Problem 2000/Off-shore-programming: Indische Firmen bieten sich als Retter an

Die Lösung könnte - buchstäblich - in weiter Ferne liegen

31.10.1997

Viele Unternehmen können das Problem 2000 kaum noch aus eigener Kraft in den Griff bekommen: Ein großer Teil ihrer personellen Ressourcen würde für die Anpassung absorbiert, notwendige Neuentwicklungen müßten auf der Strecke bleiben. Angesichts des Termindrucks und des Personalmangels steigen die Stundensätze für Programmierer mit Wissen über alte Systeme bereits spürbar.

Die Suche nach auswärtiger Hilfe als Lösungsmöglichkeit drängt sich somit geradezu auf. Seit einiger Zeit rückt Indien als mögliche Option ins Blickfeld. Warum ausgerechnet die ehemalige englische Kronkolonie?

Das Land verfügt über eine außerordentlich hohe Zahl qualifizierter DV-Spezialisten. Jedes Jahr verlassen etwa 15000 ausgebildete Informatiker, vor allem Softwarespezialisten, die Hochschulen.

Die indische Software-Industrie versorgt viele "Fortune-500"-Firmen mit Services und Lösungen. Das Angebot machen sich auch zahlreiche bekannte Namen der DV-Branche zunutze. Beispiele sind IBM, Microsoft, No- vell, Oracle, AT&T, Fujitsu, Motorola, Computervision, Digital Equipment, Hewlett-Packard, Texas Instruments etc.

Die Qualität und Reife der indischen Software-Industrie läßt sich auch an der Tatsache ablesen, daß schon 50 indische Softwarefirmen die ISO-9000-Zertifizierung erworben haben und weitere 55 auf dem Weg dahin sind. Bald wird die indische Software-Industrie einen der größten Anteile an Firmen mit der ISO 9000 in der Welt aufweisen. Den bekannt kostenbewußten japanischen Unternehmen ist die Qualität inzwischen das Hauptargument für indische Software. Das Preis-Leistungs-Verhältnis indischer Software-Anbieter ist im internationalen Vergleich immer noch recht günstig.

Speziell für die Umstellung auf das Jahr 2000 bieten die indischen Softwarehäuser besondere Qualifikationen: Weil die bisherigen Auftraggeber aus den Industrieländern die reizvollsten Projekte, nämlich die mit modernsten Methoden und Techniken, vorzugsweise selbst gemacht haben, mußten sich indische Anbieter bescheiden.

Indische Firmen haben bisher oft Projektteile übernommen, die nicht State of the art waren, sondern häufig auch Wartungsaufgaben an Legacy-Programmen umfaßten. Das war meistens bei bisherigen Arbeiten im Rahmen von Umstellungen von zwei- auf vierstellige Jahreszahlen der Fall. Viele indische Programmierer haben in den USA gearbeitet und einschlägige Erfahrungen gesammelt, die für neue Auftraggeber sehr wertvoll sein könnten.

Umstellungsprojekte haben bereits in hohem Maße indische Software-Exporte gesteigert: Bis Juni 1997 haben indische Firmen Aufträge im Wert von über 700 Millionen Dollar erhalten. Der Dachverband der indischen Softwarefirmen (Nasscom) hat eine Special Interest Group zum Problem 2000 gegründet, der über 50 Firmen angehören, die entweder über entsprechende Tools verfügen oder spezielle Lösungen anbieten.

Fast jede Firma aus den Top ten der indischen Software-Industrie tüftelt an einem ausländischen Jahr-2000-Projekt. Tata Consultancy Services zum Beispiel, die größte Programmierschmiede des Subkontinents, arbeitet derzeit schon an zehn Projekten und wird weitere übernehmen. Ein anderer Big Player, Satyam Computer Services aus Hyderabad, sieht sich wegen des Jahr-2000-Booms veranlaßt, die Zahl seiner Softwarespezialisten zu verdoppeln. Ashok Leyland Information Technology Ltd. (ALIT) aus Bangalore hat eigene Tools entwickelt, als Werkzeuge aus den Industrieländern an ihre Grenzen stießen.

Aber nicht nur die großen Unternehmen, sondern auch mittlere und kleinere, zum Teil sehr leistungsfähige Firmen hat das Umstellungsfieber gepackt. Eine davon ist die Phoenix Software Ltd. aus Kalkutta, die sich auf AS/400-Umgebungen spezializiert hat. Natürlich spekulieren viele dieser Firmen darauf, durch Jahr-2000-Lösungen weitere Aufträge zu erhalten.

Das Angebot kommt aus einen Land mit politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Stabilität. Indien ist eine parlamentarische Demokratie mit einem gesicherten Rechtssystem, einem pulsierenden Kapitalmarkt und einem ausgereiften Wirtschaftssystem. Strenge Copyright-Gesetze schützen das geistige Eigentum, was gerade im Softwarebereich von besonderer Bedeutung ist.

Aufgrund der langen Tradition seiner Verbindungen mit Europa, auch mit Deutschland, sind indische DV-Firmen gut vertraut mit der europäischen Denkweise und Arbeitsethik. Das bedeutet einen großen Vorteil gegenüber anderen asiatischen Anbietern.

Außerdem unterstützt die indische Regierung die nationale DV-Industrie. Im Haushaltsplan 1997/98 sind Maßnahmen zur Förderung der Informationstechnologie (IT) vorgesehen, die sich positiv auf Joint-ventures oder auf ausländische Firmen, die eigene Niederlassungen in Indien gründen wollen, auswirken. Die Einfuhrzölle sollen weiter gesenkt und Zollabgaben für Software sogar ganz entfallen. Außerdem hat sich Indien dem Information Technology Agreement (ITA) der Welthandelsorganisation WTO angeschlossen, das zum Ziel hat, den internationalen Austausch von IT-Produkten zu liberalisieren.

