"Die PTTs müssen wie wir das OSI-Einmaleins lernen"

28.09.1990

Mit Ernst Wellhoener, Vice-President Telecommunications Business

Group bei Digital Equipment, sprach CW-Redakteur Peter Gruber

CW: Die Digital-Zentrale in Maynard hat die Geschicke des Geschäftsbereiches Telecommunications and Networking in europäische Hände gelegt. Was hat sie dazu bewogen?

Wellhoener: Der wichtigste Grund ist, daß Europa gerade einen Prozeß der Reorganisation und Reorientierung durchläuft, der für die ganze Welt von

Bedeutung ist. Europa steht in Sachen Telekommunikation momentan weltweit im Zentrum des Interesses. Das nächste Jahrzehnt wird deutlich von TK-Entwicklungen geprägt werden, die ihre Ursachen und Wurzeln in Europa haben.

CW: Wie steht Digital als amerikanische Company zum Europäischen Binnenmarkt?

Wellhoener: Wir haben zwar unser Headquarter in den USA, fühlen uns aber als globales Unternehmen. Immerhin machen wir 55 Prozent unseres Geschäfts im Ausland, im Bereich Telekommunikation sind es sogar allein 60 Prozent in Europa. Das zeigt, wie wichtig Europa aus TK-Sicht für Digital ist.

Was die EG betrifft, hat ja die EG-Kommission vor einem Jahr das Grünbuch veröffentlicht und alle Beteiligten aufgefordert, zu den Liberalisierungsplänen Stellung zu nehmen. Wir haben in unserem Statement klar zum Ausdruck gebracht, daß Digital die Initiative der EG zur Liberalisierung voll unterstützt. Grund: Es muß keinen fundamentalen Unterschied zwischen dem TK-Markt und anderen Märkten geben. Im Gegenteil, der TK-Markt kann von der Öffnung Nutzen ziehen, indem er Innovationen und Ideen aus anderen Bereichen in sein Denken und seine Produktpalette einbezieht.

CW: Wie kann die Welt auf Europa blicken, wenn wir von der Realisierung der EG-Richtlinien noch weit entfernt sind?

Wellhoener: Es wäre falsch, anzunehmen, daß Europa 1992 plötzlich ein völlig anderes Europa ist. Ich denke nicht, daß die Liberalisierung zu einer kompletten Vereinheitlichung führt, sondern zu Verträgen der Postverwaltungen (PTTs), wie über Grenzen hinweg kommunizierende Kunden zu bedienen sind. Das zu erleichtern, ist der eigentliche Sinn dieses europäischen Liberaliserungs-Prozesses. Wir wollen hier ja keine amerikanischen Verhältnisse etablieren, wo eine nahezu einheitliche Kultur von Boston bis San Franzisko vorherrscht.

Der Trend weist heute in Europa mehr zur Kooperation als zum Wettbewerb, obwohl die PTTs konkurrieren. Das wird dadurch ersichtlich, daß die Gesellschaften untereinander immer mehr Joint-ventures bilden. Es würde auch wenig Sinn machen, wenn jede PTT die Ressourcen im Ausland allein erschließen wollte.

CW: Besteht dann nicht die Gefahr, daß sich die PTTs zu einem Oligopol vereinigen?

Wellhoener: Dafür gibt es kein Indiz, obwohl solche Überlegungen durchaus naheliegen. Aber allein die Tatsache, daß Gesellschaften wie AT&T, US-West oder Nynex ihre Fühler weit nach Europa ausstrecken und sich hier mit ihren Services zu etablieren versuchen, zeigt, wie offen der europäische Markt heute schon ist. Hinzu kommt ein weitere Gesichtspunkt: Die EG will durch ihre Regularien ja vermeiden daß Wälle um Europa gebaut werden. Es wäre geradezu widersinnig, anderen den

Zutritt zu erschweren.

CW: Warum?

Wellhoener: Weil das Angebot für den Endbenutzer erhöht wird und weil das ein Request von weltweit operierenden Unternehmen wie Digtal ist.

CW: Aber die Morgen der PTTs sind dadurch doch gefährdet.

Wellhoener: Sie haben recht. Die traditionelle Basis für die Umsätze der PTTs wird durch die Liberalisierung empfindlich angetastet. Es ist völlig klar, daß in einem Wettbewerbsumfeld die Preise sinken. Das ist auch das Ziel der EG-Kommission. Die heutigen standardisierten Netzdienste wie das einfache Telefon müssen einfach billiger werden, speziell die Ferngespräche. Ich empfinde es als absolut widersinnig, wenn ein durch AT&T über New York nach Italien vermitteltes Telefonat billiger ist, als ein Direktgespräch zwischen Deutschland und Italien.

