Warum ein Softwareunternehmer sein Personalproblem in Russland löst

"Die rigide Regelung in Deutschland bremst die Entwicklung enorm"

17.03.2000
Bislang dürfen IT-Profis aus Nicht-EU-Staaten nur in den seltensten Fällen in Deutschland arbeiten. Artificial Life, ein Hersteller von intelligenten Softwarerobotern mit Hauptsitz in Boston und Büros in der Schweiz und Frankfurt am Main, hat darum in St. Petersburg eine Filiale gegründet. Geschäftsführer Eberhard Schöneburg erklärte Ingrid Weidner*, wie er sein Personalproblem gelöst hat.

CW: In St. Petersburg entwickeln Softwareexperten einen Großteil der Programme für die Smart Bots, die "intelligenten" Web-Agenten. Weshalb gerade Russland?

SCHÖNEBURG: St. Petersburg ist in unserer Branche sicher sehr ungewöhnlich. Der Grund ist unser rasanter Expansionskurs. Im letzten Jahr hatten wir 15 Mitarbeiter, heute sind es 250 und bis zum Ende des Jahres sollen es etwa 1000 sein. In Deutschland wäre das nicht möglich. Einer meiner Partner, Bruno Gabriel, brachte mich auf die Idee. Als ich von den Schwierigkeiten erzählte, qualifizierte Leute zu finden, meinte er, das sei schade, denn in Russland sitzen die Leute auf der Straße und sind arbeitslos.

CW: Wie haben Sie Ihre Idee in die Praxis umgesetzt?

SCHÖNEBURG: Wir sind nach St. Petersburg geflogen und haben in der Zeitung inseriert, 30 Bewerber eingeladen, die programmieren konnten oder Internet-Erfahrung hatten. Davon hätte ich am liebsten 29 sofort eingestellt, denn das waren Topleute, und die Gehälter sind niedrig.

CW: Warum haben Sie die Bewerber nicht sofort engagieren können?

SCHÖNEBURG: Die erste Schwierigkeit war, überhaupt ein Büro zu finden. Wir sind dort angekommen und hatten keine Kontakte. Die Makler zeigten uns nur Bretterverhaue für 30 Dollar den Quadratmeter. Einige dachten sich, dass sie uns als Ausländer über den Tisch ziehen könnten. Wir fanden eine bessere Lösung: Mein Kollege ist mit einer Russin verheiratet, und über die verwandtschaftlichen Beziehungen hatten wir ein gutes Netzwerk, ohne das vieles schwieriger oder aussichtslos gewesen wäre. So fanden wir ein schönes Büro in einem historischen Gebäude.

CW: Wie sehen die Bedingungen für die technische Infrastruktur aus?

SCHÖNEBURG: Internet ist kein Problem, aber wir müssen westliche Kosten zahlen. Computer und Telekommunikation sind sehr teuer. Deshalb kann sich dort kaum jemand einen privaten Internet-Anschluss leisten.

CW: Wie gingen Sie bei der Personalsuche vor?

SCHÖNEBURG: Wir haben über Stellenanzeigen in Zeitungen die ersten 20 Mitarbeiter eingestellt und einen dreimonatigen Testlauf gestartet. Wir waren so zufrieden, dass wir unser Personal innerhalb des letzten Jahres auf 100 Mitarbeiter aufgestockt haben. Momentan wollen wir weiter ausbauen und suchen neue Räumlichkeiten. Es ist eine ganz tolle Arbeitsatmosphäre, die Leute sind extrem motiviert, für eine amerikanische Gesellschaft zu arbeiten. Sie bekommen Aktienoptionen, verdienen im Verhältnis das Zehnfache des russischen Durchschnittslohns und entwickeln Internet-Technologie.

CW: Welchen beruflichen Hintergrund haben die Mitarbeiter?

SCHÖNEBURG: Einige kommen direkt von der Universität, andere bringen Erfahrung aus der Luft- und Raumfahrt oder aus dem Bankenumfeld mit. Gerade in diesen beiden Bereichen gibt es in Russland sehr große Schwierigkeiten. Wir konzentrieren uns stark auf den Bereich "Financial Services" und haben darum diese Leute bevorzugt eingestellt.

CW: Wie funktioniert die Arbeitsteilung zwischen Ihrer russischen Filiale und dem Hauptsitz in den USA?

