Tragweite von DV-Entscheidungen häufig noch nicht erkannt:

Die Zeit der operativen Systeme ist endgültig vorbei

05.02.1988

Der mittelständische Unternehmer muß erkennen, welchen Stellenwert die Informationsverarbeitung für den Bestand seines Betriebes hat. Erst dann, so Friedrich Edinger*, können existenzgefährdende Flops beim Einsatz von Standardsoftware vermieden werden.

Die Frage nach dem Für und Wider des Einsatzes von Standardsoftware ist für die Vielzahl der mittelständischen Anwender lange beantwortet, beziehungsweise hat sich für diesen speziellen Kreis nie gestellt. Mangelnde Finanzkraft, um in teure Eigenentwicklungen zu investieren, häufig fehlendes DV-Know-how und die Bereitschaft, die betrieblichen Abläufe an die vorgegebene Ablauforganisation der Software anzupassen und somit ein System weitestgehend unverändert einzuführen, haben die mittelständische Wirtschaft zum idealen Anwender von Standardsoftware gemacht.

Trotz dieser Voraussetzung kommt es immer häufiger zu Problemen bei der Einführung von Standardsystemen. Dies liegt zu einem wesentlichen Teil daran, daß viele mittelständische Unternehmer eine längerfristige Planung für den Einsatz der Informationsverarbeitung kaum in Betracht ziehen. Nach wie vor wird häufig die Meinung vertreten, es reiche völlig aus, wenn die Tätigkeiten der Sachbearbeiter durch operative Systeme unterstützt werden. Der Informationsbedarf des Managements - sofern überhaupt artikulierbar - wird weiterhin mit Papier und Bleistift befriedigt.

Aus dieser Geisteshaltung heraus ist es nur allzu verständlich, daß immer wieder Systementscheidungen getroffen werden, ohne daß ein Gesamtkonzept oder zumindest ein Konzept für das betroffene Sachgebiet erarbeitet wird. Die Probleme, die sich dann zwangsläufig während der Einführungsphase des Systems einstellen, sind mannigfaltig und reichen von einer nicht ausreichenden Funktionalität der Software bis hin zu Kapazitätsengpässen im Bereich der Terminals, der Plattenspeicher und des Hauptspeichers. Es kommt häufig sogar dazu, daß diese Kapazitätsengpässe im Feld nicht beseitigt werden können und dadurch die Einführung abgebrochen werden muß.

Um solche unter Umständen existenzgefährdenden Flops zu vermeiden, muß gerade der mittelständische Unternehmer erkennen, welchen Stellenwert die Informationsverarbeitung für den Bestand seines Unternehmens hat. Er muß die Chancen und Risiken der Informationsverarbeitung erkennen und beurteilen können. Bezogen auf den Einsatz von Standardsoftware heißt das, daß eine Reihe von wesentlichen Einflußfaktoren die Auswahl und Einführung solcher Systeme prägt. Diese müssen für das Unternehmen genau analysiert und so weit konzeptionell aufbereitet werden, daß sie als Grundlage für eine fundierte Entscheidung herangezogen werden können.

Der entscheidende Einflußfaktor ist jedoch die Funktionalität. Jede Standardsoftware bietet einen mehr oder weniger kompletten Umfang betriebswirtschaftlicher Funktionen für das jeweilige Teilgebiet. Zu berücksichtigen ist dabei, daß zum Beispiel im Bereich Produktionsplanung und -steuerung Standardpakete für unterschiedliche Betriebstypen (Einzelfertiger/Serienfertiger) entwickelt wurden. Sie weichen in ihrer Funktionalität erheblich voneinander ab, ohne daß daraus aber Rückschlüsse auf die Qualität der Systeme zulässig sind.

