Gastkommentar/

Die Switching-Offensive ist über das Ziel hinausgeschossen

24.05.1996

Hadi Stiel, Journalist in Bad Camberg

Manche Erkenntnisse brauchen etwas länger. Und manchmal ist das, was sich allmählich als Erkenntnis herauskristallisiert, alles andere als neu. Man hätte sich nur ein bißchen zurückbesinnen müssen.

So verhält es sich mit der aktuellen Offensive der Anbieter von Switching-Produkten. Unter dem Banner "Mehr Durchsatz für die Endgeräte" und "Mehr Freiheit für eine flexiblere Endgeräte-Zuordnung" ist man auf den Markt gezogen. Dabei haben übereifrige Entwickler und Marketing-Strategen den eigentlichen Sinn der Technik glatt vergessen: über neue Informationstechnik mehr Effizienz in Unternehmensnetze zu tragen.

Oder haben sie es mit Blick auf das Geschäft vergessen wollen? Wie sonst ist es zu verstehen, daß "wirkungsvolle Zugriffskontrolle", "Topologiewechsel", "Broadcast-Lasttrennung" und "ausreichend Media-Access-Control-(Mac-)Adressen" nicht auf der Fahne der Aktivisten standen? Dabei hätten viele Unternehmen ein strategisches Interesse an diesen vier Ansätzen:

-An Zugriffskontrolle, um die sensiblen Geschäftsdaten der Firma zu schützen

-an einem Topologiewechsel, um bereits getätigte Systeminvestitionen zu schützen

-an Broadcast-Lasttrennung, um Verbindungen, Switch-Systeme und Arbeitsstationen von unnötigem Bandbreitenballast zu befreien

-an mehr Mac-Adressen, um das Netz so strukturieren zu können, wie es schon länger erforderlich wäre.

Doch wie es im Übereifer des Gefechts oftmals ist: Je heftiger der Kampf um den Markt, um so mehr trübt der Gefechtsnebel den Blick für die wichtigsten Realitäten. Allerdings lichten sich allmählich die Schwaden, und es wird klar, daß man mit halbfertiger Strategie und stumpfer Waffe ins Feld gezogen ist:

-Mit halbfertiger Strategie, weil man den Sinn und Zweck einer Systemlösung, nämlich die Informationsabläufe im "realen" Netz des Unternehmens zu optimieren, aus den Augen verloren hatte

-mit stumpfer Waffe, weil Switching als Datenübertragungstechnik der sogenannten Ebene 2 des OSI-Modells die genannten vier wichtigen Aufgaben nicht oder nur unzureichend erfüllen kann.

Verdutzt reibt man sich die Augen. Schneller Durchsatz und die große Endgerätefreiheit innerhalb eines unternehmensweiten virtuellen LANs (VLANs) sind eben nicht alles, wenn es um vitale Unternehmensinteressen geht.

Schon ruft man, um die Defizite zu beheben, nach dem Ebene-3-Verfahren des Routings - einer Technik, die einige Hersteller bereits aus dem Unternehmensnetz hinausreden wollten. Hurtig gehen sie nun daran, ihre Switch-Systeme mit Ebene-3-Intelligenz hochzurüsten. Hersteller wie Cisco Systems und Bay Networks haben dem Routing innerhalb ihrer Switching-Architektur, unbeirrt vom Marktgetümmel und getreu ihrer Historie, längst eine prominente Rolle zugedacht. IBM möchte Routing-Funktionen in verteilter Form in den Switch-Systemen implementiert sehen.

Kompetente Hersteller wissen, daß ohne Routing auf Dauer in Unternehmensnetzen nichts mehr geht. Die Technik wird nämlich auch in reinrassigen ATM-Netzen notwendig sein, unter anderem, um jeweils den Übertragungsweg zu finden, der die erforderliche Dienstgüte am ökonomischsten garantiert, und um einzelne Domains im Netz abzugrenzen. Das gerade standardisierte ATM-Routing-Protokoll Private Network-to-Network Interface (PNNI) und die Langzeit-Perspektive Integrated PNNI (I-PNNI) weisen bereits in diese Richtung. Und bei Multiprotocol over ATM (MPOA), das dem ATM-Forum als Standardisierungsvorschlag vorliegt, sind weiterhin die Router-Systeme die Säulen der ATM-Kommunikation.

Auch bei der bisher bedeutenderen LAN-Emulation (LANE) bewegt sich zwischen den emulierten LANs ohne Router nichts. Nur er ermöglicht eine Kommunikation zwischen den virtuellen LANS (VLANs) und bewerkstelligt fällige Topologiewechsel. Der Router erzeugt zudem die Wegetabellen und das zielsichere Durchschalten der Datenpakete unabhängig davon, in welchem VLAN sich der Adressat befindet. Darüber hinaus garantiert er eine wirkungsvolle Broadcast-Last-Trennung zwischen den LANs sowie einen effektiven Zugriffschutz.

Nur mit Routing paßt also Switching in die Netze der Anwender - egal, ob es letztlich in Form eines klassischen Routers, eines Router-Servers oder als verteiltes Routing in den Switch-Systemen realisiert wird.

Eigentlich hätten sich die übereiligen Verfechter des durchgehenden Ebene-2-Switchings vor ihrem Marketing-Feldzug nur an die Situation vor sechs Jahren erinnern müssen. Damals wurde im Kern der gleiche Disput geführt: "Ebene 2 oder Ebene 3?", nur mit anderen Schlagworten: "Bridge oder Router?" Das Ergebnis ist damals wie heute das gleiche.