Streß ist gut fürs Image, aber schlecht für die Innovation

Die Zeit hat den modernen Manager fest im Griff

13.08.1999
Von Hilde-Josephine Post* Zwei Drittel aller Deutschen klagen über Zeitnot und Streß. Dabei hat sich nach einer Untersuchung des Marktforschungsunternehmens Prognos das Volumen an freier Zeit in den letzten 90 Jahren versechsfacht. Die Zahl der jährlichen Arbeitsstunden schrumpfte zwischen 1900 und 1987 von durchschnittlich 4000 auf 1500. In 30 Jahren sollen es nur noch 800 Stunden sein. Warum geht die Rechnung "Mehr Zeit = mehr Muße" nicht auf?

Seit der Industrialisierung versucht der Mensch, Zeit zu sparen. Mit der Erfindung der Gasbeleuchtung 1799 und der Erforschung der Elektrizität kamen die natürlichen Rhythmen durcheinander: Das künstliche Licht brachte Wirtschaftsexperten auf die Idee, die Nacht zu zähmen. Der Mensch begab sich von nun an in die Mühle des 24-Stunden-Takts.

Zeit, einst ein göttliches Geschenk, entwickelte sich durch ihre Meßbarkeit immer stärker zu einem Mittel, um Arbeit, Produktivität und Effizienz zu kontrollieren. Seitdem Benjamin Franklin im 18. Jahrhundert "Zeit ist Geld" postulierte, degradiert unser lineares Denken den Faktor Zeit immer mehr zu einer Ware. Ruhephasen, die sich nicht in Geld verwandeln lassen, scheinen wertlos.

Hans Nutzinger, Wirtschaftsprofessor an der Gesamthochschule Kassel, bezeichnet die Steigerung der Produktivität als Zeitdiebstahl. Die Menschheit zehrt Ressourcen wie Kohle, Öl, Gas und andere Bodenschätze, die sich in Jahrmillionen gebildet haben, in wenigen Jahrzehnten auf. Bisher hat die Natur die Kosten übernommen, doch langsam schlägt der Raubbau auf die Menschheit zurück. Zum einen nehmen wachsende Umweltprobleme den heutigen und kommenden Generationen immer mehr Lebensqualität. Zum anderen setzt sich der Mensch einem immer größeren Zeitdruck aus, je mehr er sich von natürlichen Rhythmen zu befreien versucht.

"Die Schnellen, so suggerieren uns Manager, fressen die Langsamen. Niemand hat mehr Zeit zu überprüfen, ob das eigentlich bekömmlich ist", sagt Zeitpapst Karlheinz Geißler, Professor an der Universität der Bundeswehr in München. Das Zeitkarussell dreht sich immer schneller. Fahrzeughersteller wie BMW versprechen sich bis zu 50 Prozent kürzere Entwicklungszeiten, wenn es gelingt, Prototypen mit Hilfe von dreidimensionalen digitalen Räumen nur noch virtuell herzustellen. Noch deutlicher läßt sich der Beschleunigungstrieb in der IT-Industrie beobachten. Entwicklungszyklen von Computern und Handies werden stetig kürzer. Rudi Lamprecht, Vorsitzender des Siemens-Bereichsvorstands der IuK-Produkte, offenbarte auf dem diesjährigen Siemensforum:

"Die durchschnittliche Lebensdauer eines Produkts beträgt bei uns ein Jahr. 75 Prozent unseres Geschäfts tätigen wir mit Produkten, die jünger als zwei Jahre sind. Noch vor fünf Jahren machten diese nur 50 Prozent aus." Nach dem Mooreschen Gesetz bringen Halbleiterhersteller wie Intel alle 18 Monate einen neuen Prozessor auf den Markt. Die Software-Industrie treibt es auf die Spitze: Die durchschnittliche Lebensdauer einer Programmversion liegt bei drei Monaten.

Daß schneller aber nicht zwangsläufig besser ist, zeigt die Realität. Rückrufaktionen häufen sich, ob das nun die vom Elchtest aus der Bahn geworfene A-Klasse von Mercedes Benz, das Waschmittel Omo Power von Unilever oder die in Deutschland entwickelte Neigezugtechnik ist. In vielen Fällen bleibt nicht die Zeit, um das Produkt genügend auszutesten. Die Software-Industrie erlaubt es sich sogar, den Kunden als Testperson zu mißbrauchen. Er spürt unzählige Bugs in den Programmen auf und schmälert dadurch sein kostbares Zeitbudget erheblich.

Zeitwohlstand steht in einem Spannungsverhältnis zum materiellen Güterwohlstand. Hans Nutzinger formuliert das so: "Wer nicht mit der Zeit haushalten kann, den trifft als Strafe der Druck der Gesellschaft." Rettung verkünden Marketing-Leute mit neuen Medien wie etwa dem Internet: "Und wieder werden sich Menschen von Zeit und Raum befreien", tönt der Werbeslogan für Online-Banking. Zeitlose Mobilität versprechen Notebooks, PDAs und Handies: von überall zu jeder Zeit arbeiten.

