Bulls Erbe

Die verschlungenen Wege eines europäischen Computerkonzerns.

17.10.1986

Der französische DV-Multi Bull kommt nicht zur Ruhe: Jacques Chirac will die nationale Computer-Industrie reprivatisieren. Dem drittgrößten europäischen DV-Hersteller macht überdies das rauhe Wettbewerbsklima im Mainframebereich (IBM!) zu schaffen. In ihrer Firmengeschichte ist die heutige Bull-Gruppe freilich mit vielen Marktwidrigkeiten fertig geworden. Den verschlungenen Lebensweg zwischen General Electric und Honeywell hat CW-Redakteurin Beate Kneuse für eine mehrteilige Serie aufgezeichnet.

Die Geschichte der Gruppe Bull und damit der französischen Datenverarbeitung - beginnt 1933 mit der Gründung des Pariser Kleinherstellers für Tabelliermaschinen Compagnie des Machines Bull (CMB). Die Urwurzeln des Unternehmens reichen jedoch wesentlich weiter zurück und sind keineswegs rein französischer Natur. Im Jahr 1916 machte der norwegische Ingenieur und Versicherungsexperte Fredrik Rosing Bull (geboren am 24. Dezember 1882 in Oslo) eine Reise in die USA, um sich im Auftrag seines Arbeitgebers, der norwegischen Versicherungsfirma Storebrand Company, einen Überblick über den Entwicklungsstand im Bereich Lochkartenmaschinen zu verschaffen. Zu jenen Zeiten hielten die Amerikaner auf diesem Gebiet die absolute Vormachtstellung, nachdem Hermann Hollerith bereits 1890 die erste Sortier- und Tabellierapparatur für Lochkartenmaschinen erfunden und damit den Beginn der maschinellen Datenverarbeitung markiert hatte. Der Amerikaner war es übrigens auch, der 1896 die "Tabulating Machine Company" gegründet hatte, aus der - nach einigen Fusionen - 1924 die "International Business Machines Corporation" (IBM) hervorging.

Bull meinte auf dieser Reise festgestellt zu haben, daß die verfügbaren Maschinen längst nicht das A und 0 der maschinellen Datenverarbeitung seien. Er war davon überzeugt, in Europa leistungsfähigere und billigere Apparaturen bauen zu können. Auch wollte er nicht länger das amerikanische Monopol akzeptieren. Der Norweger setzte seine Absichten in die Tat um: 1919 meldete Bull in Oslo sein erstes Patent für eine Tabelliermaschine an. Zwei Jahre später war die Maschine des Ingenieurs fertig.

In den folgenden drei Jahren kamen weitere Fabrikate hinzu. Sein letztes Patent hinterlegte Bull 1924. Ein Jahr später, am 25, Juni 1925, starb der norwegische Ingenieur im Alter von 42 Jahren an Krebs. Seine Patente erwarben 1928 die Schweizer H.W. Egli, Karl Endrich sowie der Belgier Emil Genon. Dieser hatte die Maschinen des Norwegers bei der Schweizer Lebensversicherung "Rentenanstalt", einem der wichtigsten Kunden von Bull, gesehen, und war von ihrem Potential schnell angetan. Ein Jahr später wurde in der Madas-Rechenmaschinenfabrik in Zürich-Wollishofen mit der Produktion der Bull-Lochkartenmaschinen begonnen.

Doch schon bald wurden das Züricher Fabrikgelände, vor allem aber der Schweizer Absatzmarkt zu klein. Egli, Endrich und Genon beschlossen, die Firmenaktivitäten nach Frankreich zu verlegen. So entstand 1931 das Unternehmen "Egli-Bull" mit Sitz in der Avenue Gambetta in Paris. Das Kapital floß aus Belgien und aus der Schweiz. Trotz der weltweiten Wirtschaftskrise wuchs das Unternehmen im Laufe des Jahres auf 50 Mitarbeiter an. Die Produktionsfläche betrug 900 Quadratmeter. Im Herbst 1931 brachte Egli-Bull die erste numerisch schreibende Tabelliermaschine (T30) mit rotierendem Schreibwerk und einer Schreibgeschwindigkeit von 120 Zeilen pro Minute auf den Markt. Diese Leistung blieb nahezu zwanzig Jahre unerreicht.