Die Erosion dieser traditionellen Umsatzbasis führt natürlich dazu, daß in den PTTs jetzt fieberhaft überlegt wird, wie ein wachsendes Umsatzvolumen weiterhin sichergestellt werden kann. Dieses Ziel ist nur durch bessere und weitergestreute Services sowie neue Geschäfte und nur um den Preis des Wettbewerbs zu erreichen.

CW: Welche Fehler sollten die Europäer bei Liberalisierung nicht machen, die den Amerikanern unterlaufen sind?

Wellhoener: Die Liberalisierung in den USA ist jetzt fast sechs Jahre alt und es liegen genügend Erfahrungswerte vor. Es war ein Fehler, den lokalen Gesellschaften in ihren regionalen Territorien das Monopol zu belassen, deren Geschäft aber auf diese Gebiete zu begrenzen. Ich sehe keinen Sinn darin, durch eine Liberalisierung monopolistisches Verhalten zu unterstützen. In Europa sind dagegen die Voraussetzungen gegeben, alle Services frei anzubieten.

CW: Kommen wir auf Digital zurück. Ich habe den Eindruck, daß in der Bundesrepublik die Begriffe Telekommunikation und DEC nicht in Einklang gebracht werden. Den Ton geben die Hoflieferanten der Bundespost Siemens, SEL und Philips mit ihrer Vermittlungstechnik an.

Wellhoener: Es ist richtig, daß wir hierzulande mit der Telekommunikation kaum in Zusammenhang gebracht werden obwohl Digital immerhin 1,2 Milliarden Dollar Umsatz mit diesem Geschäft macht.

CW: Das ist in der Öffentlichkeit aber nicht bekannt.

Wellhoener: Das ist tatsächlich nicht bekannt, aber auf der anderen Seite muß man auch zugeben, und sie sagen das völlig zu recht, die Haus- und Hoflieferanten sind andere. Es sind die Lieferanten der Vermittlungstechnik, die in den vergangenen hundert Jahren einen festen, fast zugesagten Anteil an dem Geschäft der PTTs hatten. Das ist jetzt aber aus zwei Gründen vorbei: Erstens können diese Hoflieferanten nicht mehr alles liefern, was die Bundespost braucht. Zu den traditionellen Switch-Herstellern als Lieferanten der PTTs kommen mehr und mehr die Computer-Hersteller mit ihrem eigenen komplementären Know-how und Produktangebot hinzu. Durch die Vereinigung mit der Technik der Switch-Vendors wird ein Produktangebot für die Endbenutzer geschaffen, das deren weltweite Kommunikaitionsbedürfnisse tadellos befriedigt.

CW: Welche Probleme haben Sie, die Telekommunikation bei Digital salonfähig zu machen?

Wellhoener: Ich hatte bisher das Problem, daß der Voice-Bereich bei Digital nicht richtig verinnerlicht war, weil wir eben aus der Datenkommunikation kommen. Mit der Etablierung dieses Bereiches ist aber eindeutig fixiert, daß die Telekommunikation ein gleichgewichtiger Partner zur Datekommunikation ist. Der Unterschied liegt darin, daß der TK-Bereich eine Kunden-orientierte Organisation also vertikal ausgerichtet ist. Networking ist dagegen horizontal orientiert, weil es als Produktbereich alle Business Units gleichermaßen bedient.

CW: Wie sieht die Philosophie von DEC im TK-Geschäft aus?

Wellhoener: Im Prinzip versuchen wir, uns als wirklicher Partner der TK-Gesellschaften zu positionieren und nicht als reiner Lieferant von Hard- und Software. Partner in dem Sinne, daß wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, die weit über das Lieferantenverhältnis hinausgeht. Ein Beispiel ist D1. Der Erfolg oder Mißerfolg der Bundespost im Mobilfunk im Wettbewerb mit dem D2-Konsortium hängt davon ab, ob wir in der Lage sind, bereitzustellen und zu koordinieren, was wir versprochen haben. Unsere Maxime ist, den Kunden in seinem Markt erfolgreich zu machen.

Der zweite Punkt ist, daß Digital um keinen Preis in den Wettbewerb mit seinen eigenen Kunden tritt. Das wirkt sich insbesondere im Bereich der Value Added Networks aus, wo wir uns als ein Anbieter verstehen, der sowohl seine Kunden wie auch die TK-Gesellschaften mit seinem Know-how und Hilfmitteln in die Lage versetzt, VANs aufzubauen und Services dafür zu liefern. Aber wir werden unter keinen Umständen in dieses Geschäft einsteigen und den PTTs Konkurrenz machen.

