Forschen und gründen

Die Stadt der kurzen Wege

16.06.2000
Von 
Ingrid Weidner arbeitet als freie Journalistin in München.
Die Region ist besser als ihr Ruf, die Aufbruchstimmung ist keine Marketing-Floskel, sondern gehört längst zum Alltag. Karlsruhe hat neben der geografischen Nähe zu Frankreich und dem milden Klima vor allem als Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort einiges zu bieten.

"Karlsruhe ist der Traum eines Kurfürsten", sagt Horst Zajonc, Leiter des Amtes für Wirtschaftsförderung. Die Stadt wurde 1715 von dem Markgrafen Karl-Wilhelm gegründet, und jeder Architekturstudent kennt ihren fächerförmigen Grundriss. Das Schloss bildete in der Stadtplanung den Mittelpunkt, Straßen und Alleen umschließen es wie Sonnenstrahlen. Damals holte der Markgraf die klügsten und besten Leute nach Karlsruhe, um seine Vision der Stadt umzusetzen. Heute bildet vor allem das dichte Forschungs- und Hochschulnetz die Vision für das neue Jahrtausend.

Die Technische Universität feiert in diesem Jahr ihr 175. Gründungsjubiläum. Mit Darmstadt ist der Disput um den ersten Informatikstudiengang zwar noch nicht abgeschlossen, aber immerhin hat etwa jeder vierte Informatiker in Deutschland sein Diplom in Karlsruhe erworben. Die Hochschule für Technik (FH) und eine Berufsakademie bieten ebenfalls technische Studiengänge an. An der Pädagogischen Hochschule steht die Lehrerausbildung im Vordergrund. Gerade im Hinblick auf die thematische Nähe von Neuen Medien, Internet und Kunst ergänzen die Akademie der bildenden Künste und die Hochschule für Gestaltung das Angebot und setzen eigene Akzente in der universitären Ausbildung.

In Baden-Württemberg konkurrieren zwei wirtschaftlich starke Regionen gegeneinander. Die schwäbische Variante mit Stuttgart als Zentrum wird von der badischen Seite immer etwas neidisch beäugt. "Die Stuttgarter loben uns als Technologiestandort, stellen uns aber wenig Mittel zur Verfügung. Da heißt es dann: Ihr seid schon so gut, ihr braucht nichts mehr." Als dann noch das Rechenzentrum der Landesbank nach Stuttgart verlegt wurde, fühlten sich die Badener endgültig benachteiligt. Aber entmutigen lassen sie sich trotzdem nicht. Zahlreiche Initiativen etwa für Existenzgründer zeigen, dass der Erfindungsreichtum nicht unter der staatlichen Vernachlässigung leidet.

Karlsruhe verfügt neben dem kreativen Forscherpotenzial über engagierte Persönlichkeiten, die jungen Hightech-Gründern mit Rat und Tat unter die Arme greifen. Das Cyberforum, ein gemeinnütziger Verein, konnte viele Existenzgründer bei der Umsetzung ihrer Firmenideen mit einem Netzwerk an erfahrenen Beratern unterstützen. Der Initiator, Friedrich Georg Hoepfner, leitet zwar im Hauptberuf die väterliche Brauerei, gehört aber zu den agilen Visionären und erkannte die Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien. In Karlsruhe gehörte die strategische Beratung durch erfahrene Geschäftsleute schon dazu, bevor der Begriff "Business Angel" in aller Munde war.

Der große Fisch fehlt

Die Region ist besser als ihr Ruf. Deshalb soll ein neues Marketing-Konzept helfen, die Vorteile des Standorts besser darzustellen. Was den Karlsruhern noch fehlt, ist ein großer Fisch, ein Unternehmen mit Weltruf, das als Zugpferd dient und noch mehr Investoren und neue Firmen anlockt. Gern hätten sie ähnliche Schwergewichte wie Daimler-Chrysler oder IBM in ihrer Region. "Wir haben schon einige Global Player", meint Zajonc, "SAP ist ein nordbadisches Unternehmen, L’Oréal beschäftigt zirka 1000 Mitarbeiter in Produktion und Logistik bei uns." Siemens baute vor einiger Zeit seine Mitarbeiterzahl von 8000 auf 4000 ab, gehört aber immer noch zu den wichtigen Arbeitgebern der Region. Die Informationstechnologie und Forschung gehören neben einem wachsenden Dienstleistungssektor zu den aufstrebenden Wirtschaftsbereichen.

Hinter dem Schlagwort "Technologieregion Karlsruhe" verbirgt sich mehr als ein kluger Marketing-Gag. Die acht badischen Städte Baden-Baden, Bretten, Bruchsal, Bühl, Ettlingen, Gaggenau, Karlsruhe, Rastatt sowie die Landkreise Karlsruhe und Rastatt schlossen sich 1987 zu einer freiwilligen Aktionsgemeinschaft als Gesellschaft des bürgerlichen Rechts zusammen, um regional und interdisziplinär die Region voranzubringen. Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Verwaltung arbeiten unter dem Vorsitz des Karlsruher Oberbürgermeisters und der Geschäftsführung der Industrie- und Handelskammer zusammen.

