Industrie 4.0 in der Industrie

Digital, aber nicht disruptiv

27.05.2020
Von 


Manfred Bremmer beschäftigt sich mit (fast) allem, was in die Bereiche Mobile Computing und Communications hineinfällt. Bevorzugt nimmt er dabei mobile Lösungen, Betriebssysteme, Apps und Endgeräte unter die Lupe und überprüft sie auf ihre Business-Tauglichkeit. Bremmer interessiert sich für Gadgets aller Art und testet diese auch.
Einer Studie zufolge war die deutsche Industrie bereits vor Corona in Sachen Digitalisierung gut positioniert. Dennoch haben die hiesigen Global Player noch Einiges zu tun, um in Sachen Industrie 4.0 weltweit den Ton anzugeben.
Industrie 4.0 macht Unternehmen robuster - auch gegenüber der Coronakrise.
Industrie 4.0 macht Unternehmen robuster - auch gegenüber der Coronakrise.
Foto: Pressmaster - shutterstock.com

Je digitaler die Industrie-Unternehmen aufgestellt sind, desto schneller werden sie sich von den Folgen des Shutdown erholen: Dieser Ansicht ist nicht nur Bitkom-Präsident Achim Berg, sie herrscht offensichtlich auch bei den meisten Unternehmen selbst vor. In einer repräsentativen Umfrage des Branchenverbands unter 552 Industrie-Unternehmen erklärten 94 Prozent der Befragten, sie sähen in der Industrie 4.0 die Voraussetzung für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Und mehr als jeder Zweite (55 Prozent) betonte, Industrie 4.0 gebe dem eigenen Geschäft generell neuen Schub.

Angesichts solcher Aussagen überrascht es wenig, dass das Thema in Deutschlands Fabriken bereits angekommen ist: Fast sechs von zehn Industrie-Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern in Deutschland (59 Prozent) nutzen laut Umfrage bereits spezielle Anwendungen aus dem Bereich Industrie 4.0, weitere 22 Prozent planen den Einsatz. Und 17 Prozent können sich vorstellen, dies in Zukunft zu tun. Zugleich hat sich der Anteil der Unternehmen, für die Industrie 4.0 gar kein Thema ist, seit 2018 von neun Prozent auf ein Prozent verringert.

Digitalisierung schafft neue Geschäftsmodelle

Dabei werden bei fast drei Viertel (73 Prozent) der deutschen Industrie-Unternehmen im Zuge von Industrie 4.0 nicht nur einzelne Abläufe oder Prozesse verändert, sondern ganze Geschäftsmodelle - eine deutliche Zunahme seit 2018, wo es noch 59 Prozent waren. Etwas mehr als jedes zweite Unternehmen (51 Prozent) entwickelt immerhin neue Produkte und Dienstleistungen oder plant dies (2018: 39 Prozent) und jedes vierte (26 Prozent) verändert bestehende Produkte oder hat dies vor (2018: 18 Prozent). 28 Prozent nehmen bisherige Produkte und Dienstleistungen sogar ganz vom Markt (2018: 20 Prozent).

"Automobilproduzenten entwickeln sich zu Anbietern von Mobilitätslösungen und Hersteller von Medizintechnik zu smarten Gesundheits-Dienstleistern. Dieser Weg muss nun branchenübergreifend in der gesamten Industrie fortgeführt werden, weil dies die große Stärke von Industrie 4.0 ist", befindet Bitkom-Präsident Berg. Denn wenn die Produktion mit Abbau der Corona-Beschränkungen nun langsam wieder hochgefahren werde, gelte es einmal mehr, das eigene Geschäft auf den Prüfstand zu stellen. "Die Geschäftsmodelle der Zukunft sind ausschließlich digital", so Berg.

Apropos Geschäftsmodelle: Wie die Studie ergab, setzt die Mehrheit der Industrie-Unternehmen, die neue Produkte und Dienstleistungen im Zuge von Industrie 4.0 entwickeln, wenig überraschend auf plattformbasierte Geschäftsmodelle (88 Prozent). Knapp die Hälfte der Unternehmen hat Pay-per-Use-Modelle eingeführt (45 Prozent) und 18 Prozent betreiben datenbasierte Geschäftsmodelle, wo Produkt- und Produktionsdaten verkauft werden oder darauf aufbauend neue Dienste angeboten werden.

Aktuell wirken die neuen Geschäftsmodelle allerdings nur zu einem kleinen Teil disruptiv, wie der Bitkom herausfand: Lediglich bei drei Prozent der betreffenden Unternehmen wurden bisherige Geschäftsmodelle komplett abgelöst. Dagegen existieren bei einer Mehrheit von 77 Prozent neue und alte Geschäftsmodelle vorerst noch nebeneinander. Die restlichen 15 Prozent befinden sich nach eigenen Angaben noch in der Entwicklungsphase.

Obwohl den Unternehmen das Potenzial von KI bewusst ist, kommt die Technologie in der Industrie noch zu selten zum Einsatz.
Obwohl den Unternehmen das Potenzial von KI bewusst ist, kommt die Technologie in der Industrie noch zu selten zum Einsatz.
Foto: Bitkom Research

Eine besondere Rolle wird auch dem neuen Mobilfunkstandard 5G beigemessen, mit dem sich große Datenmengen drahtlos und in Echtzeit übertragen lassen. 73 Prozent der Industrie-Unternehmen sehen die Verfügbarkeit von 5G für das eigene Geschäft als wichtig an - davon 36 Prozent als "sehr wichtig" und 37 Prozent als "eher wichtig".

