Die Entwicklung von Krankenhausinformationssystemen:

Die Verantwortung nie auf ein KIS übertragen

07.12.1984

Viele der hochgesteckten Erwartungen haben Krankenhausinformationssysteme nicht erfüllt. Eine sorgfältige Analyse der bisherigen Erfahrungen, so Carl-Theo Ehlers*, könne zu verbesserten Ansätzen in der Zukunft führen. Ehlers spricht sich für das Ausprobieren neuer Verfahren aus - auch mit dem Risiko des Scheiterns.

Nicht nur statische Struktur von einzelnen Abteilungen

Ein Hauptziel eines KIS ist die Verbesserung der gesamten Krankenhausorganisation. Die Organisation sollte in einem dynamischen Sinne verstanden werden mit allen Verflechtungen des gesamten Krankenhauses und nicht nur als statische Struktur von einzelnen Abteilungen des Krankenhauses. Während der Implementierung eines KIS und in den ersten Monaten seines Einsatzes ist die organisatorische Unterstützung der Administration die Hauptaufgabe. Alle anderen medizinischen Anwendungsfelder eines KIS benötigen umfassende und verläßliche administrative Daten als Basis für ihre eigenen Daten.

In bezug auf organisatorische Aspekte hat sich in Göttingen der zentralisierte Ansatz als sehr erfolgreich erwiesen, und zukünftige Trends werden die Qualität dieser Lösung zu berücksichtigen haben. Ich glaube, daß es eine zentrale Koordination aller Krankenhausaktivitäten wegen der wachsenden Zentralisierung des Managements aufgrund steigender Kosten geben wird. Der Entwurf eines Informationssystems muß diesem Trend genauso Rechnung tragen wie dem vergrößerten Datenvolumen.

Deswegen brauchen wir eine dezentrale organisierte Unterstützung der Ein-/Ausgabe und Entscheidungsunterstützung für die Routinearbeit.

Es wird wohl sehr viel mehr dezentralisierte Computeranwendungen geben wegen der großen Menge an Verwaltungs-, Pflege- und Ärztetätigkeiten, aber im Hintergrund wird es ein umfassendes Netz für eine zentrale Koordination geben müssen. Das KIS muß die Daten dieser niedrigen Organisationsebene sorgfältig aggregieren und sie auf höherer Ebene dem Management präsentieren.

Das vielleicht größte organisatorische Problem innerhalb eines Krankenhauses wird durch die hohe Spezialisierung der Medizin hervorgerufen. Eines der Hauptaufgaben eines zukünftigen KIS wird eine bessere Integration aller Informationsflüsse zwischen vielen verschiedenen medizinischen Disziplinen sein müssen.

Der zentrale Ansatz eines KIS kann dabei helfen, die Grenzen zwischen den einzelnen Abteilungen zu überwinden und die Daten des Patienten fachübergreifend darzustellen. Deswegen sind spezielle Anstrengungen nötig, um die Koordination von Diagnose, Therapie, Voraussagen und Nachsorge für systemische und chronische Erkrankungen zu erreichen.

In den letzten zehn Jahren haben wir ein enormes Wachstum an Computeranwendungen im Krankenhaus beobachtet. Es gibt inzwischen viele einfache, aber sehr nützliche Programme, beispielsweise für die Finanzbuchhaltung, große Patientenverwaltungssysteme oder Hochtechnologieprodukte wie NMR-Tomographen. Wenn wir diese Entwicklung in die Zukunft verlängern, ergibt sich ein konfuses Bild von DV-Anwendungen selbst in den kleinsten Abteilungen eines Krankenhauses.

Trotzdem ist die Summe aller Computer und Programme eines Krankenhauses nicht ein KIS und wird niemals ein KIS sein, wenn technische und die genannten organisatorischen Aspekte nicht in Betracht gezogen wurden. In bezug auf den Erfolg einer dedizierten EDV-Anwendung lassen sich einige Qualitätskriterien definieren, wie Nützlichkeit für das Personal, Benutzerakzeptanz oder Flexibilität in bezug auf Änderungswünsche.