Amerikaner wollen Egli-Bull schlucken

Die Erfolge von Egli-Bull blieben den Amerikanern nicht verborgen. Vor allem die Company Remington-Rand schien ein Auge auf das Unternehmen geworfen zu haben, das man inzwischen als ernst zu nehmenden Konkurrenten ansah: Die Amerikaner wollten sich an dem "Firmenwinzling" beteiligen. Doch die Franzosen waren schneller. Wenige Tage, bevor die schriftliche Offerte aus den Vereinigten Staaten bei dem Schweizer Egli einging, traten die französischen Ingenieure Georges Vieillard und Elie Doury an die Verantwortlichen von Egli-Bull mit dem gleichen Angebot heran. Das Unternehmen ging in französische Hände über. Als weitere Investoren beteiligten sich Mitglieder der Callies-Familie, Besitzer eines wichtigen Papierherstellers (Papeteries Aussedat) an der Transaktion. Alle hatten ein Anliegen: die Gründung einer nationalen Industrie.

Gemeinsames Anliegen: Die nationale DV-Industrie

1933 schließlich wurde die "Compagnie des Machines Bull" (CMB) ins Leben gerufen. Der Schweizer Egli zog sich aus dem Unternehmen zurück, französische Aktionäre hielten 74 Prozent des Kapitals. In den kommenden Jahren erweiterte die CMB konsequent ihre Produktpalette. Die Basismaschinen erhielten immer mehr Zusatzgeräte. So kam 1934 zum Beispiel eine Tabelliermaschine auf den Markt, deren Schreibwerk über alphanumerische Zeichen verfügte und 1938 ein neues Modell mit Additions-, Subtraktions- und Multiplikationsfähigkeit. Inzwischen hielt das Unternehmen am französischen Markt einen Anteil von 16 Prozent. Auch das Exportgeschäft konnte sich sehen lassen: Die Maschinen fanden guten Absatz in Belgien, Italien, Argentinien, in der Schweiz und in den skandinavischen Ländern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Compagnie des Machines Bull, auch in unternehmerischer Hinsicht zu expandieren. Bereits 1946 war eine Produktionsfläche von 8000 Quadratmetern erreicht, der Personalbestand lag bei mehr als 1000 Mitarbeitern. Auch in technologischer Hinsicht schien der Aufstieg des Unternehmens unaufhaltsam. 1951 nämlich präsentierte die CMB den ersten Elektronikrechner. "Gamma 3" zum Anschluß an Tabelliermaschinen. Diese Neuheit verwendete erstmalig Germanium-Dioden (anstatt Elektronenröhren), die sich durch erheblich geringere Störanfälligkeit auszeichneten und die Leistungsfähigkeit sowie Geschwindigkeit der Tabelliermaschinen beträchtlich steigerten. Das Zeitalter der Elektronik hatte begonnen.

In den darauffolgenden Jahren war die CMB damit beschäftigt, eine ganze Gamma-Serie zu entwickeln. Dem Gamma 3 folgten zwei Magnettrommelrechner ("Gamma ET" und, "Gamma Ordinateur"), und 1957 schließlich kündigten die Franzosen den "Gamma 60" an.

Mit Gamma-Modellen am Markt vorbei

Dabei handelte es sich um ein volltransistorisiertes System mit Magnettrommel und Magnetkernspeichern. Mehrere Programme konnten ohne gegenseitige Abstimmung simultan ablaufen. Diese Maschine ist Computerexperten auch heute noch in guter Erinnerung. Das "Wunder auf Papier" verschlang riesige Summen für Entwicklung und Produktion, die jedoch in keinem Verhältnis zum Absatz standen. Diese Maschine brachte den Franzosen verstärkt den Ruf ein, zwar brillante Ingenieure zu sein, aber an den Marktbedürfnissen vorbeizuproduzieren. 1962 brachte die CMB noch den "Gamma 10" auf den Markt, ein "Kleincomputer" mit Lochkartenperipherie, der vor allem für kleine und mittlere Betriebe gedacht war.

