Bulls Erbe

Die verschlungenen Wege eines europäischen Computerkonzerns

21.11.1986

Der französische DV-Multi Bull kommt nicht zur Ruhe: Jacques Chirac will die nationale Computer-Industrie reprivatisieren. Dem drittgrößten europäischen DV-Hersteller macht überdies das rauhe Wettbewerbsklima im Mainframebereich (IBM!) zu schaffen. In ihrer Firmengeschichte ist die heutige Bull-Gruppe freilich mit vielen Marktwidrigkeiten fertig geworden. Den verschlungenen Lebensweg zwischen General Electric und Honeywell hat CW-Redakteurin Beate Kneuse für eine mehrteilige Serie aufgezeichnet (Teil 6 und Schluß).

Auf der Herbst-Sicob 1985 spielte die Gruppe Bull jedoch noch eine weitere Trumpfkarte aus: Vorgestellt wurde die neue Produktidee "BlueGreen", ein Integrationskonzept für Büroinformationssysteme, das eine dreijährige Entwicklungszeit hinter sich hatte. Als erste Produkte dieses Konzeptes präsentierte Bull das Büroautomationssystem DOAS 6, neue Softwareprodukte, neue Schnittstellen zu den ISO/ CCITT-Kommunikationsstandards, Verkabelungsspezifikationen für LANs und ein neues ISO/DSA-Netzwerk-Handling. Das Projekt verknüpft verschiedene Methoden der Datenverarbeitung, der Büroautomation sowie des Mikro-Einsatzes. Dabei sind drei Operationsgebiete abgesteckt: die individuelle, die hausinterne und die konzernweite Datenverarbeitung. Mit diesem Konzept wollen die Franzosen ein System aufbauen, das den direkten Zugriff einer Arbeitsstation oder eines Mikros auf zentralisierte Mainframes ermöglicht. Eingebunden werden können die Questar-400-Arbeitsstationen, die Bull-Micral-Systeme, Questar-Terminals sowie Minitels.

Bevor dieses Konzept vorgestellt wurde, hatte Bull den Großrechner- sowie den Minicomputerbereich erneut erweitert. Der noch im Dezember 1984 angekündigten technisch-wissenschaftlichen 32-Bit-Rechnerreihe SPS 9 (erste Modelle: SPS 9/40 und SPS 9/60) die unter dem Betriebssystem ROS (Ridge Operating System) auf der Basis des Unix-System V arbeiten und das Resultat der technischen und vertriebspolitischen Zusammenarbeit mit. der kalifornischen Ridge Computers waren, folgte ein halbes Jahr später die SPS-7-Serie. Diese neue Minicomputerreihe wurde ebenfalls für die technisch-wissenschaftliche Datenverarbeitung, darüber hinaus aber auch für den Telekommunikationsmarkt entwickelt. Ausgebaut wurde ferner die Minicomputerfamilie DPS 6 für kommerzielle und industrielle Anwendungen. Hinzu kam als Erweiterung nach oben das 32-Bit-Modell DPS 6/ 850, dessen Hauptspeicherkapazität zwischen zwei und vier Megabyte variiert. Am unteren Ende erfolgte eine Leistungsaufstockung der DPS 6/100. Für das Einstiegsmodell, bis dahin ausschließlich für Disketten ausgelegt, stand jetzt anstatt der zweiten Diskette wahlweise eine 51/ 4-Zoll-Plattenstation mit 15 Megabyte zu Verfügung.

Im Großrechnerbereich kündigte Bull ebenfalls eine neue Familie, die DPS 90, an. Die Maschinen dieser Serie, die DPS 90/91, 90/92 und 90/ 92T, 90/93 sowie 90/94, können als Ein-, Doppel-, Drei- und Quadroprozessor-Version sowie als voll redundante Rechner konfiguriert werden. Nach oben hin erweitert wurde auch die DPS- 88-Familie. Hinzu kamen die DPS 88/42T sowie die DPS 88/82T. Wie die bereits bestehenden Systeme wurden alle neuangekündigten Rechner in das DSA/Netzwerk eingereiht. Im Mikrocomputerbereich schließlich stand der Mehrplatzmikro Micral 60 mit den Betriebssystemen Prologue und MS-DOS vor der Ankündigung.

