Thema der Woche / Verfuegbare PPS-Systeme sind falsch konzipiert

Die schlanke Fabrik braucht kaum Produktionssteuerung

14.05.1993

Es gibt Fachleute, die rundheraus die Zweckmaessigkeit aller im Einsatz befindlichen PPS-Systeme bestreiten. Zu ihnen zaehlt Wilfried Sihm, als Abteilungsleiter am Stuttgarter Fraunhofer- Institut fuer Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) zustaendig fuer Produktions-Management und Informationssysteme.

"Ihren eigentlichen Steuerungszweck erfuellen die Systeme heute schon nicht", lautet Sihms These, und seine Begruendung klingt durchaus plausibel: Die derzeit eingesetzten PPS-Produkte wuerden den Mitarbeitern teilweise minutengenaue Vorgaben machen, wann welcher Auftrag auf welcher Maschine von wem auszufuehren sei, waehrend in der Realitaet der betreffende Mitarbeiter krank, die Maschine defekt oder das benoetigte Material nicht vorhanden sein koennten. "Mir ist kein PPS-System bekannt, das hier innerhalb einer Minute reagieren koennte", konstatiert der Stuttgarter.

Die betroffenen Anwender beurteilen das vorhandene Angebot zwar nicht ganz so negativ; doch raeumen die meisten von ihnen ein, dass sie ihre von der Stange gekauften Systeme in wesentlichen Punkten modifizieren mussten, weil das Standardprodukt die individuellen Ansprueche nicht abdecken konnte. Dazu Wolfgang Bommes, zustaendig fuer Organisation, Automation und Informatik bei der Eduard Kuesters Maschinenfabrik GmbH & Co. KG in Krefeld: "Eigentlich brauchen Sie, wenn Sie beispielsweise fuenf unterschiedliche Produktgruppen haben und alles sauber optimieren wollen, fuer jede dieser Gruppen ein eigenes PPS-System."

Fragwuerdig erscheint Bommes jedoch bereits der grundlegende Ansatz existierender PPS-Produkte: "Diese Systeme sind fuer eine globale Automatisierung ausgelegt - alles ueber alles", erlaeutert der Rheinlaender. Das mit solchen Systemen verfolgte Ziel sei, die komplette Fertigungssteuerung fuer jeden Auftrag auf allen Maschinen und ueber die Gesamtzahl der Werkstaetten hinweg zu planen. "Da gibt es nur 100 Prozent oder gar nichts."

Damit stehen die am Markt verfuegbaren Produkte sowie die meisten Eigenentwicklungen - nicht nur nach Bommes´ Ansicht - in krassem Widerspruch zu den neuen Formen der Fertigungsorganisation, die unter dem Schlagwort "Lean production" allmaehlich auch in der deutschen Industrie Einzug halten. Eine "schlanke" Produktion zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie den unnoetige Kosten verursachenden Ballast ueber Bord geworfen hat und sich auf die tatsaechlich wertschoepfenden Taetigkeiten konzentriert. Eine der Konsequenzen daraus ist die Gruppenbildung.

Diese Arbeitsform laesst sich jedoch, so Uwe Geitner, Professor am Lehrstuhl fuer Produktionsorganisation der Gesamthochschule Kassel, auf der Basis heutiger PPS-Systeme nicht realisieren. Mit den vorhandenen Produkten sei es "noch nie vernuenftig gelungen, aehnliche Produkte zu Gruppen zusammenzufassen und in diesen Gruppen die Fertigung zu steuern."

Ein weiteres Manko der gaengigen PPS-Software ist nach Geitners Ansicht, dass diese Systeme selbst ein geruettelt Mass Ballast mit sich herumschleppen. In einer schlackenarmen Fertigungsorganisation sollte das System nur dann in den Produktionsprozess eingreifen, wenn ein aktueller Bedarf besteht. "Aber so sind die PPS-Systeme alle nicht ausgelegt", kritisiert der Kasseler Hochschullehrer. "Die geben beim Eintreffen bestimmter Kriterien immer wieder dieselben Informationen aus; der Aufwand, der hier getrieben wird, ist im Verhaeltnis zum Anspruch des Lean-Konzeptes viel zu hoch."