Doch diese rasche Expansion von Bull forderte schließlich ihren Preis: Das Unternehmen geriet zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten. Vor allem die Kosten für Forschung und Entwicklung erreichten schwindelerregende Höhen. Auch war Bull längst nicht mehr das einzige Unternehmen, das sich in Europa in der Datenverarbeitung engagierte. Unter anderem gründete die amerikanische Honeywell, die später eine so wichtige Rolle bei Bull spielen sollte, Anfang der sechziger Jahre eine DV-Division in England, um die Computer "H200" und "H400" herzustellen. Und da gab es vor allem die IBM, deren Schatten auch immer größer wurde. 1963 zeichnete sich schließlich ab, daß die Compagnie des Machines Bull nicht länger in der Lage war, ihre Entwicklung aus eigener Kraft fortzusetzen. Auch die Aktionäre des Unternehmens waren finanziell überfordert. Mit einem Satz: Die Compagnie des Machines Bull stand am Rande des Konkurses.

Damit war der Weg frei für die Amerikaner. Die Gunst der Stunde nutzte der US-Elektroriese General Electric (GE) Company. Führend im amerikanischen Timesharing-Bereich, wollte das Unternehmen nun auch in das Computergeschäft einsteigen. General Electric schlug den Franzosen eine Partnerschaft vor, die Bull aus dem finanziellen Schlamassel holen und dem Elektrokonzern den Zutritt zur europäischen DV-Industrie verschaffen sollte. Valery Giscard d´Estaing, in jenen Jahren Finanzminister unter Charles de Gaulle, stimmte der Beteiligung zu. Am 22. Juli 1964 wurde der Vertrag unterzeichnet. Dieser sah die Umwandlung der Compagnie des Machines Bull in eine Holding sowie die Gründung von zwei neuen Gesellschaften vor, in die die Einlagen von Bull sowie das Kapital von GE eingebracht werden sollten. Dabei entstand einerseits die Compagnie Bull-General Electric (BGE), an der Bull 49 Prozent und General Electric 51 Prozent hielten. Sie übernahm das kaufmännische Vertriebsnetz von Bull, ausgenommen Italien, das mit GE direkt Verträge abschloß (Olivetti-GE). Die zweite Gesellschaft, die Societe Industrielle Bull-GE (SIB-GE), an der Bull mit 51 Prozent und GE mit 49 Prozent beteiligt waren, übernahm die industriellen Aktivitäten von Bull, also Konstruktion und Herstellung der Anlagen. Aufgeteilt wurden auch die Aufgabenbereiche, und zwar in kommerzielle und industrielle Projekte: So sollte Bull in Frankreich Computer des unteren Leistungsbereichs herstellen, während Italien für Systeme der mittleren Leistungsklasse und General Electric schließlich für den Großrechenbereich verantwortlich zeichneten. Die Fusion mit GE beendete übrigens die "Liaison" zwischen Bull und RCA.

Der Zusammenschluß der beiden Unternehmen bewirkte auch bei der deutschen Bull-Tochter eine Umstrukturierung. Diese hatte sich bis dahin zu einer richtigen Vertriebsgesellschaft gemausert und sämtliche noch in Händen von BOGs befindlichen Vertriebsaktivitäten übernommen. Ende 1963 beschäftigte die Gesellschaft immerhin schon 981 Mitarbeiter in 13 Geschäftsstellen (Hamburg, Bremen, Münster, Hannover, Düsseldorf, Berlin, Essen, Köln, Frankfurt, Mannheim, Stuttgart, Nürnberg und München). Im Oktober 1966 schließlich wurde die Bull Deutschland Lochkarten GmbH in die Bull General Electric GmbH, weiterhin mit Stammsitz in Köln, umbenannt. Größere Organisationsprobleme waren damit aber nicht verbunden, da General Electric in Deutschland bis dahin kaum vertreten war. Den Deutschen brachte diese Fusion auch einen neuen Geschäftsführer. Im Oktober 1967 wurde Dr. Jürg Tschirren, bis dahin für die Schweizer Bull-Niederlassung als Geschäftsführer tätig, nach Köln berufen. Dort übernahm er als Geschäftsführer den Gesamtvertrieb.

