Die technischen Hürden sind noch lange nicht überwunden:Expertensysteme lassen viele Wünsche offen * Brigitte Reminger ist Mitarbeiterin im Zentralbereich Forschung und Technik der Siemens AG, München.

16.09.1988

Nach Ansicht von Branchen-Insidern ist die Fertigungsbranche das ideale Einsatzgebiet für Expertensysteme. Tatsächlich befinden sich jedoch auch hier die Anwendungen zumeist noch im Pilotstadium. Brigitte Reminger* hat die Möglichkeiten solcher Systeme und die Bedingungen einer erfolgreichen Nutzung untersucht.

Um die Entwicklung praxisnaher und wirtschaftlicher Systeme sicherzustellen, müssen in Anlehnung an die allgemeinen Leistungskriterien von Expertensystemen die speziellen Anforderungen aus dem Produktionsbereich formuliert werden. Mindestens ebenso wichtig für den Erfolg von Expertensystemen im Fertigungsbereich ist eine verbesserte Konzeption des organisatorischen Umfeldes.

Ein wirtschaftlicher Anreiz für die Entwicklung von Expertensystemen liegt vor allem in der Überlegung, hochbezahlte Experten ersetzen zu können. Dies ist nicht ohne ablauforganisatorische Konsequenzen und Umverteilung von Kompetenzen und Verantwortung möglich. Da ein Expertensystem keine Verantwortung übernehmen kann, ist zu klären, wer die Entscheidungen eines Systems in der Praxis zu verantworten hat, und über welche fachliche Qualifikation beziehungsweise über welches Wissen er verfügen muß.

Hersteller und Entwickler von Expertensystemen unternehmen massive Anstrengungen, weitere Anwendungsbereiche für diese neue Technologie zu finden. Sie werben mit der Leistungsfähigkeit, den Nutzungsmöglichkeiten und vor allem den Nutzeffekten speziell in der Fertigungsbranche.

Dort besteht in der Tat ein Mangel an geeigneter informationstechnischer Unterstützung. Das Erwachen, eines logistischen Bewußtseins, das von den Mitarbeitern ein viel höheres Maß an Problembewußtsein er fordert als bisher, und der Trend zur Verlagerung von Verantwortung und Entscheidung in die operative Ebene verlangen auch nach einer DV-mäßigen Unterstützung der Mitarbeiter. Geeignete Werkzeuge sind gefragt - nicht zuletzt deshalb, weil die bisherigen unflexiblen DV-Verfahren zur Produktionsplanung und -steuerung eine gezielte Beeinflussung der produktionswirtschaftlichen Leistungskriterien wie Durchlaufzeit oder Bestände fast nicht zulassen.

Expertensysteme sollen das Wissen und die Problemlösungsfähigkeit eines qualifizierten menschlichen Experten nachbilden. Dieser zeichnet sich dadurch aus, daß er sich in meist langjähriger praktischer Tätigkeit Erfahrungswissen, Heuristiken, Ansichten, Vermutungen oder Daumenregeln angeeignet hat, die über sein Fachwissen hinausgehen.

Gerade das Einbeziehen dieses Erfahrungswissens in Form einer Wissensbasis ist charakteristisch für den Einsatz von Expertensystemen. Im Gegensatz zu anderen DV-Programmen erfolgte hier die Darstellung des Wissens getrennt von der Kontrolle über das Wissen. Auch in konventionelle DV-Programme fließt das Know-how des Programmierers mit ein; es ist jedoch nur implizit in den einzelnen Verarbeitungsprozeduren enthalten. Durch die explizite, getrennte Abbildung des Wissens kann dieses vervielfältigt, portiert, konserviert, relativ leicht erweitert und verändert werden.

Typische Aufgaben, die Expertensysteme abdecken, sind:

- mehrstufige Entscheidungs- und Zuordnungsprozesse (Erkennen, Klassifizieren, Diagnostizieren),

- Problemlösung durch schrittweises Erzeugen von Strukturen gemäß Zielspezifikation und Berücksichtigung einschränkender Bedingungen,

- Planung von Handlungsabläufen, Finden von Lösungswegen/ Algorithmen für Problemklassen,

- Modellierung, Simulation und Prädikation des Verhaltens dynamischer Systeme,

- Interpretation von Signalen oder Meßwerten.