Soll-Konzept enthält auch Kommunikationsbeziehungen

Wer also die Funktionalität von Standardsoftware beurteilen will, muß zunächst ermitteln, welche betriebswirtschaftlichen Funktionen in seinem Unternehmen benötigt werden. Dabei empfiehlt sich dieselbe Vorgehensweise wie bei der Entwicklung von Individualsoftware: Nach der Abgrenzung der zu untersuchenden Funktionsbereiche wird der Ist-Zustand analysiert, bewertet und gemeinsam mit dem Fachbereich ein Soll-Konzept erarbeitet.

Bestandteile des Soll-Konzepts sind nicht nur die Beschreibung der betriebswirtschaftlichen Funktionen, sondern auch deren Kommunikationsbeziehungen untereinander sowie mit den benötigten Datenablagen. Daneben sind die Schnittstellen zu angrenzenden Funktionsbereichen zu beschreiben.

Die Gliederungstiefe des Soll-Konzepts muß aber nicht einheitlich sein. Weniger wichtige Funktionen können oberflächlicher behandelt werden als besonders wichtige Funktionen, die detailliert beschrieben werden müssen. Darüber hinaus sind die Funktionen herauszuarbeiten, die vom Unternehmen als unverzichtbar angesehen werden. Weiterhin sollten unabdingbare Restriktionen, wie zum Beispiel vorhandene Hardware, DB/DC-Systeme Bestandteile des Soll-Konzepts sein.

Aus dem mit dem Fachbereich abgestimmten Soll-Konzept werden anschließend die entscheidungsrelevanten Kriterien abgeleitet und in einem Kriterienkatalog zusammengefaßt. Dieser dient als Grundlage für die im nächsten Schritt durchzuführende Produkt-Evaluierung.

Dabei wird zunächst aufgrund der beschriebenen Restriktionen und K.o.-Kriterien eine Vorauswahl durchgeführt. Folgende Restriktionen können dabei von Bedeutung sein: Die Standardsoftware ist in dem vorhandenen Systemumfeld nicht ablauffähig; es ist nur eine begrenzte Anzahl von Bildschirmen anschließbar. Unter diese Restriktionen fällt auch, daß das System in einer Programmiersprache geschrieben ist, die ansonsten nicht eingesetzt wird. Zu überprüfen gilt ferner, ob die Anzahl der Installationen zu gering ist und ob der Hersteller eine langfristige Weiterentwicklung des Systems gewährleistet. Schließlich muß noch berücksichtigt werden, daß das System Bestandteil einer Systemfamilie ist und daß es zusätzlich mehrsprachig und mandantenfähig ist.

K.o.-Kriterien werden pro Funktionsbereich festgelegt. Bei der Vorauswahl eines PPS-Systems können zum Beispiel folgende Kriterien festgelegt werden: Die Standardsoftware muß neuere Lösungsansätze wie "Kanban", belastungsorientierte Auftragsfreigabe (BOA), Fortschrittszahlensysteme und Optimized Production Technology (OPT) unterstützen. Außerdem sollte sie spezielle Forderungen der Betriebstypologie, zum Beispiel Bedarfsverursacherführung, über alle Stufen beim Auftragsfertiger erfüllen. Des weiteren muß die Software branchenspezifische Forderungen wie Kuppelproduktion in der chemischen Industrie unterstützen.

Anpassungsaufwand kann den Kaufpreis übersteigen

Mit Hilfe der festgelegten Restriktionen und K.o.-Kriterien werden aus der Vielzahl der angebotenen Standardsysteme - alleine im PPS-Bereich gibt es gegenwärtig weit über 100 - die drei bis fünf Produkte ausgelesen, die in das eigentliche Auswahlverfahren einbezogen werden. In dieser Phase wird der aus dem Soll-Konzept abgeleitete Kriterienkatalog den verbleibenden Herstellern zugesandt. Diese senden ihn dann drei bis vier Wochen später beantwortet zurück.