Anfang der sechziger Jahre dominierte die Compagnie des Machines Bull den französischen und auch den europäischen Computermarkt. Das Unternehmen verfügte mittlerweile über zehn Produktions- beziehungsweise Montagezentren, davon neun in Frankreich (Paris, Lyon, Saint-Quentin, Mouy, Vendôme, Les Andelys, Saint-Ouen, Belfort sowie Angers) und eine in den Niederlanden (Amsterdam). Hinzu kamen zwei Forschungs- und Planungszentren in Paris und Saint-Ouen. An die 22 Tochtergesellschaften und Vertretungen betreuten 46 Länder. Der Exportanteil machte mittlerweile 45 Prozent der Gesamtproduktion aus.

Auch dem amerikanischen Markt brachte das Unternehmen immer mehr Interesse entgegen. Bereits 1950 hatte Bull mit Remington-Rand einen Vertrag abgeschlossen, der den Amerikanern die Lieferung elektromechanischer Bull-Lochkartenmaschinen versprach und ihnen gestattete, diese Maschinen unter eigenem Namen zu vertreiben. Dieser Vertrag war auf zehn Jahre befristet und wurde 1960 aufgelöst. Noch im gleichen Jahr gründeten die Franzosen eine eigene Niederlassung, die Bull Corporation of America. Sie sollte die OEM-Produkte in den Vereinigten Staaten verkaufen und prüfen, welche Möglichkeiten für den Vertrieb der Bull-Anlagen unter eigenem Markenzeichen bestehen. Diese Bull-Niederlassung ist auch heute noch in den Staaten vertreten - als OEM-Station (zum Beipiel für den Magnetdrucker und die Chip-Karte). 1961 schließlich unterzeichneten die Franzosen mit der Radio Corporation of America (RCA), einem führenden Elektronikhersteller, ein technisches Abkommen, das Bull den Zutritt zu den RCA-Forschungslaboratorien verschaffte und dem Unternehmen ferner gestattete, eigene Fachleute dort auszubilden. Unmittelbares Ergebnis dieser Zusammenarbeit zwischen Bull und RCA: die Ankündigung des "Gamma 30", eines Rechners der mittleren Kategorie, der unter RCA-Lizenz gefertigt wurde.

Bull gründet deutsche Niederlassung

Anfang der sechziger Jahre nahm Bull auch den deutschen Markt verstärkt in Angriff. Bereits seit 1952 wurden die Bull-Interessen in Deutschland von der Kölner Büroorganisationsgesellschaft (BOG) Exacta Büromaschinen GmbH vertreten, die sich 1954 in Exacta Continental GmbH umbenannte. Derartige Generalvertretungen waren zur damaligen Zeit die wirtschaftlich sinnvollste Lösung. Exacta verfügte über eine großes Absatzgebiet; dies hatte aber für Bull wiederum den Nachteil, daß neben ihren Produkten auch die anderer Hersteller vertrieben wurden. Aus diesem Grund forderten die Franzosen die Gründung einer unabhängigen Gesellschaft in Deutschland. Am 30. Juni 1960 wurde in Köln die Bull Deutschland Lochkarten GmbH aus der Taufe gehoben. Die Gesellschaft verfügte über ein Stammkapital, von 100 000 Mark. Schon ein Jahr später beschloß Bull Paris, die Geschicke der deutschen Vertretung selbst in die Hand zu nehmen. Sie kaufte 75 Prozent der Anteile an Bull Deutschland auf und wurde darüber hinaus Hauptaktionär bei dem Werkzeugmaschinenhersteller Wanderer (München), der inzwischen die Exacta Continental übernommen hatte. Im Sommer 1961 verließ Bull Deutschland die Geschäftsräume von Wanderer und zog in ein Hochhaus am Wiener Platz in Köln. Dieses Gebäude wird übrigens auch heute noch von einem Teil der Bevölkerung als "Bull-Hochhaus" bezeichnet.

