IT in der Automobilindustrie/Standardisierungsgerangel zu befürchten

Digitale Karten für die Autonavigation in Sicht

11.09.1998

Mehr als 400 Millionen Mark haben die Firmen Navigation Technologies (Navtech) und Teleatlas allein in Europa in die Herstellung digitaler Karten investiert. Sie liefern das Datenmaterial, aus dem Autonavigationsgeräte die kürzeste Strecke von A nach B berechnen.

In einem Kopf-an-Kopf-Rennen haben die beiden Firmen etwa 60 bis 70 Prozent von Westeuropa digitalisiert. Erfaßt wurden alle größeren Städte und alle Haupt- verbindungsstrecken bis hin zu Kreisstraßen. Auf dem Land gibt es allerdings weiße Flecken, deren Kartierung noch bevorsteht.

Die Pionierarbeit hat sich noch nicht gelohnt. Nur langsam fließen die Investitionen in die Kassen der Philips-Tochter Navtech und der zu Bosch/Siemens gehörenden Firma Teleatlas zurück. Seit Jahren warten die beiden Konkurrenten auf den immer wieder vorhergesagten Nachfrageboom bei Autonavigationsgeräten.

Jetzt erst zeichnet sich ein Silberstreif am Horizont ab. Nach einer kürzlich veröffentlichten Prognose von Frost & Sullivan wird die Zahl der verkauften Navigationsgeräte von knapp 600000 im Jahr 1997 mit jährlichen Steigerungsraten von 25 bis 50 Prozent auf sechs Millionen im Jahr 2004 hochschnellen. Navtech-Manager Matthias Thorner sieht bereits Vorboten für den serienmäßigen Einbau von Navigationsgeräten in Mittelklassewagen und damit Anzeichen für eine anziehende Nachfrage nach digitalen Karten.

Was diese "Karten" - in Wirklichkeit handelt es sich um Datenbanken - teuer macht, ist ihre langwierige Herstellung. Am Anfang steht die Digitalisierung herkömmlicher Karten auf Papier sowie hochauflösender Luftaufnahmen. Beide Firmen achten auf umfangreiches Quellenmaterial, um schon in dieser Phase alle auf Papier verfügbaren Details zu erfassen.

Bei Navtech erledigt die europäische Firmenzentrale in Best die ersten Arbeitsschritte. Ein Spezialistenteam registriert für Kreuzungen und andere wichtige Punkte auf der Landkarte die geografischen Koordinaten. Die Richtigkeit dieser Daten wird auf Workstations mit einer geografischen Software kontrolliert.

Das Resultat dieser Arbeit besitzt den Spitznamen "Spaghetti-Karte". Denn der auf einem Plotter ausgedruckte Rohentwurf erinnert in der Tat an die beliebten italienischen Nudeln.

Um die Karte in eine detailgetreue Datenbank zu verwandeln, die dem Fahrer den kürzesten Weg zum Ziel weist, schwärmen die Feld- und Regionalteams der Kartenhersteller tagtäglich aus. Sie bereisen die Städte und Regionen, um Fußgängerzonen, Einbahnstraßen, Abbiegeverbote und andere Merkmale ausfindig zu machen, die bei der Routenführung zu beachten sind. Für jeden Straßenabschnitt erfassen die Fachleute bis zu 150 Merkmale, darunter Straßenname, Straßenart, Straßenbreite, Zahl der Fahrspuren und Verkehrszeichen. Erfaßt werden auch "Points of Interest", beispielsweise Restaurants, Hotels, Flughäfen, Bahnhöfe, Tankstellen und Sehenswürdigkeiten.

Ballungsräume machen weniger Arbeit als ländliche Gebiete, erklärt Thorner, bei Navtech für die regionalen Recherchen zuständig. Die großen Städte sind über ihre Straßennetze meist gut im Bilde. Dagegen fehlen in kleinen Städten und auf dem Land häufig zuverlässige Quellen. Die Geografen müssen daher die benötigten Daten wie bei einem Puzzle zu einem vollständigen Bild zusammenfügen, erklärt Thorner.

Roland Gerasch vom Regionalbüro Bayern hat mit seinem Geografenteam bereits alle großen Städte mit mehr als 50000 Einwohnern komplett recherchiert. Auch sämtliche Ortsverbindungs- und Kreisstraßen sind erfaßt. Gerasch sucht den engen Kontakt zu den Kommunen, aus seiner Sicht das "Rückgrat des Updating" digitaler Karten. Die Zusammenarbeit mit den Kommunen klappt nach seiner Darstellung in der Regel sehr gut. Nur in Ausnahmen würden seine Leute mit dem Hinweis "Wir brauchen das nicht" abgewiesen.

Nach den Recherchen vor Ort werden die Daten noch einmal mit einer geografischen Software auf Stimmigkeit geprüft und ausgeliefert. Die Produzenten von Navigationsgeräten übertragen die Informationen sodann mit einem Compiler in ihr proprietäres Format und lassen die CD-ROM-Produkte herstellen, die der Autofahrer in sein Gerät einlegt.

Warten auf den Standard

Anders als bei CD-Playern, die jede Musik-CD abspielen, können Navigationsgeräte nur das proprietäre Datenformat des Herstellers lesen ("Carin" versteht immerhin schon zwei Datenformate). Ein und dieselbe digitale Karte muß daher in mehreren Versionen für die verschiedenen Navigationsgeräte produziert werden. Dieser Umstand behindert die Marktentwicklung. Denn ein Autofahrer muß peinlich genau darauf achten, daß die CD, die er kaufen möchte, zu seinem Navigationsgerät paßt, und die Hersteller müssen die gleiche Karte in vielen Versionen ausliefern.

Um diese Hindernisse abzubauen, arbeiten Navtech und Teleatlas zusammen mit anderen Firmen in der International Standard Organization an einem gemeinsamen ISO-Standard für digitale Karten. Mit einem Ergebnis ist erst in zwei Jahren zu rechnen. So lange will sich Navtech jedoch nicht mehr gedulden. Die Firma entwickelt daher unter dem Namen SDAL einen vorläufigen Standard. Die Offenlegung der entsprechenden Spezifikationen ist im Herbst 1998 geplant.

Johannes Kelch ist freier Autor in München.