CW: DEC wird also in Zukunft als Lieferant von Rechnern und Applikation im Bereich Telekommunikation auftreten.

Wellhoener: Ja, speziell Applikationen, die auf das Netzwerk aufgesetzt werden. Künftig wird es mehr und mehr Kundengruppen geben, die spezifische Services haben wollen. Je mehr solche Dienste gefragt und angeboten werden, desto deutlicher wird, welche Rolle die Computer in diesem Zusammenhang spielen. Darauf werden wir uns konzentrieren.

CW: Für Digital kommt also der Erwerb von Switch-Know-how durch Aufkauf nicht in Frage?

Wellhoener: Wir sind überzeugt, daß ein deutlicher Unterschied zwischen der TK- und Computer-Industrie besteht. Alle TK-Gesellschaften, insbesondere Equipment-Hersteller die versucht haben, ins Computer-Geschäft einzusteigen, sind in diesem Business nie glücklich geworden. Das sind nicht nur unterschiedliche Unternehmenskulturen, sondern auch verschiedene geschäftliche Bedingungen, die sich nicht auf einfache Weise vermischen lassen. Ich kann mit einem DV-Gehirn keine TK-Company managen. Es kommt viel mehr darauf an beide Industrien zur Zusammenarbeit zu bringen, zum Nutzen des Endkunden. Wir adressieren nämlich alle den gleichen Endkunden. Wir können phantastisch zusammenarbeiten, wenn wir unsere Stärken gemeinsam in die Waagschale werfen.

Die Switch-Vendors, die versuchen, ihre eigenen Computer zu bauen und damit im wesentlichen beabsichtigen, ihre Netze gegen den Zugriff der Computerhersteller abzuschirmen, konnten ihre Aktivitäten bisher zwar verteidigen, aber ohne wirtschaftlich Tragbaren Erfolg. Ich bin der festen Überzeugung, daß diese Handvoll Hersteller ihre Entwicklungen in den nächsten Jahren einstellen werden, weil sie ökonomisch nicht zu rechtfertigen sind.

CW: Es wird also nie den PBX-Hersteller Digital geben?

Wellhoener: Mit Sicherheit nicht.

CW: Digital ist Hauptauftragnehmer des D1-Mobilfunk-Netzes. Wurde dieser Auftrag in Höhe von 1 Millionen Dollar nur als "Türöffner" für weitere Geschäfte mit der Post angestrebt? Es kursiert nämlich das Gerücht, das Projekt würde sich für Digital nicht rechnen. Außerdem will die D2-Konkurrenz, die Manesmann Mobilfunk GmbH, ihr Netz schon früher in Betrieb nehmen.

Wellhoener: Dl ist für Digital aus mehreren Gründen ein ausgesprochen wichtiges und interessantes Projekt. Erstens ist es der erste Großauftrag der Bundespost an Digital. Zweites ist es der Beweis für unsere Fähigkeiten im Mobilfunk. Der dritte Punkt geht auf die bisher einmalige und kuriose Situation zurück, daß ein identisches Projekt zweimal realisiert wird.

Nun hat das D2-Konsortium, wahrscheinlich um den Markt anzuheizen, angekündigt, es werde sein Netz vor uns in Betrieb nehmen. Da steckt natürlich Marketing und Spielergeist dahinter. Wir haben der Telekom auf deren Anfrage zugesagt, das D1-Netz vorzeitig zu starten. Allerdings mit Beschränkungen bei der Verfügbarkeit des vollen Services. Wir werden eine Einführung in mehreren Stufen durchfuhren. Was die Profitabilität dieses Auftrags angeht, wissen Sie, daß Großprojekte immer mit Risiken verbunden sind. Ich kann heute keines dieser Risiken abschätzen und ein endgültiges Statement abgeben. Wenn DEC von der Rentabilität nicht überzeugt gewesen wäre, hätten wir die Finger davon gelassen.

CW: Ist es denkbar, daß Folgeaufträge kommen?

Wellhoener: Einer dieser Folgeaufträge ist ja schon erteilt worden, nämlich die Ausdehnung des D1-Netzes auf die DDR.

CW: Hat Digital in TK-Großprojekten wie D1 überhaupt Erfahrung?