Die Interessensgemeinschaft wirbt mit "Hightech" und "Highlife", um neue Investoren aus dem In- und Ausland für die Region als Standort zu begeistern. Die verkehrsstrategisch günstige Lage als europäische Nord- Süd-Verbindung sowie die Nähe zu Frankreich und der Schweiz sollen neue Firmen anlocken. "Unser großer Vorteil hier sind die kurzen Wege", sagt Peter Lockemann, Leiter des Forschungszentrums Informatik und Professor an der Technischen Universität. Die engen Verbindungen zwischen Universität, Forschungseinrichtungen und Wirtschaft bilden gute Voraussetzungen für die kreative Aufbruchstimmung der Region.

1984 entstand auf dem ehemaligen Singer-Gelände das zweite Existenzgründerzentrum Deutschlands. Über die Betreibergesellschaft IHK-Unternehmens- und Technologieberatung ist die Technologiefabrik das einzige Gründerzentrum, das über eine 100-prozentige IHK-Tochter geleitet wird. Eine Studie aus dem Jahr 1997 belegt die Erfolge des Zentrums. Bei den befragten jetzigen und ehemaligen Mietern handelt es sich mit 80 Prozent der Fälle um akademische Existenzgründungen, 39 Prozent der Befragten gründeten ihr Unternehmen direkt aus der Hochschule heraus. Drei Viertel sind in der Informationstechnologie aktiv, acht Prozent in der Umwelt- und Verfahrenstechnik.

Die Mietzeit in einem Gründerzentrum soll die Startschwierigkeiten überbrücken und ist deshalb auf fünf Jahre begrenzt. Viele Mieter schöpfen diese Zeitspanne nicht aus, sondern ziehen schon früher in größere Räume. Trotzdem muss sich die Betreibergesellschaft keine Sorgen um neue Mieter machen, denn es gibt eine stetige Nachfrage. Inzwischen hat die Stadt Karlsruhe mit dem Technologiepark eine Gewerbefläche geschaffen, in welche die erfolgreichen Gründer später umsiedeln können. Dort gibt es keinerlei Zeitlimit, dafür aber die nötige Infrastruktur, um die gegründeten Unternehmen erfolgreich weiterzuführen. Gerade für kleinere Existenzgründerprojekte ist die räumliche Nähe zu anderen Gründern ein Nährboden für Kreativität. Laut einer Studie kooperieren 56 Prozent der Neuunternehmer untereinander. Zählt man die informellen Gespräche auf dem Flur dazu, ist die Zahl sicherlich

deutlich höher. Besonders stolz ist Jörg Orlemann, Geschäftsführer der IHK-Unternehmens- und Technologieberatung, dass seit 1984 zirka 3000 Arbeitsplätze direkt bei den Gründern und mindestens weitere 2500 bei Zulieferbetrieben entstanden sind.

Universitäten und Bildungsangebot

Die Informatikfakultät der Universität Karlsruhe zählt zu den größten in Deutschland. Bei den Anfängerzahlen legte die Universität zwar im Wintersemester auf 580 Immatrikulanten zu, allerdings erschweren bildungspolitische Fehlentscheidungen einen qualitativ hochwertigen Lehrbetrieb. Schaffen es die Studierenden nicht, innerhalb der Regelstudienzeit die Diplomprüfung abzuschließen, drohen ihnen saftige Studiengebühren. Klaus von Trotha, Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg, kassiert pro Semester 1000 Mark von den Langzeitstudenten. Studierende, die für ihren Lebensunterhalt auf Nebenjobs angewiesen sind, trifft diese Regelung doppelt hart.

"Gerade kleine Firmen überleben nur mit der Mitarbeit der Studenten, die zusätzlich einen wichtigen Beitrag zum Technologietransfer in die Wirtschaft leisten", hält Detlef Schmid, Dekan der Fakultät für Informatik, dagegen. Die Studiengebühren gefährden auch eine weitere wichtige Komponente der Ausbildung. In den Einführungsvorlesungen in das Fach Informatik sitzen mehr als 700 Studierende, für welche die Universität in Kleingruppen von zwölf bis 15 Personen Tutorien anbietet. Als Tutoren arbeiteten bisher 40 bis 50 Studierende aus höheren Semestern. Inzwischen möchte kaum noch jemand diese Aufgabe übernehmen, da alle an einen zügigen Studienabschluss denken müssen. Aber gerade die Tutorien boten eine gute Möglichkeit, soziale Kompetenz sowie Team- und Projektarbeit zu üben. "Durch ein undurchdachtes Gesetz geht ein Trainingsbereich für soziale Kompetenz verloren", kritisiert Schmid.