Die Standardisierung der Arbeitsabläufe und ein hoher Grad an Arbeitsteilung ersetzten den Menschen zunehmend durch die Maschine - sowohl in der Fertigung als auch in der Informationsverarbeitung. Die Folge davon war eine gewisse Starrheit und Inflexibilität. Expertensysteme sind dagegen in der Lage, komplexere Informationen zu verarbeiten und so unterschiedliche Situationen und Handlungsabläufe zu meistern.

Mögliche Nutzeffekte im Fertigungsbereich

Realisiert sind bereits Systeme zum Neukonfigurieren von Fertigungsanlagen. Sie ermöglichen einen raschen Wechsel der Fertigungsaufträge, und die Problematik der Rüstzeitminimierung durch Reihenfolgeplanung tritt in den Hintergrund. Diese neuen Möglichkeiten können Großunternehmen helfen, rasch auf eine veränderte Marktsituation zu reagieren und damit gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen konkurrenzfähig zu bleiben.

Beinahe klassisches Anwendungsgebiete für Expertensysteme sind die Bereiche Fehlerdiagnose und Überwachung. Ein breiter Einsatz von Expertensystemen kann wesentlich zur Sicherung und Steigerung der Qualität beitragen. Einen regelrechten Anwendungsschub darf man sich erhoffen, wenn die Sensorik und deren Kopplung mit Expertensystemen technisch perfektioniert ist.

In einem Expertensystem abgelegtes Wissen ist auch außerhalb der Arbeitszeit des Experten verfügbar. Als Beispiel wäre hier ein System zur Fehlerdiagnose an Fertigungseinrichtungen zu nennen, das den Maschinenbediener während der Nachtschicht bei der Beseitigung einfacher Störungen unterstützt. In vielen Fällen kann mit Hilfe dieses Systems die Fertigung fortgesetzt werden, ohne daß ein Wartungstechniker gerufen werden muß.

Auch die Zuordnung von Mitarbeitern zu Aufträgen oder zu Maschinen kann relativ flexibel durch Computer gelöst werden. Oft gibt es Situationen, in denen ein Mitarbeiter zwar nicht alle Funktionen eines Arbeitsplatzes erfüllen, den ausgebildeten Kollegen jedoch bei weniger komplexen Arbeitsvorgängen an diesem Arbeitsplatz vertreten kann. Ein Expertensystem kann mit seinem gespeicherten Wissen über die Fähigkeiten von Mitarbeitern und die Arbeitsplatzanforderungen eine flexible Personaleinsatzplanung unterstützen.

Esprit-Projekt gibt ein anschauliches Beispiel

Expertensysteme unterstützen überdies die wissensmäßige Verknüpfung von Unternehmensteilen und damit die Integration. Ein anschauliches Beispiel für die Integrationsleistung von Expertensystemen ist das Esprit-Projekt "Wissensbasierte Echtzeitsteuerung". Damit soll die Spanne zwischen langfristiger Produktionsplanung und Auftragsausführung auf der operativen Ebene aufgebohen werden. Das System übernimmt die Produktionsplanung und -steuerung und Auftragsüberwachung. Weiterhin soll es die Terminplanung durchführen, Information des Managements durch Überwachung der Fertigungsvorgänge gewährleisten, den Fertigungsfluß koordinieren sowie Einzelarbeitsplätze in ein automatisiertes System integrieren und somit den gesamten Bereich zwischen Rahmenplanung und Prozeßsteuerung abdecken.

Der Unternehmensaufbau basiert auf einer Baumstruktur; an den Schnittpunkten befindet sich jeweils ein Steuerungs-Modul mit den Funktionen Planung, Qualitätssicherung vorbeugende Wartung und Zuteilung der Aufträge zu den Fertigungskapazitäten. Durchgeführt werden diese Aufgaben von folgenden Expertensystemen:

- Interpretations-Expertensystem zur Interpretation der Daten der jeweils unteren Ebene für die darüberliegende sowie für das Planungs- und für das Diagnoseexpertensystem,

- Diagnose-Expertensystem zur Überprüfung des planmäßigen Fertigungsfortschrittes und Unterstützung beim Auffinden von eventuellen Störungsursachen,

- Planungs-Expertensystem zur Auftragsaufgliederung,

- Action-Planning-System zur Verteilung der Fertigungsaufträge auf Fertigungseinheiten, Korrektur der Pläne, falls sie nicht eingehalten werden können, und vorbeugender Instandhaltung.