Zudem behandeln die existierenden PPS-Systeme laut Geitner alle Kosten gleichberechtigt. In einer schlanken Produktionsorganisation muesse hingegen differenziert werden - zwischen den Kosten, die wertschoepfend wirken, und denen, die das nicht tun.

Auch auf anderen Gebieten weisen die vorhandenen Produkte Luecken auf, so bei der simultanen Bearbeitung ("Concurrent engineering"). Geitner: "Das ist mit den heutigen PPS-Systemen - wenn ueberhaupt - nur sehr schwer und umstaendlich, also fast ueberhaupt nicht sinnvoll machbar." Die existierenden PPS-Systeme wuerden nach wie vor auf dem sequentiellen Prinzip aufbauen, wodurch der Anwender gezwungen sei, sich mit zusaetzlichen Projektsteuerungs-Werkzeugen zu behelfen.

Im Grunde genommen, darin sind sich die Befragten weitgehend einig, verliert der "S-"Bestandteil der PPS-Systeme in einer Lean- production-Umgebung deutlich an Gewicht. Wie Rolf Hellmann, Org./DV-Leiter der KSB AG im pfaelzischen Frankenthal, erlaeutert, setzt sich ein solches System aus zwei Funktionsbereichen zusammen: der Materialwirtschafts-Komponente und dem Fertigungssteuerungs-Teil. Letzterer buesse angesichts des Trends zur schlankeren Produktion an Bedeutung ein. "Das, was die PPS- Systeme auf diesem Sektor bieten, wird weitgehend ueberfluessig", prophezeit der DV-Experte. "Je besser es mir gelingt, das neue Organisationsprinzip zu realisieren, desto weniger Steuerung benoetige ich."

Fast uebereinstimmend bestaetigen die Befragten, dass die gaengigen PPS-Systeme ueberdimensioniert sind. "Ich brauche kuenftig gar keine so maechtige Funktionalitaet wie bei der alten Werkstattorganisation", aeussert beispielsweise Hellmann.

Typisch fuer die schlanke Fabrik sind Produktionsinseln, die ihre Auftraege eigenverantwortlich abwickeln. Innerhalb dieser Inseln verlaufen die Materialfluesse idealerweise so uebersichtlich, dass auch ein Mensch sie ueberwachen kann. Auf eine DV-unterstuetzte Binnensteuerung koennen die Mitarbeiter also getrost verzichten.

Notwendig ist nach Hellmanns Ansicht allerdings ein System, das die von den Inseln ausgestossenen Produktionsergebnisse konsolidiert. Diese Loesung koenne jedoch wesentlich groeber und einfacher ausfallen als die herkoemmliche Steuerungssoftware. "Um ein Werkstueck zu fertigen, hat man heute Arbeitsplaene, die zehn, zwanzig oder mehr Operationen durchlaufen. In Zukunft heisst es nur noch: Werkstueck fertig bearbeiten", beschreibt der Pfaelzer seine Vorstellungen. Eine Software, die diesen Denkansatz unterstuetzt, hat er aber noch nicht gefunden.

Theoretisch untermauert werden diese Ideen von Sihm: Nach Darstellung des leitenden Fraunhofer-Mitarbeiters ist der einzelne Mensch kuenftig weitaus staerker als bisher in die Produktionsentscheidungen involviert; den Steuerungsaspekt werde das Team vor Ort uebernehmen. "Also brauchen wir eigentlich nur noch Produktionsplanungs-Systeme und Betriebsdaten-Erfassung," heisst die Prognose des IPA-Managers.

Bei den heutigen PPS-Systemen liegt, so hat Sihm festgestellt, der Optimierungsaspekt auf der Steuerung. Fuer die Produktionsorganisation einer schlanken Fabrik sei es jedoch notwendig, dieses Ziel schon in der Planungsphase zu verfolgen. "Ich muss bereits bei der groben Planung optimierte Pakete zusammenstellen koennen", fordert der Lean-production-Experte.

Noch eine Nuance schaerfer geht Geitner an dieses Thema heran. "Im Grunde genommen" sollten alle Anwender, die in die schlanke Produktion einsteigen wollen, ihre alten PPS-Systeme wegwerfen. "In der Betrachtungsweise hat sich wirklich etwas geaendert, und nun muessten sich die Systeme dem anpassen; das koennen sie aber nicht, weil sie zu starr sind", klagt der Wissenschaftler. Minimalforderung ist auch fuer ihn ein voellig neu geschriebenes Modul fuer die Steuerungsseite.

