Die Zeit der Abgrenzungen ist vorbei

02.11.2005
Von Werner Knoblich
Nie war Linux in einer solch günstigen Position. Die Bemühungen proprietärer Hersteller, sich gegen den Open-Source-Trend zu stemmen, werden letztlich vergeblich sein.

Der Trend zu Open-Source-Software (OSS) mit Linux als Betriebssystem ist unverkennbar. Alle Analysten prognostizieren, das freie Betriebssystem werde gegen Ende dieses Jahrzehnts einen zweistelligen Marktanteil besitzen. Die Zahlen schwanken zwischen 20 und 29 Prozent. Die eindeutigen Verlierer dieses massiven Trends sind Windows, Unix in den unterschiedlichen Derivaten und Legacy-Systeme.

Hier lesen Sie …

• wie umfangreich das Angebot an Open-Source-Software inzwischen ist;

• wie manche Anbieter ihre Pfründe aus alten Tagen zu schützen versuchen;

• warum wirklich freie, herstellerneutrale Standards letztlich doch unausweichlich sind.

Reibungsloser Wechsel programmiert

Für Wechselwillige, die bisher auf Solaris-Server von Sun Microsystems gesetzt haben, liegt ein reibungsloser Umstieg durch die technische Nähe beider Betriebssysteme nahe. Meist muss für den Ausstieg aus der teuren, Risc-basierenden Unix-Welt nur wenig an den bestehenden Server-Applikationen geändert werden. Im Hintergrund versuchen Hardwarehersteller wie IBM, HP und Fujitsu-Siemens mit ihrem ausgeprägten Linux-Engagement, die Anwender zum Ausstieg aus dem konkurrierendem Unix-System zu bewegen. Aber es ist nicht nur die Strategie gegen Sun Microsystems, die Linux innerhalb des Portfolios dieser Hersteller einen immer höheren Stellenwert beschert. Sie haben auch erkannt, dass Business-on-Demand-Leistungen ein freies Betriebssystem voraussetzen, über das Applikationen und Daten - ohne Interoperabilitätsprobleme zwischen Plattformen - nach Bedarf bereitgestellt werden können.

Für den deutlichen Trend zu Linux-Servern sprechen viele Gründe. Dazu zählen eine hohe Betriebssystem-Sicherheit, eine starke Stabilität, keine Softwarelizenzkosten und ein hochwertiger Support. Nigel Fortlage, Vice President of Information Technology bei GHY International, der kanadischen Zoll-Broker-Behörde in Winnipeg, schwärmt: "Linux ist unsere stabilste Plattform gleich nach dem Mainframe." Seit kurzem ist das Betriebsysystem mit Security Enhanced Linux (SELinux) noch besser gegen Angriffe von innen und außen abgeschirmt.

Auch mit Blick auf die Anschaffungskosten punktet Linux: Eine IDC-Studie enthüllt über einen Vergleich von Stückzahl und Umsatz, dass Windows-Server selbst im Jahr 2008 in der Anschaffung noch doppelt so teuer wie Linux-Server ausfallen sollen. In puncto Support attestiert Meta Group/Gartner in seiner Multiklientel-Studie zum OSS-Markt den großen Hardwareherstellern wie IBM, HP, Dell und Fujitsu-Siemens "hochwertige Unterstützungsleistungen für Linux, gestützt durch das starke Engagement der Linux-Distributoren wie Red Hat im Hintergrund".

Auch dort, wo für die Unternehmen der eigentliche Mehrwert entsteht, nämlich über Dienste und Applikationen, überzeugt Open-Source-Software immer mehr. Die Zahl der Softwareprodukte, die für Linux-Server verfügbar und zertifiziert sind, ist rasant gewachsen. Allein Red Hat hat bisher mehr als 2000 Softwareprodukte für das freie Betriebssystem zertifiziert. Infrastrukturdienste wie Web-, Datei-, E-Mail-, Druck-, Directory-Server-, Netzwerkauthentisierungs- und Firewall-Dienste bis hin zu Secure Remote Access (SSH), Domain Name Services (DNS) und Dynamic Host Configuration Protocol (DHCP) sind komplett mit Open-Source-Software abdeckbar.

Linux für jeden und alles

Das gilt auch für die Hochverfügbarkeitsauslegung von Linux-Servern einschließlich dynamischer Lastverteilung (Load Balancing) im Normalbetrieb. Für die Etablierung und Abwicklung von Speicherdiensten über das freie Betriebssystem können die Unternehmen auf Software unter anderem von EMC und Veritas bauen. Ähnlich gut sieht die Ausgangsposition für die Unternehmen im Middleware-Bereich aus - inklusive Aufbruch zu einer Service-orientierten Architektur (SOA). Wichtige Hersteller wie Oracle, Bea, IBM, Borland und SAP, die Linux mit ihrer Software in vollem Umfang unterstützen, bürgen dafür.

Gerade bei großen Datenbanken in geschäftskritischen Bereichen etwa von Oracle, IBM und Sybase entscheiden sich die Unternehmen zunehmend für Linux als besonders sichere, stabile und leistungsstarke Plattform. Anwendungen für Enterprise Resource Planning (ERP) wie von SAP, Peoplesoft und Oracle sind über alle Module für Linux verfügbar und zertifiziert. Dokumenten-Management-Aufgaben können mit Linux-fähigen Produkten beispielsweise von Documentum abgewickelt werden. Der Werkzeugkasten rund um das Server- und Desktop-Management ist fast komplett. Auch ein umfassendes Business-Service-Management (BSM), beispielsweise über Produkte von BMC Software, lässt sich auf Linux-Basis umsetzen.