Franzosen beklagen "amerikanische Lösung"

Auf wenig Gegenliebe stieß die Allianz zwischen Bull und General Electric bei der französischen Bevölkerung. Vor allem Valéry Giscard d´Estaing wurde immer wieder heftig angegriffen und war lange Zeit der Mann, "der Bull an die Amerikaner verkauft hatte". Die Franzosen fühlten sich verraten, hatte der Finanzminister doch noch ein Jahr zuvor die Rettung des Unternehmens durch europäische Banken "im Namen der nationalen Unabhängigkeit" abgelehnt. Diese jedoch, so das Volksempfinden, sei durch die Fusion mit General Electric erst recht verlorengegangen - und noch dazu an eine Nation, die man jahrzehntelang in ihrer DV-Vormachtstellung zu beschneiden versucht hatte.

Die "Affäre Bull" blieb in jener Zeit nicht die einzige Niederlage der französischen DV-Industrie. Kaum hatten sich die Wogen der Entrüstung gelegt, als die Amerikaner den Franzosen eine neue Lektion erteilten: Die Vereinigten Staaten weigerten sich, das System 6600 von Control Data an die Franzosen auszuliefern. Bestellt hatte die Anlage das Kommissariat für Atomenergie (CEA), ein wissenschaftliches Unternehmen; das sich insbesondere mit der Nuklearforschung in Frankreich befaßte. Für die französische Regierung bedeutete diese Weigerung eine Ohrfeige, aber auch Anlaß zu reagieren. Umfassende Untersuchungen, die sich mit der einheimischen Elektronik und DV-Industrie befaßten, wurden durchgeführt. Sie alle warnten vor der Abhängigkeit, die das Land erwarte, würden die Verantwortlichen in Politik und Industrie nicht bald handeln.

Die Warnungen blieben nicht ohne Erfolg: Am 18. Juli 1966 - nahezu auf den Tag genau zwei Jahre nach Abschluß des Vertrages zwischen BUB und General Electric - ruft Charles de Gaulle den ersten "Plan Calcul" ins Leben; ein staatliches Entwicklungskonzept, das es Frankreich ermöglichen sollte, seine Unabhängigkeit auf dem Gebiet der Datenverarbeitung wieder zu erlangen. Parallel zu diesem Plan wurde eine für die französische DV verantwortliche Aufsichtsbehörde gegründet, die "Kommission Datenverarbeitung". Den Vorsitz als erster Datenverarbeitungs-Beauftragter übernahm Robert Galle. Zu seinen Aufgaben zählten unter anderem die Überwachung der Entwicklung der einheimischen DV-Industrie unter Berücksichtigung der festgelegten Prinzipien sowie Zentralisierung, Aufteilung und Kontrolle der Regierungskredite. Die letzte Maßnahme auf dem Weg zu einer französischen Lösung erfolgte schließlich mit der Gründung des "Institut de recherche d´informatique et d´automatique" (Iria), einem Institut für DV- und Automationsforschung. Diese Einrichtung sollte folgende Aufgaben übernehmen: Grundlagen- und Zweckforschung Schulung, Weiterbildung und Vervollkommnung von Fachkräften aller Art sowie Erfassung und Weitergabe französischer und ausländischer Dokumentation.