Die Technische Universität scheint dem baden-württembergischen Bildungsminister und Juristen Klaus von Trotha nicht besonders am Herzen zu liegen, denn er strich trotz steigender Studentenzahlen die Stellen von 25 wissenschaftlichen Mitarbeitern im Fachbereich Informatik. Zwar konnte der Dekan in einem persönlichen Gespräch mit dem Ministerpräsidenten einen Kompromiss erzielen, allerdings schuf die Umverteilung von weniger ausgelasteten Fakultäten und Mitarbeiterstellen eine schlechte Stimmung innerhalb der Universität, da der Verteilungskampf um die Mittel und Stellen begonnen hat.

Bei den Informatikern gilt das stark mathematisch ausgerichtete Grundstudium als Nadelöhr für das freiere Hauptstudium - vermutlich einer der Gründe für die hohe Studienabbrecher-Quote von 40 Prozent. Allerdings gleichen einige Studierende die theorielastige Uniausbildung aus, indem sie schon während des Studiums eine eigene Firma gründen, um die theoretischen Kenntnisse gleich in die Praxis um- zusetzen. "Manche unserer jungen Leute sind einfach zu ungeduldig und wollen schnell Erfolge sehen", vermutet der Informatikprofessor Gerhard Krüger,"Wenn ihre Firma gut läuft, haben sie keine Zeit mehr für ihr Diplom."

Allerdings bemüht sich die Universität, gerade so genannte Langzeitstudierende so gut es geht zu unterstützen, selbst wenn sich die Statistik der durchschnittlichen Studiendauer dadurch verschlechtert. "Ein Diplom stellt eine krisensicherere Investition dar als die eigene Firma, denn die kann in Schwierigkeiten geraten", versuchen die Professoren ihre Studenten zu überzeugen. "Eine gute Ausbildung halte ich für sehr wichtig", betont Schmid. "Eine extreme Verkürzung der Inhalte ist verantwortungslos." Gerade bei der Diskussion um die Bachelor-Studiengänge hält die Fakultät eine voreilige Lösung für kurzsichtig. In Karlsruhe gibt es Überlegungen und erste Gespräche, neben dem Diplomstudiengang einen kürzeren Bachelor anzubieten.

Forschung und Innovation

In Karlsruhe sind zahlreiche hochkarätige Forschungseinrichtungen angesiedelt. Drei Fraunhofer-Institute und zahlreiche Forschungsprojekte der Universität, beispielsweise das Forschungszentrum Informatik unter der Leitung von Professor Peter Lockemann, bieten den Studierenden genügend Möglichkeiten, Theorie und Praxis zu verbinden.

Im Januar 1999 übernahm die SAP AG das Forschungscenter CEC (Campus-based Engineering Center), das Digital 1987 gegründet hatte. Wie der Name schon sagt, auch das eine Gründung aus dem Umfeld der Universität. Bisher beschäftigten sich die Forscher und Entwickler des CEC hauptsächlich mit Softwaretechnologie für verteilte Rechnersysteme. Zu den neuen Aufgaben des Corporate Research der SAP AG gehört die Erforschung und Entwicklung von skalierbaren Internet-Service-Angeboten sowie deren Architektur und Plattformen.

Was sich abstrakt anhört, beinhaltet Anwendungen, die unsere Arbeits- und Lernwelt von morgen nachhaltig verändern können. Gerade der Aus- und Weiterbildung kommt ein immer höherer Stellenwert zu. "L3. Lebenslanges Lernen", ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt, ist ebenfalls im CEC angesiedelt. Neue Lernmöglichkeiten über das Internet stehen hier im Mittelpunkt. Lutz Heuser, Gründungsmitglied des CEC und nach der Übernahme durch SAP Leiter des Bereiches Technologie, möchte bereits in den nächsten Monaten die ersten Pilotprojekte der neuen Lernumgebungen testen.

Kunst und Technologie

Der künstlerische Anspruch soll bei aller Technologie nicht zu kurz kommen. Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie(ZKM) visualisiert mit Ausstellungen, Installationen, Mediathek, Bibliothek und interdisziplinären Projekten die Entwicklungen auf dem Weg in die Informationsgesellschaft. Kunst und Technologie werden nicht als Gegensätze begriffen. Bereits 1989 als Stiftung des öffentlichen Rechts gegründet, öffnete das Museum 1997 seine Tore. Seit Januar 1999 leitet der Künstler Peter Weibel als Vorstand das ZKM. Eine umgebaute Rüstungsfabrik bietet große Ausstellungsflächen.

Das Projekt aus den 80er Jahren spiegelt die enge Verknüpfung von verschiedenen universitären und künstlerischen Bereichen wider. Damals waren die Begriffe "Multimedia" und "Internet" nur in Forscherkreisen ein Thema. Das Konzept des ZKM und seine Umsetzung sind einmalig in Deutschland. Es gehört zu den visionären Projekten, die sich mit Kunst, Technik und Gesellschaft in allen Facetten auseinander setzen.

Markgraf Karl-Wilhelm würde sich vermutlich freuen: Die Visionen und Visionäre sind nicht ausgestorben. Wahrscheinlich inspirieren die Sonnenstrahlen der Straßenkonstruktion auch heute noch die findigen Bewohner. Die einzige Tragödie in Karlsruhe ist der Abstieg des KSC. Hierfür gibt es noch keine Lösung.