Genau dieses Problem beschaeftigt derzeit die Organisations- und DV-Experten bei der Zahnradfabrik Friedrichshafen AG. Rainer Betzler, zustaendig fuer die Anwendungsentwicklung von Planungs- und Steuerungssystemen, schildert den Stand der Diskussion: "Wir haben uns folgende Gedanken gemacht: Einkauf, Beschaffung, Auftragsverwaltung und Lagerwirtschaft sind Funktionen, die man standardmaessig kaufen kann. Aber in Kernbereichen wie Fertigungssteuerung und Disposition macht es moeglicherweise Sinn, selbst ein System zu entwickeln - eventuell auf einer dezentralen Basis."

Auf Inhouse-Entwicklung will auch Bommes setzen - notgedrungen, denn eine "hundertprozentige" Client-Server-Loesung auf Windows- Basis, die seinen Anforderungen entspricht, kann er eigenen Angaben zufolge noch nicht fertig kaufen.

Welche Funktionalitaet sein Unternehmen im Detail benoetige, sei zwar noch nicht geklaert. Eines wisse er aber wohl: Das gesamte System habe sehr viel kostentransparenter, prozessorientierter und flexibler zu sein. "Das muss sich sich im Nu anpassen lassen - und zwar nicht durch die DV-Abteilung."

Sowohl beim IPA in Stuttgart als auch an der Gesamthochschule Kassel - und mit Sicherheit auch anderswo - wird derzeit an alternativen PPS-Systemen gebastelt.

Sihm fasst die in der Fraunhofer-Gesellschaft angestellten Ueberlegungen zusammen: "Die Mitarbeiter bekommen nur noch grobe Planvorgaben. Das Ergebnis ist ein einfacheres System. Ausserdem muessen Sie, wenn Sie Ihre Organisation dezentralisieren, auch Ihre DV dezentralisieren."

Letztendlich bedeutet Lean production also weniger Datenverarbeitung. Das Resuemee des Stuttgarter Fachmanns fuer Produktions-Management: "Moderne Unternehmen verhalten sich nach der Maxime: Ohne DV geht es nicht, aber wir brauchen einfachere DV-Systeme."

In diesem Zusammenhang verweist Hellmann auch auf die Notwendigkeit eines weniger differenzierten Lohnsystems. "Der Maschinenbau lebt heute noch weitgehend mit akkordorientierten Entlohnungsformen, die sehr aufwendig von der DV unterstuetzt werden", erlaeutert der Org./DV-Leiter aus Frankenthal. "Das widerspricht der modernen Fertigungsorganisation, wo die Mitarbeiter eigene Entscheidungsspielraeume bekommen; diese Leute kann ich nicht nach Minutenvorgaben entlohnen."

All diese Argumente foerdern eine ueberraschende Quintessenz zutage: Die DV-Verantwortlichen sehen die Datenverarbeitung immer weniger als Selbstzweck, sondern vielmehr als ein Mittel, um die bestehende oder angestrebte Unternehmensorganisation zu unterstuetzen. So bemaengelt Roland Pfisterer, Bereichsleiter Org./DV bei der Steinbeis Temming Papier GmbH & Co. in Besigheim, dass die Erwartungen an die PPS-Systeme in der Vergangenheit viel zu hoch geschraubt waren. Die Anwender seien von der Vorstellung ausgegangen, das Softwaresystem wuerde die unternehmensinternen Ablaeufe total veraendern, sprich: effizienter machen.

Der richtige Ansatz ist fuer Pfisterer jedoch der genau entgegengesetzte. "Die DV ist zur Unterstuetzung der Ablaeufe in der Produktion erforderlich und nicht umgekehrt."

Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach dem richtigen PPS-System neu. Dazu noch einmal Sihm: Wer heute vor der Investitionsentscheidung fuer ein PPS-System stehe, muesse sich "unbedingt" zunaechst darueber klar werden, wieviel und welche DV- Unterstuetzung eine neue, schlankere Organisation benoetige, um optimal zu funktionieren. "Erst wenn er das weiss, kann er an den Markt gehen und sich umschauen, was es da gibt." Karin Quack