Der Plan Calcul nimmt erste Formen an

Die theoretischen Grundlagen des Plans Calcul wurden noch im gleichen Jahr in die Tat umgesetzt. Die Verantwortlichen begaben sich auf die Suche nach einheimischen Elektronikuntenehmen, die man an dem Projekt beteiligen konnte. Fündig wurden sie schließlich im Herbst 1966 mit den Firmen "Compagnie d´automatisme électronique". (CAE) und der "Société d´électronique et d´automatisme" (SEA). Bei der CAE handelte es sich um die französische Tochtergesellschaft der Thomson-CSF und der Compagnie Generale d´Electricité (CGE), die in amerikanischer Lizenz Echtzeitrechner für militärische, wissenschaftliche und industrielle Anwendungen herstellte. Die SEA war eine französische Tochtergesellschaft der Schneider-Gruppe und produzierte Datenverarbeitungsanlagen sowie wissenschaftliche Rechner nach französischem Konzept.

Dem Plan Calcul entsprechend sollten diese beiden Gesellschaften ihre Datenverarbeitungsaktivitäten in einem Unternehmen zusammenlegen. Dies geschah im Dezember 1966 mit der Gründung der "Compagnie Internationale pour l´Informatique" (CII). Das neue Unternehmen schloß mit dem Staat einen Vertrag, in dem es sich verpflichtete, schnellstmöglich eine französische Serie von Universalrechnern mittlerer und großer Kapazität (die spätere Iris-Serie) auf den Markt zu bringen. Demgegenüber verpflichtete sich der Staat, nahezu das gesamte finanzielle Risiko von CII zu tragen, das den Status eines privatwirtschaftlichen Betriebs hatte. Ferner garantierte der Staat dem neuen Unternehmen die erforderlichen Absatzmärkte, falls die CII eine Rechnerserie entwickeln würde, die sich gänzlich von der amerikanischen Technologie absetzt. Gleichzeitig plädierte der DV-Beauftragte Galley dafür, einen Teil des DV-Bedarfs der öffentlichen Verwaltungen, die etwa 70 Prozent des französischen Marktes darstellen, durch einheimische Produktionen abzudecken. In finanzieller Hinsicht sollte die neue Gesellschaft in den ersten fünf Jahren rund 400 Millionen Francs sowie Darlehen in Höhe von 125 Millionen Francs erhalten. Im September 1968 stellt die CII den ersten Rechner unter dem Namen "Iris 50" vor.

Somit war die französische DV-Landschaft 1966 einerseits geprägt von der Gruppe Bull-General Electric, die sich weitestgehend auf amerikanische Technologie stützte, und andererseits von der nationalen CII, die mit der Entwicklung einer spezifisch französischen Datenverarbeitung beauftragt war. Um die ganze Geschichte abzurunden, unterstützte der Staat schließlich noch die Gründung eines weiteren Unternehmens, der Sperac. Diese Firma, eine Tochtergesellschaft von Thomson-Brandt und der Compagnie des Compteurs sollte auf dem Gebiet der Peripherie die gleiche Rolle spielen wie die CII im Rechnerbereich. Die Sperac wurde beauftragt, Disketten und Terminals herzustellen. Während allerdings die CII bald erste Erfolge aufweisen konnte, kam die Sperac niemals wirklich über die Anfänge hinaus.

In der Zwischenzeit erlebte die Bull-General Electric Höhen und Tiefen. Nach ersten Erfolgen durch die Erweiterung der Produktreihe um die Rechner "Gamma 140 und 141" sowie später vor allem um den ersten Bürocomputer "Gamma 55", mußte der Präsident des Unternehmens, Henry Desbrueres, Ende 1966 finanzielle Verluste eingestehen. Diese führten schließlich zur Einstellung der Gamma 140. Ein Jahr später erhöhte General Electric seinen Kapitalanteil an den beiden Unternehmen Bull-General Electric und SIB-GE auf 66 Prozent, während die Compagnie des Machines Bull nur noch eine Beteiligung von 34 Prozent hielt. Damit hatte GE die Mehrheitsbeteiligung und zeigte auch bald darauf, wer der Herr im Hause ist: Im Rahmen der internationalen Arbeitsaufteilung zwangen die Amerikaner Bull dazu, ihre Forschungen im Bereich der großen und mittleren Systeme einzustellen. Erst Ende 1968 gelang Bull die Rückkehr in die mittleren Systeme, was jedoch auf Kosten des Kleinrechnersektors ging. Bull mußte die Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet an die Olivetti-GE abtreten. wird fortgesetzt

