Wirtschaftskriminalität

Die Jäger der Wirtschaftsbosse

22.05.2013
Von Jürgen Berke, Harald Schumacher, Martin Seiwert und Melanie Bergermann

Overkill: Der Fall Friedrich

Einen Fall von Ermittlungs-Overkill erlebte Harald Friedrich. Ob der 60-Jährige, der heute freiberuflicher Umwelt-Gutachter ist, Opfer einer politischen Intrige war oder im Wuppertaler Oberstaatsanwalt Ralf Meyer bloß den falschen Gegner hatte, wird wohl nie geklärt werden. Jedenfalls war Friedrich vor sechs Jahren noch grüner Abteilungsleiter im damals christdemokratisch geführten NRW-Umweltministerium. Im Gegensatz zu seinem Minister Eckhard Uhlenberg forderte er wegen der Wasserbelastung mit der Chemikalie PFT eine Nachrüstung der Wasserwerke an der Ruhr. Dann kosteten ihn 2006 plötzlich massive Vorwürfe den Job. Wegen Korruption, Betrug und Untreue wurde gegen Friedrich ermittelt. Angeblicher Schaden für das Land: 4,3 Millionen Euro.

Staatsanwalt Meyer ließ 275 Polizeibeamte 45 Wohnungen in drei Bundesländern durchsuchen, mehr als 1.000 Telefongespräche abhören und steckte Friedrich 22 Tage in Untersuchungshaft. Sämtliche Vorwürfe mussten auf Weisung der Staatsanwaltschaft eingestellt werden. Doch Meyer suchte immer neue Angriffspunkte. Nach gut drei Jahren Ermittlungsqual ging es noch um 40 keineswegs teure Arbeitsessen - unter anderem Salatteller und Currywurst -, zu denen sich Friedrich hatte einladen lassen. Gegen 700 Euro Geldauflage wurden die Ermittlungen eingestellt - Friedrich zahlte, "auch wenn diese Geldbuße nur dazu dient, dass Staatsanwalt Meyer sein Gesicht wahren kann".

Der Düsseldorfer Generalstaatsanwalt Gregor Steinforth, der mehrfach versucht hatte, die Wuppertaler zu stoppen, weil er unter anderem "Sensibilität und Fingerspitzengefühl" vermisste, erklärte in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss das Vorgehen seines Kollegen mit einem "Tunnelblick". Das Phänomen kenne er selbst aus seiner Zeit in der großen Wirtschaftsabteilung, sagte Steinforth: "Da bearbeitet man ein einziges Ermittlungsverfahren nicht nur über Monate, sondern über Jahre hinweg." Und dabei komme es halt "gelegentlich vor - und das dürfen Sie niemandem verübeln und auch niemandem zum Vorwurf machen -, dass man den Tunnelblick bekommt".

Langsam: Der Fall Winkelmann

Ob es daran auch im Fall von Michael Winkelmann lag? Dessen Justiz-Martyrium dauerte von 2004 bis 2010.

2002 geriet die Frankfurter Sparkasse (Fraspa) in Schwierigkeiten, weil sie faule Kredite in den Büchern hatte. Winkelmann, seit vier Jahren Firmenkunden-Vorstand, gab 2004 seinen Posten auf, als der Verwaltungsrat ihm signalisierte, dass man seinen Vertrag nicht verlängern werde. Kurz darauf wurden Winkelmanns Vorstandskollegen auf Druck der Finanzaufsicht BaFin gefeuert. Im November 2004 erstattete die Behörde Strafanzeige gegen alle ehemaligen Vorstände. Sie sollten der Prüfstelle des Sparkassenverbands Hessen-Thüringen, die die Bilanzen checkt, wichtige Unterlagen vorenthalten haben, um so zu verdecken, dass es um einige Kredite viel schlechter stand als dargestellt.

