E-Learning/Online-Lernen in deutschen Großunternehmen

Die meisten Konzepte greifen nicht

31.05.2002
Knapp die Hälfte der deutschen Großunternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten setzt E-Learning in der betrieblichen Weiterbildung ein; im verarbeitenden Gewerbe finden sich die wenigsten E-Learning-Anwender. Dabei stehen IT-Standardanwendungen mit großem Abstand auf dem ersten Rang, gefolgt von kaufmännischen Fachkompetenzen und Fremdsprachen. Von Michael Haben*

Vor zwei Jahren gehörte E-Learning zur Startup-Szene und wurde von verschiedenen Protagonisten als Lösung vieler Probleme der betrieblichen Weiterbildung gesehen: "E-Learning ist kostengünstig, effizient und flexibel" "Lernmedien können vor, während und nach Seminaren genutzt werden und ebenso am Arbeitsplatz, zu Hause oder unterwegs" "E-Learning bedeutet technologischen Fortschritt und einen Paradigmenwechsel in der Bildungsarbeit" - so lauteten damals die Schlagzeilen. Unternehmen, die sich seit Jahren beharrlich um die Einführung von Lernmedien und geeigneten Lern-Management-Systemen bemühen, wundern sich heute, nach zum Teil schmerzhaften Erfahrungen, wie leicht man seinerzeit von der Euphorie angesteckt wurde.

Fünf Wochen Weiterbildung in zehn Jahren

Wie sieht heute der Bildungsalltag aus? Im Durchschnitt besucht jeder Mitarbeiter deutscher Großunternehmen (ab 1000 Beschäftigte) alle zwei Jahre ein vier- bis fünftägiges Weiterbildungsseminar. In einer zehnjährigen Berufspraxis macht dies ganze fünf Wochen aus - wohl kaum das "lebenslange Lernen", von dem die Bildungspolitiker gern sprechen. Für diese Qualifizierung investieren die Unternehmen pro Jahr und Mitarbeiter 750 bis 1500 Euro, also etwas mehr als ein halbes Monatsgehalt pro Mitarbeiter. Nur etwas mehr als die Hälfte davon fließt tatsächlich in Bildungsveranstaltungen und Medienentwicklung, 43 Prozent werden für Planung, Organisation und Infrastruktur der Aus- und Weiterbildung benötigt - aus Sicht des Unternehmens-Controlling ein viel zu hoher Anteil.

Für welche Themen, Methoden und Inhalte werden die Mittel ausgegeben? Gruppenseminare, Informationsveranstaltungen und Dokumentationen dominieren mit mehr als 80 Prozent die Bildungsangebote. Es herrscht ein durchaus konventioneller Bildungskanon vor, während neue Medien und Technologien - von Lernprogramm-Videos über Knowledge-Management-Systeme - weit unter 50 Prozent liegen. Top-Themen sind IT-Standardanwendungen, kaufmännische Fachinhalte sowie Softskills, die mehr als die Hälfte der Budgets ausmachen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zwischen einzelnen Unternehmen wie im Branchenvergleich große Unterschiede bestehen.

Zudem kann die zentrale Sicht der Personalentwicklung den Blick auf die gesamte Qualifizierungsarbeit auch verkürzen. Die Zuständigkeit für die Mitarbeiterschulung liegt häufig gleichermaßen in den Geschäftsbereichen, der Personalabteilung und bei der Geschäftsführung. Gerade auf der Ebene der Bereiche und Fachabteilungen stehen Prozess- und Produkttraining stärker im Vordergrund, das häufig selbständig und dezentral stattfindet. Leider liegen für diesen Teil der Bildungsarbeit keine repräsentativen Zahlen vor, so dass man bei einem Vergleich vorsichtig sein muss. Insgesamt bleibt aber fraglich, ob die skizzierte "Lernkultur" mit der Unternehmensentwicklung Schritt halten kann. Als wesentliche Herausforderungen der kommenden Jahre werden "die sich laufend erweiternde Fachausbildung", die "schnell wechselnden Produktinformationen" und die "Mitarbeiterbindung" genannt. Wie steht es mit dem Einsatz von neuen Medien und der Erweiterung der Qualifizierungsangebote durch E-Learning-Anwendungen? Ist die Mehrheit der deutschen Großunternehmen "drin" - oder gibt es Nachholbedarf? Entgegen vieler Einschätzungen, die allerdings zumeist auf einer geringeren Datenbasis beruhen, geben nur 46 Prozent der befragten Unternehmen an, E-Learning zu nutzen. Elf Prozent planen den Einsatz für die nächste Zeit, 18 Prozent tragen sich mit dem Gedanken, ohne eine konkrete Entscheidung getroffen zu haben. 25 Prozent geben an, dass dies für sie in absehbarer Zeit kein Thema sein wird.

Dienstreisen als Anreiz für Mitarbeiter

E-Learning einzusetzen besagt nicht, dass dies unternehmensweit erfolgt. 18,4 Prozent der Mitarbeiter könnten mit Lernsystemen oder Lernprogrammen arbeiten, davon macht aber nur knapp die Hälfte wirklich Gebrauch. Das liegt, so die Erfahrungen von KPMG, auch daran, dass externe Seminare ein "Incentive" darstellen: Dienstreise, Hotelübernachtung, zusätzliche Austauschmöglichkeiten und eine "geschützte Lernsituation", darauf will man nicht gern verzichten. Somit erreichen die E-Learning-Anwendungen faktisch nur knapp jeden zehnten Beschäftigten. Unternehmen, die diesen Anteil erhöhen wollen, tun gut daran, auch auf dieser Ebene über Alternativen nachzudenken - was angesichts der Kostensituation kein leichtes Unterfangen ist: 12,2 Prozent des Gesamtbudgets werden derzeit für E-Learning verbraucht. Bei einer faktischen Zielgruppe von zehn Prozent der Mitarbeiter, die auch andere Qualifizierungsangebote wahrnehmen, müssen E-Learning-Maßnahmen als verhältnismäßig teuer bewerten werden.