Wellhoener: Für Digital ist das Großsystem-Geschäft zwar relativ jung, aber wir haben inzwischen einschlägige Erfahrungen mit Großprojekten in allen Teilen der Welt. Ich gestehe jedoch, daß ein Projekt wie D1 mit über 100 Millionen Dollar Auftragsvolumen schon eine Ausnahme ist.

CW: Wie bringt Digital die weltweit verschiedenen Schnittstellen unter einen Hut?

Wellhoener: Ich bin der Meinung, daß die Technologie nicht die treibende Kraft sein darf, sondern der Kundenbedarf. Der ist in Hongkong, New York oder Berlin nahezu identisch. Die PTTs stehen jetzt vor der Aufgabe, wie sie diese Kundenforderungen einheitlich befriedigen können. Sie sind also zu Kooperationen gezwungen. Wenn sie sich heute die Standardisierungsgremien ansehen, sitzen da nicht nur die DV-Hersteller und Anwender, sondern auch die Switch-Vendors und PTTs. Die müssen genauso wie wir das Einmaleins von OSI lernen. Die ganze innere Organisation der PTTs muß sich mehr am Kunden orientieren und das treibt in Richtung Harmonisierung der Schnittstellen.

CW: Digital hat erkannt, daß der Trend von proprietären Systemen zu offenen Systemen geht und deshalb das Konzept des Network Application Support entwickelt. Was steckt dahinter?

Wellhoener: Das Problem, das mit NAS adressiert wird, ist das Problem der Interoperabilität. Standards und Schnittstellen sind ja ganz schön, aber der entscheidende Punkt ist, daß die Systeme, die in einem Gesamtkomplex verbunden werden, miteinander arbeiten können, als wären sie ein System. Davon sind wir noch weit entfernt.

Unser Ansatz ist, zu versuchen, die Diskussion von der Betriebssystem-Ebene wegzubringen. Der Streit darum, ob Unix diese Standardisierung bringt oder nicht, ist eine Scheindiskussion, denn bei den Betriebssystemen ist Interoperabilität nicht zu erreichen. Das geht nur über die Ebene der Anwendungen. Um da einen konstruktiven Beitrag zu leisten, haben wir NAS konzipiert. NAS ist der Versuch, eine Schnittstelle zu definieren, die sehr reich an Services ist und erlaubt, auf unterschiedlichen Netzwerken und Systemen unterschiedliche Applikationen zu fahren.

CW: Kollidiert Decnet Phase V mit NAS oder ist es Bestandteil davon?

Wellhoeuer: NAS ist ein Layer über Decnet. Wir fächern das OSI-Modell noch ein bißchen mehr auf, um für jeden Layer ein Tool zu schaffen.

CW: Allein mit dem Verkauf von Rechnern ist es heute nicht mehr getan. Welche Rolle spielt der Aspekt Dienstleistung im Konzept von Digital?

Wellhoener: Über die vergangenen Jahre ist der Anteil unseres Geschäfts aus dem Dienstleistungs-Sektor schon kontinuierlich gestiegen. Den Unterschied macht heute die Beherrschung komplexen Integrationsprobleme, die der Kunde allein nicht lösen kann, aus.

CW: Sie sagen, Digital werde im Laufe der 90er Jahre 50 Prozent seines Umsatzes mit Networking machen. Was deutet darauf hin?

Wellhoener: In Unternehmen wird das sogenannte Corporate Backbone Network immer mehr als das Mittel gesehen, die Integration der Systeme zu bewerkstelligen. Es werden also intelligente Netze gebraucht und da haben wir einen enormen Erfahrungsschatz, der konsequent auf die Bereiche Wide Area Networking und Voice-Integration ausgeweitet wird.

CW: Heißt das, Sie wollen Kunden Kapazitäten Ihres unternehmensweiten Netzes "Easynet" zur Verfügung stellen.

Wellhoener: Absolut nicht, denn dann würden wir in Wettbewerb mit unseren eigenen Kunden treten. Aber jedes Unternehmen, das ein Corporate Network will, kann sich auf unsere Erfahrung stützen. Wir sind in der Lage, ein solches Netz für den Kunden zu organisieren und zu managen.

Doch um auf die angesprochenen 50 Prozent zurückzukommen. Informationen rücken immer stärker in den Mittelpunkt des Unternehmensinteresses. Wer also über ein gutes Netz verfügt, hat einen Wettbewerbsvorteil. Deshalb ist weltweit ein enormer Bedarf an Netzen vorhanden, der Grund gibt, positiv in die Zukunft zu blicken. Digital wird alle Anstrengungen unternehmen, um im Netz-Geschäft eine führende Rolle zu spielen. +