Internetabhängigkeit

Die Verlierer der digitalen Revolution

12.12.2015
Von Thorsten Giersch

Wie Unternehmen unter der Sucht leiden

Te Wildt sieht im Internet auch etwas grundsätzlich Positives. Es sei das "Werkzeug, mit dem wir die Welt gestalten". Aber es ist eben auch ein "Genussmittel zu unserem Vergnügen". Der Arzt betont die Parallelen zum Alkohol. Viele Abhängige bauen vor allem in Rollenspielen eine Scheinwelt auf. Das geht bei den meisten gut, aber bei immer mehr setzt ein Kontrollverlust ein - durchaus auch gefördert durch die Konstrukte vieler Online-Spiele, die ihre Nutzer durch clever gestaltete Level vom Aufhören abhalten wollen.

Manche Abhängige vernachlässigen lebensnotwendige körperliche Bedürfnisse und vergessen schlichtweg Essen und Trinken. Besonders krasse Fälle werden vor allem aus Südkorea gemeldet - in keinem anderen Land ist Internetabhängigkeit ein so großes Problem. Exakte Forschungsergebnisse über die Todesfälle gibt es allerdings auch hier nicht. Fakt ist aber: An Internetabhängigkeit sterben Menschen - seien es die Betroffenen selbst oder Kleinkinder, die von ihren spielenden Eltern vergessen werden. Doch auch wenn es nicht zum Äußersten kommt - die Folgen von Internetabhängigkeit sind erheblich: Der Tag-Nacht-Rhythmus ist nicht nur gestört, sondern häufig aufgehoben; Schlafmangel ist die Folge, körperlich geht es bergab und das Sozialleben leidet immer mehr.

Unternehmen sind auf verschiedene Weise davon betroffen. Offensichtlich ist die steigende Zahl von Mitarbeitern oder Auszubildenden, deren Leistungsfähigkeit durch die exzessive Internetnutzung massiv sinkt. Zudem sind auch scheinbar erfolgreiche Manager gefährdet. Denn gerade unsere Präsenz als Geschäftsleute stellen wir im Internet - zum Beispiel in Foren wie LinkedIn - möglichst von der besten Seite da. Oder besser gesagt so, wie wir uns gerne selbst sehen würden.

"Die digitalen Techniken helfen uns immer mehr dabei, uns dem idealen Selbstbild anzugleichen", schreibt te Wildt. Nun gibt es psychologisch aber einen wichtigen Unterschied zwischen Selbstvermarktung und Selbstverwirklichung. Durch die Überbetonung des erstgenannten gerate im Internetzeitalter die Entwicklung der Selbstverwirklichung leicht ins Hintertreffen.

Perfektion funktioniert eben nur auf Distanz. "Ruhe scheint immer mehr Menschen zu beunruhigen", urteilt te Wildt. Vielleicht charakterisiert das Arbeitsleben von heute kein Wort besser als "Übersprungshandlung". Stark vereinfacht könnte man den Begriff so erklären: Wir stehlen uns aus einer unangenehmen Situation weg, indem wir uns ablenken lassen. Das kann ein Twitter-Tweet sein, eine Facebook-Nachricht, eine E-Mail oder der Blick auf ein Nachrichtenportal. Ausweichen, aufschieben, ablenken - das steckt hinter dem psychologisch intensiv erforschten Trend zu Übersprungshandlungen.

Das Internet bietet diese Fenster und ist mit dem Smartphone stets in Griffnähe - sei es in Konferenzen oder am Schreibtisch. Doch der Blick in die virtuelle Welt ist nicht nur Usus in unangenehmen oder langweiligen Momenten: Mit der Zeit verstellt er auch das Leben im Hier und Jetzt. Man verliert die Fähigkeiten zur Achtsamkeit oder die, den Moment zu genießen. Oder die Welt um einen herum intensiv beobachtend zu erfassen, wozu auch das "Lesen" von Mitmenschen gehört - im Zweifel auch in Kundenterminen: "Mit den mobilen Endgeräten wird es immer schwieriger, einfach einmal nur zu sein", urteilt der Fachmann Bert te Wildt. Im Internet gehe es nicht um Achtsamkeit, sondern um Beachtung - ein erheblicher Unterschied.