Banken und Versicherungen als Vorreiter

E-Learning-Inhalte sind deutlich auf IT-Aspekte konzentriert: Als Spitzenreiter werden IT-Standardanwendungen genannt, und erst mit großem Abstand folgen kaufmännische Fachkompetenzen, Fremdsprachen und Produktschulungen. Diese Angaben decken sich nur zum Teil mit den Anlässen und Motiven, die bei E-Learning-Einführungen eine maßgebliche Rolle gespielt haben: Mit 60 Prozent wird analog zur allgemeinen Bildungsanforderung ein "schnelles Update für Fach-Know-how" genannt, gefolgt von "Einführung neuer Software" und "Training als Massengeschäft", was unter dem IT-Blickwinkel oft das Gleiche ist.

Das eher nüchterne Bild der E-Learning-Landschaft kennt aber auch positive Beispiele:

-Einige Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern mehr als 10000 Lernobjekte an, was einer übergreifenden Lernbibliothek entspricht. Ein Problem stellt hier das Update der Module dar, wenn diese auf einer einheitlichen technologischen Basis bereitgestellt werden sollen.

-Ein Teil der Unternehmen verfügt über eine eigene profitable Produktionsabteilung von Lernmedien, die pro Jahr Inhalte im Umfang von 25 Seminareinheiten und mehr entwickeln.

-Im Kredit- und Versicherungsgewerbe decken Lernprogramme knapp zwei Drittel der kaufmännischen Schulungsthemen und mehr als die Hälfte Produktschulungen ab.

-In bestimmten Unternehmen konnte mit Hilfe von E-Learning die Erfolgsquote bei der beruflichen Fachausbildung erheblich gesteigert werden.

Als wesentliches Kriterium für den Erfolg von E-Learning wird häufig das Modell des "Blended Learning" angeführt, also die Integration von Präsenzschulung und E-Learning, damit die Vorteile beider Methoden optimal zum Einsatz kommen können. Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis "konventionelle" Lernformen und E-Learning zueinander stehen. Bei der Planung - manchmal auch in der Theorie - spielen integrierte Konzepte, bei denen E-Learning "zur Vertiefung parallel zu Seminaren" oder "zur Vor- und Nachbereitung" eingesetzt wird, eine wichtige Rolle. In der Praxis sieht es oft anders aus: Nur 28 Prozent der E-Learning-Anwender geben an, über ein integriertes Konzept zu verfügen. Jeder, der die Projektbedingungen bei der Trainingskonzeption wie bei der Lernmedienentwicklung kennt, weiß, dass Präsenzschulung und E-Learning häufig nebeneinander her arbeiten.

Viele Implementierungsprozesse zeigen, dass E-Learning-Entwicklungen bislang oft einen Sonderprojektstatus haben und die Erfahrungen vieler Unternehmen noch nicht ausreichen, Schwierigkeiten professionell zu lösen. Es werden Projektlaufzeiten von mehr als 15 Monaten angegeben, und es wird immer wieder auf technische Schwierigkeiten, die nicht unbedingt zum eigenen Metier gehören, hingewiesen.

Gleichzeitig ist von komplexen Projektstrukturen die Rede - häufig sind neben der Fachabteilung und der Aus- und Weiterbildung auch die IT-Systemverwaltung und die Geschäftsleitung sowie Dienstleister eingebunden -, und es werden Ressourcenengpässe festgestellt. Daraus darf gefolgert werden, dass viele Projekte einen hohen Spielraum für Verbesserungen aufweisen.

Oft steckt die Tücke im Detail. Unternehmen bauen in zweiter und dritter Ebene ein Fach-Know-how auf, um in Zukunft die Probleme kompetent lösen zu können. Bereits heute wäre es eine Verfälschung, wenn insgesamt ein Misserfolg der bestehenden Projekte konstatiert würde. Vielmehr werden die Erwartungen an E-Learning zu 80 Prozent erfüllt, wobei die Aspekte "flexibles und individuelles Lernen" sowie "Zeitersparnis" am besten abschneiden.

Berücksichtigt man zudem, dass es sich bei E-Learning um die Einführung einer neuen Qualifizierungsmethode verbunden mit einer neuen Technologie handelt, so sind diese Ergebnisse sogar als Erfolg zu werten. Nicht zuletzt aus diesem Grund planen die von KPMG befragten Großunternehmen, ihren Anteil an E-Learning in den kommenden drei Jahren um gut 100 Prozent aufzustocken. (hk)

*Michael Haben ist Berater bei KPMG.

Angeklickt

Wie ist E-Learning in die Aus- und Weiterbildung integriert? Welche Probleme treten beim Konzeptionieren und Implementieren von E-Learning-Maßnahmen auf? Wie steht der konventionelle Schulungs- und Seminarbetrieb zu den neuen Medien? Diesen Fragen ist KPMG Consulting in der Studie "New Learning in deutschen Großunternehmen" nachgegangen, bei der bundesweit über 600 Personalverantwortliche in Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten befragt wurden.

Abb.1: Was soll E-Learning bringen?

E-Learning ist schnell, billiger und effektiver - so der Slogan vieler Anbieter. Die Lernenden sehen jedoch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zum Teil große Lücken. Quelle: MMB/PSEPHOS "New Learning in deutschen Großunternehmen"

Abb.2: Themen in der betrieblichen Qualifizierung

IT-Standardanwendungen werden mit Abstand am häufigsten per Web geschult. Quelle: MMB/PSEPHOS "New Learning in deutschen Großunternehmen"