Zugegeben, es hat seine Vorteile, mitten in der Nacht E-Mails abschicken zu können, ohne daß der Empfänger wach sein muß. Mit dem Notebook lassen sich auch auf der grünen Wiese Berichte schreiben, das Handy sichert die Erreichbarkeit in Notfällen. Demnach ist nicht die Technologie zu verteufeln, denn sie kann eine Menge Vorteile bringen. Auf den richtigen Umgang damit und mit der Zeit kommt es an. Dafür ist jeder Mensch selbst verantwortlich. Offensichtlich fällt das schwer: Eine Umfrage unter deutschen Topmanagern - so schreibt Fritz Rheis, Lehrbeauftragter an der Universität Bamberg, in seinem Buch "Die Kreativität der Langsamkeit" - hat ergeben, daß 45 Prozent von ihnen wöchentlich zwischen 60 und 70 Stunden arbeiten, 15 Prozent sogar noch länger. Bei McKinsey sind 70 Stunden pro Woche Standard. Dennoch reißt sich Europas Manager-Nachwuchs darum, bei dem amerikanischen Beratungsunternehmen eine Stelle zu bekommen.

Es könnte der Eindruck entstehen, keine Zeit zu haben sei gut fürs Image. Denn je mehr Telefongespräche und Termine pro Tag anstehen, desto wichtiger kommen sich viele Manager vor. Die amerikanischen Unternehmensberater Gay Hendricks und Kate Ludeman berichten in ihrem Buch "Visionäres Management": "Vor einiger Zeit saßen wir neben dem Nike-Boß Philip Knight im Flugzeug. Hinter uns saß jemand aus dem mittleren Kader. Er verbrachte den ganzen Flug am Telefon, bellte Anweisungen hinein und verbrauchte eine Unmenge Energie. Als wolle er den Leuten zeigen, wie wichtig er war. Philip hingegen verbrachte seine Zeit mit Denken, Lesen und Dösen. Eine spürbare Gelassenheit umgab ihn. Uns wurde klar, wieviel Energie bei Geschäften durch das Ego und Vorgeben falscher Macht vergeudet wird."

Auch Zeitpapst Geißler bestätigt, daß viele Führungskräfte "die hastige Flucht zum ziellosen Vorne angetreten haben. Für gründliche Planung, für fruchtbares Nachdenken, für sensibles Auswerten des Erreichten bleibt in den Betrieben viel zuwenig Zeit." Der moderne Manager hat keine Zeit, dafür hat ihn die Zeit fest im Griff. Das wirft zwangsläufig die Frage auf: Agieren Manager, oder reagieren sie nur noch? In einer Studie der Akademie für Führungskräfte in Bad Harzburg fand man heraus, daß Innovationsschwäche bei Führungskräften vor allem auf Zeitmangel zurückzuführen ist.

Überarbeitung macht stumpfsinnig

Frühzeitiges Ausgebranntsein sei keine Seltenheit mehr. Herz- und Kreislauferkrankungen kämen in den westlichen Industrieländern mehr als doppelt so häufig vor als in der Dritten Welt. Für zehn Prozent der Todesfälle bei Männern macht das Gesundheitsministerium in Japan "Karoshi", den Tod durch Überarbeitung, verantwortlich. Der Glaube, je mehr Zeit ein Mitarbeiter zu investieren bereit sei, um so gewinnbringender sei er fürs Unternehmen, ist ein Trugschluß. Genauso wie der menschliche Körper bei einseitiger Ernährung auf Dauer krank und müde wird, verhält es sich mit dem Geist, wenn dieser immer nur in einer speziellen Richtung gefüttert und belastet wird. Er stumpft ab, wird ideenlos und kurzsichtig.

So kursieren derzeit auch verstärkt Begriffe wie Entschleunigen, kreative Pausen, Arbeitszeit gestalten, Teilzeitarbeit, Sabbaticals in der Unternehmensszene. Manager der neuen Generation sollten dem Diktat der Uhr entrinnen, mit ihrer Zeit haushalten und dadurch Vitalität und Effizienz in ein Unternehmen bringen. Nur dann haben sie auch eine Chance, den Fängen des Teufels zu entkommen: Denn laut einem italienischen Sprichwort ist die Eile seine Erfindung.

Hinweis

Im nächsten Heft geht es um praktisches Zeit-Management: Wissenschaftler wie Lothar Seiwert und Mediziner geben Tips zum richtigen und intelligenten Umgang mit Zeit.

*Hilde-Josephine Post ist freie Journalistin in München.