Diese Anwendungscharakteristiken für ein KIS müssen weiter daraufhin analysiert werden, inwieweit sie die Entscheidungen der Benutzer unterstützen können. Wenn ein KIS beispielsweise nützliche, lesbare Listen, beeindruckende Grafiken, klare Statistiken, gute Ablaufschemata und übersichtliche Plotts zur Verfügung stellt, können wir eine gute Akzeptanz eines KIS erwarten, besonders wenn diese Auswertungen schnell dort verfügbar, sind wo sie benötigt werden. Die Ärzte, die Manager und jeder, der Entscheidungen zu treffen hat, werden stark von diesem Kriterium profitieren.

DE-Komfort sehr wichtig

Für viele Schwestern, verwaltungsangestellte und Techniker ist der Komfort der Dateneingabe sehr wichtig. Das alte Problem der EDV die arbeitsintensive manuelle Eingabe, muß in einem zukünftigen KIS drastisch reduziert werden. Wir brauchen bessere Formen der Dateneingabe und eine umfassende Datenverarbeitungsausbildung, weil ein gutes KIS gut informierte Benutzer voraussetzt.

Aus der Sicht des Patienten muß ein zukünftigeg KIS eine hohe Pflegequalität und einen schnellen und guten administrativen Durchlauf durch die Fachabteilungen des Krankenhauses garantieren. Eines der Hauptprobleme für die Patienten sind die Wartezeiten im Krankenhaus. Es ist eine typische Aufgabe für ein KIS, diese Warteschlange abzubauen, aber oft gibt es viele organisatorische Schwierigkeiten trotz eines exzellenten theoretischen Algorithmus.

Ganz allgemein kann man sagen, daß drei Haupthindernisse die Ausweitung von KIS verlangsamt haben:

- technische,

- verwaltungsmäßige und

- soziale Barrieren,

von denen die beiden letzten in der Vergangenheit sehr unterschätzt worden sind. Es wurde nicht beachtet, daß die sozialen Aspekte eines KIS durch eine ganze Reihe von Barrieren im Umfeld bestimmt werden. So muß man nicht nur den Einfluß der Kommunikation und der menschlichen Interaktion in Betracht ziehen, sondern darüber hinaus muß man sich klar sein über die Widerstände, die aus einem komplexen, traditionell gewachsenen Kommunikationssystem in einem bestimmten Krankenhaus erwachsen.

Forschungsprogramme in den letzten Jahren haben sich hauptsächlich auf die funktionellen und ökonomischen Aspekte eines KIS konzentriert oder auf die Arzt-Patient-Beziehung, während die Aspekte der Bereitschaft des Personals, das System zu akzeptieren und weiterzuentwickeln, oft nicht einmal erwähnt wurden. Es gibt wenige Untersuchungen über den Einfluß von computergestützten Arbeitsprozeduren auf die Beschäftigten selbst.

Ich betrachte die sozialen Barrieren als die höchsten, und deswegen sollte sich die Forschung auch auf soziale Aspekte konzentrieren. Die oft zitierte "Medizinierung der Gesellschaft" oder die unbeabsichtigten Konsequenzen des Einsatzes von Technologie in der Medizin werden meist aus der Sicht des Patienten und nicht aus der des Krankenhauspersonals gesehen.

Eine große Lücke läßt sich feststellen zwischen dem, was schon heute möglich ist, um die Qualität der Pflege durch computergestützte Prozeduren in vielen Bereichen zu verbessern und was wirklich vom medizinischen Personal angewendet wird, stellen wir fest, daß es eine große Lücke zwischen den technischen Möglichkeiten und dem täglichen Gebrauch dieser Möglichkeiten gibt. Unsere Erfahrung zeigt, daß es vom technischen und organisatorischen Standpunkt aus einige Zeit dauert, ein Datenverarbeitungssystem zu implementieren, daß es aber viel mehr Zeit und viel Geduld und Ausbildungsarbeit kostet, um die Benutzer von den Vorteilen eines KIS zu überzeugen.