Überraschend gering ist dagegen der Einsatz von Künstlicher Intelligenz verbreitet - neben 5G eine der Schlüsseltechnologien für Industrie 4.0: Von den Studienteilnehmern nutzen nur 14 Prozent KI in der Fabrik, wobei größere Unternehmen ab 500 Mitarbeitern deutlich häufiger auf Machine Learning und Ähnliches setzen als kleinere Unternehmen.

Dennoch hält es die Mehrheit der Befragten (58 Prozent) für wahrscheinlich, dass KI die Geschäftsmodelle in der Industrie tiefgreifend verändern wird. Als wichtigste Vorteile von KI im Kontext von Industrie 4.0 werden dabei Predictive Maintenance (43 Prozent), eine Steigerung der Produktivität (41 Prozent) sowie die Optimierung von Produktions- und Fertigungsprozessen (39 Prozent) genannt.

Industrie 4.0 schafft Arbeitsplätze - für Qualifizierte

Die Einführung neuer Technologien, Werkzeuge und Methoden hat natürlich auch Auswirkungen auf die Beschäftigten in den Unternehmen. Hier zeigt sich ein gemischtes Bild: 66 Prozent der Befragten bekräftigen, dass durch Industrie 4.0 neue Arbeitsplätze für gut ausgebildete Fachkräfte entstehen. Gleichzeitig gehen fast ebenso viele Unternehmen (61 Prozent) davon aus, dass Arbeitsplätze für gering qualifiziertes Personal wegfallen.

In der Umfrage bekundeten 14 Prozent der Teilnehmer, sie planen für 2020, Mitarbeiter infolge der Nutzung von Industrie 4.0 zu entlassen. Auf der anderen Seite haben 31 Prozent der Unternehmen, die Industrie 4.0 anwenden oder planen, bereits 2019 neue Mitarbeiter für den Bereich Industrie 4.0 eingestellt - und immerhin jedes fünfte Unternehmen (20 Prozent) will dies 2020 tun. Unterm Strich würden wohl mehr Arbeitsplätze entstehen als wegfallen, erklärte der Bitkom-Chef und verwies zudem auf einen gewissen Corona-Effekt in der Studie. So habe die Umfrage bis Mitte April stattgefunden, als die Unternehmen bereits Einbrüche im Geschäft registrierten.

Wie die Umfrage weiter ergab, wollen zwei Drittel (65 Prozent) der Nutzer und Planer von Industrie 4.0 in diesem Jahr Mitarbeiter für Industrie 4.0 weiterbilden. Hier sieht Berg Wirtschaft und Politik in der Pflicht, digitale Bildung langfristig zu garantieren. "Der Wissens- und Ausbildungsbedarf wird bedingt durch schnellere Innovations- und kürzere Produktzyklen immer größer", so der Bitkom-Präsident.

Tatsächlich geben 58 Prozent der Studienteilnehmer an, dass der Mangel an Spezialisten für Industrie 4.0 zu den großen Hemmnissen zählt - 2019 waren es noch 55 und 2018 nur 49 Prozent. Noch größere Hürden für die digitale Fabrik sind jedoch die hohen Investitionskosten (73 Prozent) sowie die Anforderungen an Datenschutz (67 Prozent) und Datensicherheit (66 Prozent).

Zahlreiche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass Industrie-4.0-Anwendungen nur bedingt zum Einsatz kommen.
Zahlreiche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass Industrie-4.0-Anwendungen nur bedingt zum Einsatz kommen.
Foto: Bitkom Research

Trotz aller Hindernisse sieht sich die deutsche Industrie laut Studie in Sachen Industrie 4.0 gut aufgestellt: Mehr als jedes fünfte Unternehmen (22 Prozent) sieht Deutschland derzeit weltweit auf einer Spitzenposition, knapp hinter den USA, die 27 Prozent auf Platz Eins sehen. 19 Prozent sehen Japan vorn, jeder Siebte (14 Prozent) China. Südkorea wird von neun Prozent an der Spitze positioniert.

Aus Sicht des Bitkom gilt der Anspruch auf Platz Eins zu stehen, die Führungsrolle in die digitale Welt übertragen, für die Zeit nach Corona noch mal mehr. "Wenn 'Made in Germany' weiterhin weltweit gefragt sein soll, müssen wir in der Industrie 4.0 nicht nur mitspielen, wir müssen den Ton und das Tempo vorgeben", erklärt Bitkom-Präsident Berg. Er sieht dringenden Klärungsbedarf bei wichtigen Fragen wie dem Umgang mit Daten, dem Verhältnis von ökonomischem Vorsichtsprinzip und Risikobereitschaft bei Innovationen oder dem Wettbewerbsrecht. "Um die bestehenden Stärken der deutschen Industrie weiter auszubauen, muss der traditionell ordnungspolitische Ansatz deutscher Wirtschaftspolitik digital-industriepolitisch ergänzt werden", so Berg.