In der Zwischenzeit wird der Katalog gemeinsam mit dem Fachbereich gewichtet. Dabei sollte Funktion für Funktion durchgesprochen und im Hinblick auf ihre Bedeutung mit einem Faktor versehen werden. Jedoch ist es unbedeutend, wie man den Gewichtungsrahmen festlegt, zum Beispiel "null" für nicht erfüllt bis "zehn" für von erfüllt. Wichtig ist nur, daß eine einheitliche Gewichtungssystematik zugrunde gelegt wird. Die eingehenden Kriterienkataloge werden im Sinne der Nutzwertanalyse ausgewertet und die Ergebnisse tabellarisch aufbereitet (siehe Abbildung 1 und 2).

Um zu einer abschließenden Beurteilung der untersuchten Systeme zu gelangen, ist die Analyse und Bewertung der weiteren Einflußfaktoren von Bedeutung. Da der funktionale Abdeckungsgrad der Standardsoftware normalerweise nicht zu 100 Prozent mit den Anforderungen des Soll-Konzepts übereinstimmt, sind der Aufwand und die Kosten zu ermitteln, die für die Realisierung des Delta aufgewandt werden müssen. Diese Kosten können im Einzelfall den Kaufpreis der Standardsoftware um ein Vielfaches übersteigen.

Weiterhin sind die Kosten für zusätzliche Hardware und systemnahe Software zu ermitteln. Ferner muß analysiert werden, inwieweit sich die Datenhaltung der Standardsoftware in das bestehende Datenhaltungskonzept integrieren läßt, und wo mit welchem Aufwand nachträglich Schnittstellen zu realisieren sind.

Erst die Gesamtbetrachtung aller Einflußfaktoren gibt Auskunft über die voraussichtlichen Investitionen, die mit der Einführung von verschiedenen Systemen verbunden sind. Dadurch kann die wirtschaftlichste Alternative für das Unternehmen nach einem transparenten und jederzeit nachvollziehbaren Verfahren aufgezeigt werden.

Nachdem die Entscheidung zugunsten eines Systems gefallen ist, wird im nächsten Schritt ein konkreter Realisierungsplan erstellt. Dabei ist zunächst festzulegen, in welcher Reihenfolge das System eingeführt wird und durch welche Maßnahmen die einzelnen Teile des Systems schrittweise mit den bestehenden Systemen integriert werden.

Daraus leiten sich eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen ab: Zusätzlich benötigte Hardware beziehungsweise systemnahe Software muß angeschafft werden, die Mitarbeiter der Fachbereiche und der Systementwicklung benötigen eine Schulung. Es gilt auch zu berücksichtigen, daß organisatorische Vorbereitungsarbeiten, wie zum Beispiel Aufbau beziehungsweise Anpassung von Verschlüsselungssystemen, durchzuführen sind. Ferner fallen Systemerweiterungen an, Schnittstellen müssen geschaffen werden, und schließlich muß noch die Ablauforganisation angepaßt werden.

Für die Einführung des Systems sollten unter allen Umständen externe Mitarbeiter, die das System kennen und es nach Möglichkeit bereits bei anderen Unternehmen eingeführt haben, eingeplant werden.

Erfahrungsgemäß lassen sich gravierende Fehlentwicklungen bei der Auswahl und Einführung von Standardsoftware dann vermeiden, wenn die wesentlichen Einflußfaktoren in der jeweiligen unternehmensspezifischen Umgebung analysiert und konzeptionell aufbereitet werden. Darüber hinaus sollte sich die Bewertung der Systeme an objektiven Kriterien orientieren, und die Ergebnisse müssen transparent und für das Management nachvollziehbar aufbereitet werden.

Damit diese, großen DV-Anwendern bereits häufig praktizierte, Vorgehensweise sich auch im Bereich der mittelständischen Wirtschaft durchsetzt, ist es notwendig, daß das Management die Tragweite solcher Entscheidungen erkennt. Mit dieser Erkenntnis sollte es bereit sein, in die Erarbeitung von Entscheidungsgrundlagen zu investieren.

* Friedrich Edinger ist Mitglied der Geschäftsführung, EDV-Studio Ploenzke, Wiesbaden.