Zugegeben: Es mag ernstzunehmende Bedenken gegen eine Zusammenarbeit mit indischen Softwarehäusern geben. Manche Skeptiker wenden ein, daß Sprachprobleme einer engeren Zusammenarbeit zwischen deutschen und indischen Firmen im Wege stehen könnten. Doch im DV-Bereich mit seinem Lingua Franca Englisch kann dieses Argument kaum gegen indische Anbieter sprechen.

Andere Kritikaster befürchten, daß es in Sachen Datenübermittlung zu technischen oder Kostenproblemen kommen könnte. Schon seit einiger Zeit bestehen zuverlässige High-speed-Datenverbindungen mit Indien, sowohl über interkontinentale Fibre-Optik-Leitungen als auch über Satellit.

Die Kosten für eine 64-Kbit/s-Satellitenverbindung zwischen Deutschland und Indien betragen beispielsweise zur Zeit etwa 220000 Mark pro Jahr. Das ist im Verhältnis zum Gesamtaufwand sehr wenig. Hier hat sich ausgewirkt, daß sich neben der Deutschen Telekom jetzt ein weiterer kompetenter Anbieter für die Satellitenkommunikation mit der indischen Monopolgesellschaft Videsh Sanchar Nigam Ltd. (VSNL) etabliert hat: die Firma Spaceline Communication Services GmbH aus Düsseldorf.

Im Bereich der Datenkommunikation ist eine rapide Entwicklung zu beobachten. Während indische Softwarefirmen 1992 erst drei High-speed-Datacom-Verbindungen nutzten, sind es inzwischen 525, Tendenz steigend. Und die bisherigen Erfahrungen sind ermutigend.

So hat beispielsweise Texas Instruments (TI) damit begonnen, schrittweise die gesamte Software-Entwicklung nach Bangalore zu verlegen. Die Programmierer dort sind per Satellit mit den TI-Mainframes in den USA verbunden. Dabei lassen sich die teuren Großrechner wegen der Zeitverschiebung sogar noch besser auslasten, was auch für deutsche Auftraggeber von Nutzen wäre, allerdings in geringerem Umfang.

Die Besorgnis, daß die indischen Erfahrungen mit Tools aus anderen Ländern, vor allem aus den USA und England, nicht ohne weiteres auf Spezifika der hierzulande verbreiteten Softwerkzeuge übertragbar seien, ist ebenso weitgehend unbegründet. Es gibt genügend indische Spezialisten, die Erfahrung mit deutschen Tools haben. Außerdem sind auch schon viele deutsche Firmen in Indien vertreten, die dort ihre Software einsetzen, zum Beispiel Siemens-Nixdorf, Lufthansa, Deutsche Bank etc.

Die Befürchtung, daß durch den Einsatz billigerer Arbeitskräfte aus Indien Arbeitsplätze für deutsche Programmierer verlorengehen, ist vor dem Hintergrund der aktuellen Arbeitsmarktlage in Deutschland zwar verständlich, aber dennoch zu entkräften. Erstens gibt es für die Umstellung auf das Jahr 2000 ohnehin nicht genügend Kapazitäten im Inland. Schon aus diesem Grund ist externe Hilfe unumgänglich.

Und zweitens besteht wegen der sehr restriktiven Erteilung von Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen nach deutschem und EU-Recht kaum die Gefahr, daß indische Fachkräfte in nennenswerter Zahl dauerhaft ins Land kommen könnten. Befristete Arbeitserlaubnisse sind in dieser Branche nicht problematisch. Gegenwärtig startende Jahr-2000-Projekte haben eine Laufzeit von höchstens drei Jahren.

Man sollte nicht nur von Globalisierung schwadronieren. Auf dem Softwaremarkt ist sie ohnehin nicht mehr aufzuhalten, sondern vielfach längst Realität. Und sie bietet allen Beteiligten Chancen für größere Märkte. Die SAP AG aus Walldorf hat beispielsweise vor kurzem eine eigene Niederlassung im Information Technology Park bei Bangalore gegründet, deren Aufgabe Forschung und Entwicklung sowie technischer Service im gesamten asiatischen Markt umfaßt.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie weit die deutsch-indische Zusammenarbeit schon gediehen ist, zeigt die Wiesbadener Firma Case Consult. Der "Wiesbadener Kurier" berichtete am 31. Oktober 1996: "Großaufträge kann das Unternehmen nur deshalb abwickeln, weil es eine Niederlassung im indischen Trivandrum betreibt. Dort sind ungefähr 100 Mitarbeiter für die Wiesbadener tätig. Sie arbeiten über eine Satellitenstandleitung von Asien aus direkt an den Rechnersystemen der Kunden in ganz Deutschland.

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Der Temin rückt näher, und es fehlt allenthalben an Personal. Die jüngere Generation an DV-Fachkräften ist auf neue Entwicklungsumgebungen spezialisiert; sie haben keine Erfahrung mit alten und verworrenen Assembler-Routinen und Programmiersprachen. Ältere Programmierer, die schon längere Zeit aus dem Geschäft ausgestiegen sind, lassen sich nur schwer reaktivieren. Ein Ausweg aus dem Dilemma: Indische Softwarehäuser könnten in Off-shore-Projekten zumindest einen Teil der Umstellungsarbeiten erledigen. Der Autor setzt sich auch mit den Argumenten der Skeptiker auseinander.

*Surya Kumar Bose ist Gründer der Firma Bose Information Technology in Hamburg und bereit, Interessenten über indische Softwarehäuser zu informieren und Kontakte herzustellen.