Das Projekt zeigt, wie sich die Bemühungen um Effizienz- und Qualitätssteigerung zunehmend vom Teilbereich hin zu einem logistisch und ganzheitlich orientierten Kontroll- und Planungssystem verlagert. Nur so kann die Optimierung des Gesamtsystems erreicht werden.

Ein weiterer Beitrag zur Integration könnte darin bestehen, daß Expertensysteme den Informationsaustausch zwischen Abteilungen ermöglichen. Zum Beispiel lassen sich die Leistungen der Konstruktionsabteilung wesentlich verbessern, wenn ihr Daten darüber vorliegen, wie sich Produktmerkmale auf Ausschuß, Fehlerquote, Stillstandszeiten und Bearbeitungszeiten in der Fertigung auswirken.

Die Vernetzbarkeit und damit die Kommunikation von Expertensystemen untereinander ist bislang jedoch weitgehend ungelöst. Das Problem liegt in der erforderlichen Abgrenzung von Wissenseinheiten. Um eine vollständige Integration von Expertensystemen untereinander zu erreichen, sind noch entscheidende Erkenntnisschritte auf diesem Gebiet notwendig.

In der Fertigung stellt auch die Prozeßschnittstelle eine technische Hürde dar. Hierunter ist die Umsetzung von Meßwerten aus dem Fertigungsprozeß, wie Temperaturen, Druck und ähnlichem in eine für Computer lesbare und damit verarbeitbare Form zu verstehen. Notwendig sind hier deutliche Fortschritte der Sensortechnologie.

Besondere Nutzeffekte im Maschinenbau

Ein Problem ist auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit der Systeme, die der Geschwindigkeit des Fertigungsprozesses nicht in jedem Fall gewachsen sind. Ein gut geeignetes Anwendungsgebiet für Expertensysteme ist die Erstellung von Angeboten, bei denen verschiedene Konfigurationsvorschläge zu machen sind. Besondere Nutzeffekte ergeben sich im Maschinen- und Anlagenbau, wo bekanntlich nur etwa jedes zehnte Angebot zu einem Auftrag führt.

Durch den Einsatz von Expertensystemen muß auch die kundenauftragsorientierte Fertigung nicht mehr unbedingt mit höheren Kosten verbunden sein als Serienfertigung. Zunächst wird unter Berücksichtigung der Fertigungskapazitäten ein neutraler Arbeitsplan erstellt, der später den Spezifikationen des Einzelauftrages angepaßt wird. In der Fertigung muß häufig aus Kapazitätsgründen von diesem Arbeitsplan abgewichen werden, was meist mit höheren Kosten verbunden ist. Mit Hilfe eines Expertensystems kann die Arbeitsplanung in der Fertigung unter kurzfristiger Berücksichtigung der aktuellen Kapazitätsbelegungen durchgeführt werden.

Expertensysteme könnten Routineaufgaben leisten

Positiven Einfluß können Expertensysteme auch im arbeitswirtschaftlichen Bereich haben. Eine verstärke Technisierung der Fertigung war bislang tendenziell an eine niedrigere Qualifikation der Mitarbeiter gekoppelt. Eine flexible Fertigung erfordert eine größere Zahl von täglich neuen Entscheidungen als eine starre Struktur.

Expertensysteme sollen ein Hilfsmittel sein, um Entscheidungsträger von eher routineartigen Entscheidungen zu entlasten. Damit einher geht nicht nur eine allgemeine Verbesserung der Entscheidungsqualität; die gewonnene Zeit kann auch zum Übernehmen neuer Aufgaben sowie zur Weiterbildung genutzt werden. Die Möglichkeit, das fachliche Know-how zu erweitern, besteht auch für den Sachbearbeiter: Indem er mit einem Expertensystem aus einem fremden Fachgebiet arbeitet, wird er mit der Zeit Verständnis für dieses neue Problemfeld entwickeln.