Der erste Plan Calcul

Am 27. April 1966 vom Wirtschafts- und Sozialrat genehmigter Vorschlag

Um unserem Lande die Entwicklung einer eigenen Computerindustrie zu ermöglichen, scheint folgendes erforderlich:

- Aufbau einer Organisation auf hoher Ebene, die mit der Vorbereitung einer Politik befaßt ist, die es unserem Land ermöglichen soll, auf dem Gebiet der Datenverarbeitung eine ausreichende Autonomie zu bewahren. Im Rahmen einer derartigen Politik müßten insbesondere Maßnahmen im Bereich der Ausbildung, Forschung, Entwicklung und der Ausstattung der Behörden definiert werden. Dieser Koordinator dient ebenfalls als Ansprechpartner für die Industrie.

Diese Zentralisierung darf jedoch zu keinen Einschränkungen führen, die einerseits verhindern, daß die technischen Behörden eine bestimmte Freiheit in ihren Bereichen bewahren (Post und Telekommunikation, Verteidigung usw.) und die andererseits die Industriellen daran hindern, die wirtschaftlichen Zwänge dieser Aufgabe zu berücksichtigen. - Suche nach einer besseren industriellen Struktur, die zu französischen Unternehmensgruppierungen und somit zu Annäherungen auf europäischer Ebene führen kann.

- Definition einer Fabrikationsreihe unter Berücksichtigung schon bestehender günstiger Ausgangspositionen der französischen Industrie. Marktuntersuchungen und Untersuchungen der der französischen Industrie zur Verfügung stehenden Mittel haben gezeigt, daß es illusorisch und schädlich für die Industrie wäre, den gesamten Bereich der Datenverarbeitung schnell und mit eigenen Mitteln abdecken zu wollen.

Eine von der Regierung unterstützte Maßnahme müßte sich also auf eine wie oben definierte Rechnerserie konzentrieren sowie auf Bauteil-Technologie, die in dieser Generation und besonders in der nächsten Generation benutzt werden.

Die Einkaufspolitik der Behörden und verstaatlichten Unternehmen sollte das oben dargelegte Programm unterstützen.

Das Problem der Entwicklung sehr großer wissenschaftlicher Rechner, die von bestimmten Benutzern benötigt werden, die mit Programmen nationalen Interesses befaßt sind, muß mit Aufmerksamkeit untersucht werden, wobei nach einer Möglichkeit gesucht werden muß, derartige Rechner auf einer vorhergehenden Serie aufzubauen, um das Gesamtprojekt wirtschaftlicher zu gestalten. Der Umfang der Investitionen für die Entwicklung und Herstellung dieser Großrechner macht die Suche nach einer europäischen Lösung unabdingbar.

- Neue Absatzmärkte für die Computerindustrie müssen gesucht werden, wobei die Durchführung langfristiger Pro ramme öffentlichen Interesses definiert und unterstützt werden muß.

Diese Ziele wurden von der Elektronik-Kommission des Plans Calcul definiert:

- schrittweiser Aufbau eines automatischen und umschaltbaren Datenübertragungsnetzes zwischen den EDV-Zentren, den Behörden und französischen Unternehmen und später europäischen und weltweiten Behörden beziehungsweise Unternehmen;

- automatische Kontrolle des inner- und außerstädtischen Verkehrs;

- Benutzung der Elektronik in der Medizin und der Infrastruktur der Krankenhäuser;

- mit elektronischen Mitteln unterstützter Unterricht.