Intensivpflege drahtlos

Die Einführung neuer EDV-Technik wird die größten Umwälzungen eines KIS verursachen und wird weniger Probleme schaffen, als zuerst angenommen. Wir erwarten technische Innovationen, die nicht nur helfen werden, die technischen, sondern auch die sozialen Barrieren zu überwinden. Zum Beispiel wird es eine Multiplizierung der Terminals im ganzen Krankenhaus geben und daraus resultierend eine weitere Verteilung der arbeitsintensiven Eingabearbeit auf mehr Personal, mehr und bessere Daten über alle Aktivitäten im Krankenhaus.

Die Terminals werden mit verschiedenen Eingabeeinheiten wie Lichtstift, OCR-Pistole, Joystick oder Ausweisleser ausgerüstet sein, um die Dateneingabe zu unterstützen, und in der Zukunft wird es fast keine Schreibmaschine ohne Terminalfunktion geben. Für unser Intensivpflegesystem in Göttingen experimentieren wir mit drahtlosen Handeingabegeräten für die Ärzte. Die meisten unserer Telefone auf den Stationen sind Telefonterminals, um kurze Anfragen an die Datenbank

stellen zu können. Antworten und Anfragen von den Stationen werden auf einem Bildschirm oder einem Drucker ausgegeben.

Weiterhin wird die Integration von Kommunikationssystemen für die Ausbildung, die Röntgenbildverarbeitung, automatische Anforderungsregistrierung sowie Abrechnung von medizinischen Dienstleistungen in einem Krankenhausinformationssystem implementiert sein. Einige der technischen Bedingungen für diese Entwicklungen sind bereits bekannt. Teletext, computerunterstützte Video- oder optische Plattenspeicher, Datentelefone, Glasfiberleitungen und andere Techniken werden in der Zukunft eingesetzt.

Ein kritischer Punkt bleibt bei allen diesen optimistischen -technischen Betrachtungen: Die Versuchung einer umfassenden Integration der Informationsflüsse mit hochsensitiven Personendaten muß ihre Grenze im Datenschutz finden. Es muß eine Intimsphäre des Patienten verbleiben, ebenso ein Freiraum für ärztliche und andere individuelle Entscheidungen. Die Verantwortung für eine Entscheidung darf niemals auf ein KIS übertragen werden.

Fast jedes KIS produziert mehr oder weniger nützliche Budget-Kontrollisten, Gehaltslisten und Kostenverrechnungsblätter, und diese Art von Auswertungen wird in der Zukunft erweitert werden. Aber ökonomische Kontrollsysteme auf einem höheren Niveau werden in den meisten KIS heute noch vermißt. Trotz des großen und hoch differenzierten Datenvolumens, das von einem KIS vorgehalten wird, sind heute nur sehr wenige Operation-Research-Methoden erfolgreich implementiert. Wir brauchen weitere Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet, um nach einigen Jahren OR-Lösungen für die automatische Unterstützung der Kostenkontrolle in Krankenhäusem erwarten zu können.

Der Trend zu niedrigeren Hardwarekosten ist offensichtlich. Die Softwarekosten werden weiterhin ansteigen, wenn das Krankenhaus eine eigene KIS-Entwicklung wünscht, wobei natürlich Software übernommen wird und der Gebrauch von Software-Tools einen starken Einfluß haben wird. Die Kosten zum Betreiben eines KIS werden insgesamt sinken, aber die Lohnkosten werden weiter steigen. Die einfache Voraussage der Kostenentwicklung muß verglichen werden mit dem zukünftigen Nutzen, der sehr viel schwieriger zu schätzen ist.

Insgesamt können wir den Trend zu sinkenden Entwicklungskosten und steigendem Nutzen, der gegenwärtig zu beobachteten ist, auch für die Zukunft erwarten. Trotz dieser Kosten/Nutzen-Analysen ist die Entwicklung und Implementierung eines KIS eine sehr komplexe Aufgabe, und die Entscheidung, ein solches System zu nutzen, kann nicht nur auf solche Analysen aufgebaut sein. Die nicht qualifizierbaren Verbesserungen, die ein KIS für die Gesundheitsversorgung erbringt, müssen ebenfalls bezahlt werden. Wenn die Menschen mehr und bessere medizinische Versorgung wollen, müssen sie bereit sein, mehr dafür zu zahlen. Ökonomische Betrachtungen können die Auswahl rationeller gestalten, aber sie können nicht das ethische Problem einer solchen Entscheidung lösen.