Ob Expertensysteme auch den Wissensstand, das Verständnis und die Umsicht weniger qualifizierter Mitarbeiter verbessern, hängt sowohl von ihrem Interesse, ihrer Motivation und von ihrer Lernbereitschaft als auch von den Arbeitsbedingungen ab. Ein dialogorientiertes System verlangt vom Benutzer Einblick und Verständnis für den Bereich, den es abdeckt. Ein interessierter Mitarbeiter wird nicht nur die vom System geforderten Parameter eingeben, sondern versuchen, Verständnis für die Zusammenhänge des Gebietes zu entwickeln.

Die Experten müssen noch selber lernen

Dagegen weist der amerikanische Expertensystem-Kritiker Dreyfus darauf hin, daß Expertensysteme das Nachwachsen neuer Experten verhindern können. Anfänger könnten sich auf die Maschine verlassen und nicht mehr selber lernen, und damit auch kein Problembewußtsein entwickeln.

Die Akzeptanz von Expertensystemen kann nicht allein durch leichte Bedienbarkeit, zum Beispiel eine intelligente natürlichsprachliche Benutzerschnittstelle, gelöst werden. Da Expertensysteme relativ weit an die Leistungsfähigkeit des Menschen heranreichen und ihre Arbeitsweise für die meisten Menschen wenig nachvollziehbar ist, kann dies zu Ängsten vor Arbeitsplatzverlust, Kontrolle und Minderung des eigenen Wertes führen. Der Umgang mit diesen Problemen erfordert tiefergehende Konzepte, als sie die Akzeptanzforschung für bisherige Informationstechnologie anbietet.

Die Frage der Haftbarkeit für die Folgen von Expertensystementscheidungen ist juristisch nicht geklärt. Dies kann den Einsatz der Systeme zu einem Risiko für alle Beteiligten werden lassen. Psychologisch betrachtet kann der Einsatz von Expertensystemen zu einer Verabschiedung aus der Verantwortung führen.

Wissensbasierte Systeme müssen lernfähig sein

Expertensysteme tragen zur Konservierung des Wissens bei. Ein Mensch gelangt durch Übung und die ihm eigene Kreativität zu einer Verbesserung der Aufgabendurchführung. Solange Expertensysteme nicht anhand der Ergebnisse ihrer Arbeit lernen können, können Fortschritte nur durch menschliche Eingriffe, das heißt eine Veränderung der Wissensbasis durch den Programmierer, erreicht werden.

Die Duplizierbarkeit der Wissensbasen und damit des Wissens kann zu einem einheitlichen, hohen, Niveau in zahlreichen unterschiedlichen Fertigungsstandorten führen. Denkbar wäre, daß der qualifizierteste Experte eines Unternehmens oder ein externer Berater sein Wissen in ein Expertensystem einbringt. Kopien dieses Systems könnten in anderen Organisationseinheiten eingesetzt werden und so gewährleisten, daß unternehmensweit mit dem höchsten verfügbaren Wissensniveau gearbeitet wird.

Teil des Know-hows bleibt stets erhalten

Wissenskonservierung durch Expertensysteme stellt sicher, daß zumindest ein Teil des unternehmensinternen Know-hows erhalten bleibt, auch wenn der Spezialist das Unternehmen verläßt. Problematisch ist hier allerdings die Frage der Aktualisierung sowie die Bereitschaft eines Experten, sein Wissen vollständig in ein Expertensystem einzuspeichern.

Trotz der beachtlichen Nutzeffekte besteht die Gefahr, daß die Leistungsfähigkeit der Systeme überschätzt und Entwicklungen für Anwendungen gestartet werden, deren Aufwand den Nutzen bei weitem übersteigt. Eine langfristige Betrachtung der Wirtschaftlichkeit ist besonders schwierig, da bisher kaum Erfahrungswerte über den Pflege- und Wartungsaufwand vorliegen.

Die Kosten für die Schaffung eines geeigneten organisatorischen Umfeldes dürfen nicht vernachlässigt werden. Die Einbindung von Expertensystemen in eine organisatorische Struktur ist von entscheidender Bedeutung für ihren Nutzen; denn die Anpassung der Organisationsstruktur an die Software ist wirtschaftlich unrentabel.