzuführen", berichtet Decus-Kollege Wiehl. Dies sei nun vor allem auch ein psychologisches Problem. Die weitere Entwicklung hänge stark davon ab, wie der Markt reagiere. "Wenn jetzt viele sagen, es ist zu Ende, dann ist es auch zu Ende."

Ob es angesichts der Marktmacht Intels noch vieler Psychologie bedarf, scheint indes fraglich. Vielmehr hat es den Anschein, als sollten sich Anwender alsbald mit der Frage befassen, wie schwierig eine eventuelle Migration von Alpha auf IA-64 eines Tages sein könnte. Mit der Entwicklung eines Alpha-zu- IA-64-Übersetzungsprogramms ("Binary Translator") könnte Digital seinen Kunden den Übergang erleichtern, meint etwa Gwennap.

"DEC hat bei Binary Translators einiges an Know-how", berichtet Titze. "Wir haben hier mit Digital gute Erfahrungen gemacht, etwa beim Übergang der VAX-Midrange-Systeme auf die Alpha-Architektur." Auch die Übersetzungsoftware "FX 32" (für Standard-Windows-Anwendungen auf Alpha-Systemen) habe gut funktioniert. DV-Leiter Korth kann sich eine Migration vorstellen. Weil der größte Teil der Anwendungen im Kernkraftwerk Lippe-Ems bereits unter NT laufe und man sich in den nächsten Jahren ganz von Open VMS verabschieden werde, ergäben sich dabei wahrscheinlich keine größeren Probleme.

Was wird aus Open VMS?

Auch Decus-Mann Wiehl hält ein Migrations-Tool für denkbar. Im Moment stehe das aber nicht zur Debatte. Ob ein Binary Translator längerfristig Sinn macht, ist für ihn fraglich. DEC-Unix werde ohnehin auf die IA-64-Architektur portiert. Wenn es einmal soweit sei und die Unix-Anwendungen für die Merced-Technik neu kompiliert würden, bestünde eventuell gar kein Bedarf mehr für eine Übersetzungssoftware. Für die beiden Haupt-Betriebssysteme (NT und Unix) sei dies ohnehin kein Thema, meint Wiehl. Die längerfristige Frage lautet für ihn: Was wird aus Open VMS?

"Von DEC kam die Aussage, daß VMS sicherlich auf den 64-Bit-Intel-Chip gebracht wird, was ich mir nicht so ganz vorstellen kann", berichtet Wiehl. Mit dem Intel-Deal sei auch die VMS-Zukunft wieder ein Stückchen in Frage gestellt. "Über VMS wird in absehbarer Zeit keiner mehr reden", glaubt der Kienbaum-Mann Grobbel. DEC habe es nicht geschafft, VMS mit einer modernen Oberfläche zu versehen. Decus-Vorstand Titze dagegen sieht für das vielerorts nur noch als Nischenprodukt betrachtete Betriebssystem noch Chancen. Vor allem im Zusammenhang mit DECs Multiprozessor-Technik "Galaxy" erwartet er einen Schub. Im technischen Bereich sei für VMS "noch einiges drin". DEC habe das Betriebssystem die letzten zwei Jahre mehr oder weniger totgeschwiegen. Dies ändere sich derzeit wieder. Bei allem Optimismus schränkt jedoch auch Titze ein: "Wenn Alpha eines Tages ausläuft, wird auch VMS verschwinden.