Einheitliche Lösungen nur bedingt sinnvoll

Letzter, aber sicher nicht unwichtigster Aspekt für die zukünftige Entwicklung von KIS ist der gesellschaftspolitische Aspekt. Die Gefahr, die in einer Bürokratisierung der Entscheidung über den Einsatz der Datenverarbeitung im Krankenhaus liegt, ist noch nicht richtig erkannt worden. Wenn der Einsatz der Datenverarbeitung im Krankenhaus nur noch von Oberbehörden angeordnet wird und dabei nur bundeseinheitliche oder landeseinheitliche Lösungen zugelassen werden, kann sich der noch junge Wissenschaftszweig der Medizin-Informatik nicht weiterentwickeln. Zumindest in Hochschulen muß die Möglichkeit bleiben, neue Verfahren - besonders im Pflegebereich - auszuprobieren, auch mit dem Risiko des Scheiterns. Anders werden Innovationen in diesem Bereich unmöglich gemacht.

Einheitliche Lösungen für alle Krankenhäuser sind bei Batch-Verfahren im Abrechnungsbereich sicherlich möglich und sinnvoll. Je weiter die Datenverarbeitung aber in den medizinischen Bereich eines Krankenhauses eingreift, desto notwendiger ist die auf das spezielle Krankenhaus abgestellte flexible Lösung. Ist diese Flexibilität durch behördliche Anordnung nicht gewährleistet, wird der potentiellen Zurückhaltung des ärztlichen und pflegerischen Personals gegenüber dieser neuen Technologie Vorschub geleistet.

Auf der anderen Seite müssen auch die Kostenträger des Krankenhausgeschehens einsehen, daß ein mit der Industrie vergleichbarer Prozentsatz des jährlichen Budgets der Informationsverarbeitung im Krankenhaus zugestanden werden muß. Mit der Einsicht, daß ein Krankenhaus ein Wirtschaftsbetrieb ist und dementsprechend geführt werden muß, muß die Erkenntnis einhergehen, daß Betriebsabläufe nur mit Hilfe der Datenverarbeitung optimiert werden können und Kostentransparenz nur durch einen entsprechenden Einsatz der Informationsverarbeitung zu erzielen ist.

Mit unserem Informationssystem für das Göttinger Universitätsklinikum haben wir Erfahrungen auf diesem Gebiet über mehr als 10 Jahre sammeln können. Im Gegensatz zu den meisten der anderen großen europäischen Kliniken, hatten wir die Gelegenheit, genügend Rechenkapazität in der Form von Hardware, Software und Datenverarbeitungspersonal einzusetzen, um ein Informationssystem zu entwickeln und zu betreiben. Gegenwärtig fahren wir eine IBM 3081 D mit 16 MB Hauptspeicher, 10 GB Plattenspeicher, 150 Dialogterminals, 100 Telefonterminal-Sets, bestehend aus Datentelefonen, Bildschirmen und Druckern unter dem Operating-System NWS und dem Datenbank- und Datenkommunikationssystem IMS-VS. Wir verarbeiten etwa 30 000 IMS-Transaktionen pro Tag, und unsere Datenbanken beinhalten die Informationen von fast 400 000 Patienten. Mehr als 5000 Angestellte und 3200 Studenten arbeiten im gesamten Klinikum, unsere EDV-Abteilung besteht aus 70 Personen. Das Klinikum hat fast 1500 Betten, 380 000 ambulante Patientenbehandlungen pro Jahr und ein jährliches Budget von mehr als 350 Millionen Mark.

Für die Voraussage der zukünftigen Entwicklung ist es weiterhin nötig, die Bedingungen der Umgebung, die Systemökologie eines Krankenhausinformationssystems, wechselnde Einflüsse der Gesundheitspolitik, der technischen Innovation, des sozialen und psychologischen Umfeldes zu analysieren. Die Zukunftstendenzen eines KIS umfassen die sechs Hauptaspekte: Organisation, Anwendung, Soziologie, Technologie, Wirtschaftlichkeit, Gesundheitspolitik.