SCHÖNEBURG: Von Anfang an gaben wir Programmieraufgaben nach St. Petersburg, hatten aber einen europäischen oder amerikanischen Projekt-Manager vor Ort. Mittlerweile wird St. Petersburg langsam immer autarker. Einzelne Tools entwickelt das dortige Team komplett selbständig. Qualitätsprüfung, Entwicklung von Prototypen und Forschung finden dort statt.

CW: Wollen Ihre Mitarbeiter in St. Petersburg nicht irgendwann nach Boston wechseln?

SCHÖNEBURG: Doch. Diese Chance geben wir ihnen auch, allerdings nicht zu früh, da wir sie sonst gleich in Boston hätten einstellen können. Wir haben ein Anreizsystem und fangen an, beim Gehalt Unterschiede zu machen. Der nächste Schritt ist dann, dass man den Topleuten anbietet, ins Ausland zu gehen. Allerdings ist es zehnmal einfacher, einen Russen in die USA zu bekommen als nach Deutschland oder in die Schweiz. Die rigide Regelung in Deutschland bei der Arbeitserlaubnis bremst die Entwicklung enorm und erschwert das Serviceangebot vor Ort. Zum Glück tut sich hier jetzt einiges.

CW: Andere Firmen arbeiten eng mit indischen Programmierern zusammen. War das keine Alternative für Sie?

SCHÖNEBURG: Das ist das klassische Outsourcing. Ich will mich jetzt nicht negativ äußern. Aber es gibt ganz wesentliche mentale Unterschiede. Für uns aus Deutschland und den USA ist außerdem der Zeitunterschied und die Entfernung ein großes Problem. Wir haben uns zuerst diese Möglichkeit angesehen. Aber um nach Bangalore zu kommen, muss man erst nach Delhi und dann umsteigen. Wenn man den Flieger verpasst, heisst das schlimmstenfalls eine Woche warten. In St. Petersburg sind wir von Europa aus in zwei Stunden. Zwar sind die sozialen Verhältnisse in Russland nicht wirklich gut, aber im Vergleich zu Indien wesentlich besser. Schließlich arbeiten etwa zehn Mitarbeiter aus Europa und den USA ständig dort. Das muss zumutbar sein, ein Kollege ist jetzt ganz nach St. Petersburg gezogen. Indien dagegen ist meiner Meinung nach unzumutbar.

CW: War es auch eine finanzielle Entscheidung?

SCHÖNEBURG: Die Inder sind sehr geschäftstüchtig. Bei den normalen Stundensätzen herrscht dort schon fast westliches Niveau. Dann kommen noch die vielen Zwischenhändler dazu.

CW: Wie sieht das Gehaltsspektrum in St. Petersburg aus?

SCHÖNEBURG: Den Programmierern geht es darum, einen guten Job zu haben, sie wollen etwas lernen und vorankommen. Sie schauen nicht auf die schnelle Mark. Sie haben die letzten Jahrzehnte ganz anders gelebt. Das ändert sich langsam. Die slawische Mentalität "Man erduldet sein Schicksal" ist noch stark spürbar.

CW: Zahlen Sie das Gehalt in Dollar?

SCHÖNEBURG: Wir müssen in Rubel zahlen, aber auf Dollarbasis. Wenn der Dollar steigt, gibt es einen Inflationsausgleich. Die Bezahlung unserer Mitarbeiter in St. Petersburg hängt stark vom Ausbildungsstand und der Vorbildung ab und liegt irgendwo zwischen 500 und 2000 Dollar pro Monat.

CW: Arbeiten Sie mit einer dortigen Bank zusammen?

SCHÖNEBURG: Bankkonten sind kritisch. Am Anfang wurde uns gesagt, es ist nur möglich, ein Geschäftskonto zu eröffnen, wenn man 20 Millionen deponiert. Inzwischen haben wir eine Geschäftsbank, bei der es keine derartigen Auflagen gibt. Von den Mitarbeitern hat keiner sein Geld auf einem Bankkonto. Alle nehmen es am Ende des Monates bar in der Lohntüte mit nach Hause.

CW: Wenn Sie in St. Petersburg von 150 auf 500 Mitarbeiter aufstocken wollen, bekommen Sie dann überhaupt so viel Personal?

SCHÖNEBURG: Die Mitarbeiter sind nicht das Problem, sondern die Infrastruktur, zum Beispiel das Bürogebäude. Der Immobilienmarkt ist in den Händen weniger Leute. Wir waren bei einem interessanten Objekt kurz vor Vertragsabschluss, als sich herausstellte, dass die Eigentumsverhältnisse unklar sind.

* Ingrid Weidner ist freie Journalistin in München.