Bull überwindet endlich das finanzielle Tief

Die Krönung des Jahres 1985 war jedoch die Bilanz. Nach langer Durststrecke konnte Jacques Stern am 13. März 1986 verkünden: "Die Gruppe Bull ist wieder in der Gewinnzone" (Dies war den Franzosen gar eine internationale Pressekonferenz auf der Hannover-Messe wert.) Demnach belief sich der Gewinn des Konzerns auf 110,2 Millionen Franc. Der Umsatz konnte um 18,5 Prozent auf 16,1 (13,6) Milliarden Franc gesteigert werden. An diesem Ergebnis war die Honeywell Bull AG, größte Auslandsgesellschaft innerhalb der Gruppe, mit einem Umsatz von 435 Millionen Mark beteiligt.

Inzwischen hat sich Bull auch juristisch umstrukturiert. Seit Dezember 1985 firmiert die französische Computergruppe unter "Bull S.A.". Damit wurden alle zuvor der CII-Honeywell Bull unterstellten Bereiche unter diesem - Namen zusammengefaßt. Im Rahmen einer erneuten Kapitalerhöhung zog sich die amerikanische Honeywell von acht auf zwei Prozent zurück und verringerte gleichzeitig seine Beteiligung an der niederländischen CII-Honeywell Bull Internationale N.V. von 47 Prozent auf 19,9 Prozent, so daß die Compagnie des Machines Bull nunmehr 80,1 Prozent an der Amsterdamer Filiale hält. Kurz zuvor hatte die Compagnie des Machines Bull übrigens seine 35prozentige Beteiligung am Kapital der Logabax an Olivetti abgetreten und übergab somit den Italienern die 100prozentige Kontrolle über diese Gesellschaft.

Bull S.A. ist derzeit gemessen am DV-Umsatz der drittgrößte europäische DV-Hersteller am Weltmarkt. Der Konzern beschäftigt weltweit 26000 Mitarbeiter und ist in mehr als 75 Ländern vertreten. Darüber hinaus verfügt die Gruppe Bull über sieben Entwicklungs- und ein Forschungszentrum. Die deutsche Honeywell Bull AG ist nach wie vor die umsatzstärkste und mit 1500 Mitarbeitern größte Tochter. Sie verfügt mittlerweile über 17 Geschäftsstellen (Berlin, Bielefeld, Bremen, Düsseldorf, Eschborn, Essen, Hamburg, Hannover, Kassel, Koblenz, Köln, Mannheim, München, Nürnberg, Saarbrücken, Stuttgart und Wuppertal) sowie sieben Beratungszentren. Anfang des Jahres übergab Vorstandsvorsitzender Franz Scherer den Geschäftsbereich Vertrieb Horst Gellert, um sich nach eigener Aussage verstärkt um die Entwicklung der deutschen Tochtergesellschaft kümmern zu können.

Bleibt die Frage, wie sich die neue Regierung Chirac die Zukunft dieses Unternehmens vorstellt. Beschlossene Sache scheint die Reprivatisierung des Konzerns im kommenden Jahr zu sein, obwohl Bull im juristischen Sinne nie nationalisiert wurde.

Die Privatisierung ist ein komplexes Unterfangen

Und wie will die französische Computergruppe, in die der Staat als Mehrheitsaktionär in den vergangenen Jahren Milliarden von Franc "gepumpt" hat, mit privaten Aktionären die finanziellen Hürden nehmen? Bis heute steht nur eines fest: Jacques Stern und Francis Lorentz wurden von der neuen Regierung explizit in ihren Ämtern bestätigt. Und inoffiziell verlautete aus Paris, daß der Staat auch im Falle einer Reprivatisierung auf absehbare Zeit mit mindestens 51 Prozent beteiligt bleiben wolle. Jacques Chirac selbst hält sich bedeckt. Auf die Frage eines französischen Journalisten, ob er (Chirac) denn glaube, daß sich private Anleger für ein Unternehmen interessierten, das ohne staatliche Hilfe nicht rentabel ist und ob er selbst nicht eher IBM-Aktien als Bull-Aktien kaufen würde, kam die lapidare Anwort: "Die Privatisierung ist ein komplexes Unterfangen, das mit allem Nachdruck durchgeführt wird . . ."