Uneinheitlicher als bei den großen Softwareherstellern ist das Bild bei spezialisierteren, kleineren Anbietern. Hier schwankt die Unterstützung der Linux-Plattform stark von Branche zu Branche. Gut ist sie in historisch Unix-lastigen Bereichen wie Financial Services oder bei der Electronic Design Automation (EDA) für die Chipherstellung. Allenfalls durchwachsen ist das Angebot bei den Unix-Heimspielen Computer Aided Design (CAD) und Computer Aided Manufacturing (CAM).

Doch auch in Bereichen mit generell guter Abdeckung durch Software für Linux können einzelne wichtige Anbieter zu Blockierern werden und Anwender vom gewollten und ökonomisch sinnvollen Wechsel zu Linux abhalten: So gibt es beispielsweise im Börsensektor immer noch Spezialanwendungen, die ausschließlich für Sun Solaris angeboten werden. In diesem Fall können jene Banken, die mit Sun-fixierten Börsenunternehmen im direkten Online-Kontakt stehen, nicht auf Linux umsteigen. Technische Gründe für solch eine Blockade gibt es aber nicht.

Angst vor mündigen Kunden

Meist ist es jedoch die Desinformationspolitik der Hersteller proprietärer Software, die noch viele Unternehmen von einem Schwenk zu Linux abhält. Die Agitation hat System. Immerhin geht es für diese Anbieter darum, die bestehende Kundschaft mit allen Mitteln bei der Stange zu halten. Denn sie fürchten nichts mehr, als dass sich Anwender über einen Wechsel zu Linux und echten, offenen Standards endgültig aus der Herstellerabhängigkeit und der begrenzten Produktauswahl verabschieden könnten.

Dementsprechend hüten Softwaregrößen wie Microsoft nicht nur den Quellcode wie ihren Augapfel (wogegen nichts zu sagen wäre), sondern auch die Schnittstellen-Definitionen und Dateiformate. So funktioniert ein reibungsloser Datenaustausch vorzugsweise innerhalb einer Produktfamilie. Und die hohen Lizenzgebühren, angefangen vom Betriebssystem über die Infrastrukturdienste bis hin zu den Anwendungen, fließen weiter.

Proprietäre Tricksereien

Zudem ist bei einigen proprietären Herstellern die gern beschworene Orientierung an offenen Standards nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Zwar wird unter anderem mit Extensible Markup Language (XML) oder Lightweight Directory Access Protocol (LDAP) geworben. Im Detail werden die Standards aber unterlaufen. Unterstützung für offene Datenaustauschformate sucht man meist vergeblich.

So sind die Entwickler der Open-Source-Büroanwendung "Open Office" gezwungen, umständlich die Dateiformate von Microsoft zu analysieren und nachzubilden. Einer Unterstützung des durch das Standardisierungsgremium Oasis international spezifizierten Dateiformats "Open Document Format" hat man aus Redmond erst kürzlich wieder eine Absage erteilt. Noch schlimmer dürfte es bald den Multimedia-Formaten ergehen, weil hier mit Digital-Rights-Management (DRM) noch wesentlich höhere Hürden aufgebaut wurden.

Solch ein Lock-in in einer Herstellerwelt kann den Anwendern innerhalb der Open-Source-Welt nicht passieren. Die unabhängige Community erarbeitet die Software und Standards gemeinsam, um sie danach aus eigenem Interesse an Interoperabilität einzuhalten. Diese herstellerunabhängige Softwareentwicklungsstrategie ist für Anwenderunternehmen gleichbedeutend mit Investitionssicherung. Verabschiedet sich ein OSS-Entwickler vom Markt, kann ein anderer nahtlos die Produktlücke füllen. Anders schaut es aus, wenn beispielsweise ein Zulieferer von Microsoft Bankrott geht. Für den Anwender kann das, wenn er keinen schnellen Ersatz findet, einem Desaster gleichkommen.

Der Unmut der Anwender wächst, sich über proprietäre Software und Pseudostandards weiterhin gängeln zu lassen. Der US-amerikanische Bundesstaat Massachussetts ist ein Beispiel von vielen. Er akzeptiert nur noch Bürosoftware, die dem Open-Document-Standard genügt. Die Absicht hinter dieser Auflage besteht darin, aus proprietären Formaten wie Word und Excel auszusteigen, um sich so eines herstellerabhängigen, teuren, die Produktauswahl einengenden und im heterogenen Systemumfeld mit Interoperabilitätsproblemen behafteten Softwareeinsatzes zu entledigen.

Angesichts solcher steigender Absatzrisiken für proprietäre Software muss das Patentrecht dafür herhalten, "alles wieder zu richten". Das Problem für Microsoft & Co.: Den Vorschlag des EU-Rates gemäß dem US-Patentrecht lehnte das europäische Parlament ab. Schließlich hätte die Vorabprüfung jeder einzelnen Codezeile auf patentrechtliche, also ideenrechtliche Verletzungen die gesamte Softwareentwicklung gefährlich gebremst. Innerhalb der EU gilt damit die vertretbare Auflage eines Urheberrechts, das sich lediglich auf konkrete Codeausprägungen bezieht. Die Zeit wird erweisen, dass auch in den USA die harten Auflagen des Softwarepatentrechts nicht durchzuhalten sind, ohne der Softwareentwicklung in breitem Umfang Schaden zuzufügen. (ls)