Die Staatsanwaltschaft ermittelte, befragte Zeugen. Aber erst eineinhalb Jahre nach der BaFin-Anzeige, im Juni 2006, lag den Ermittlern ein Gutachten vor, das die Beschuldigten entlastete: Die Kreditbewertungen waren vertretbar, der Prüfungsverband hatte alle notwendigen Unterlagen. Bis dahin wurde die Zeit für Winkelmann und seine Frau Ursula zum Spießrutenlauf. Fragen von Bekannten, verletzende Bemerkungen gegenüber der Tochter, und Winkelmann findet keinen Job: "Solange die Ermittlung lief, wollte mich keiner." Denn die Affäre war öffentlich, "Bild" titelte im Sommer 2005: "Razzia in der Fraspa und den Chef-Villen. Bilanzfälschung, Untreue. Wie schuldig sind diese Ex-Vorstände?" Winkelmanns Foto am rechten Zeitungsrand maß 9,5 Zentimeter.

Wiederum ein Jahr nach Vorlage des Gutachtens dauerte es, bis die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellte - und ein weiteres folgte, diesmal wegen des Verdachts der Untreue. Die Staatsanwaltschaft nahm sieben Kreditengagements unter die Lupe. Winkelmann sollte unter anderem den Kredit für eine Einkaufspromenade nicht wie vom Vorstand beschlossen gekündigt haben. Im September 2007 wurde ein Gutachter beauftragt. Der sollte klären, ob Winkelmann der Sparkasse vorsätzlich geschadet hatte. Der Gutachter wartete fünf Monate auf Kreditunterlagen der Sparkasse. Seine Ergebnisse, die Winkelmann schließlich entlasteten, trudelten dann nach und nach ein. Der Angeklagte hatte das Recht, zu jedem Teilergebnis eine Stellungnahme abzugeben. Es wurden Zeugen gehört. Bis das Verfahren im Februar 2010 eingestellt wurde, vergingen zwei Jahre.

Fünf Staatsanwälte waren im Laufe der Jahre mit beiden Fällen befasst. Zwei Staatsanwältinnen gingen in Mutterschutz, ein Kollege wurde befördert – und die Neuen mussten sich erst einarbeiten. Allein die Gutachten haben die hessischen Steuerzahler 450.000 Euro gekostet. Als das Ganze 2010 ein Ende hat, ist Winkelmann juristisch rehabilitiert, aber 57 Jahre und damit "zu alt, um noch mal eine Anstellung zu bekommen". Eine Vorstandspension wird er nicht erhalten, dafür war seine Amtszeit zu kurz. Der Banker schlägt sich nun als Berater durch.

Abgeladen: Ordner vor der Tür

Mit dem Aufbau von fast zwei Dutzend Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität und Korruption hat die Justiz in den vergangenen Jahrzehnten versucht, die Strafverfolgung zu verbessern und Verfahren zu beschleunigen. Das System sei im Prinzip gut, meinen Insider, aber es fehle an Staatsanwälten mit Betriebswirtschaftskenntnissen, am Willen der Staatsanwälte, sich über Monate in hoch komplexe internationale Geschäfte einzuarbeiten, und an kompetenten Polizisten, die sie unterstützen.

Bei Ermittlungen wegen Gewaltkriminalität legt die Polizei - wie man es aus dem "Tatort" kennt - dem Staatsanwalt meist fertige Ermittlungsberichte auf den Tisch. Bei Wirtschaftsstraftaten sei der Staatsanwalt bei der Recherche dagegen oft auf sich gestellt, sagt einer von ihnen: "Wenn ich eine Razzia bei einem Unternehmen mache und 300 Aktenordner beschlagnahme, stellt die Polizei sie mir vor das Büro und wünscht mir viel Glück." Deshalb verwundert es nicht, dass die meisten Staatsanwälte nicht in den Wirtschaftsbereich wollen.

Abschreckend dürften für Anwälte mit Wirtschaftskenntnissen auch die Gehälter in der Justiz sein. In großen Wirtschaftskanzleien können sie nach einigen Berufsjahren 150.000 Euro und mehr verdienen, im Staatsdienst gerade mal ein Drittel. Wirtschaftsstaatsanwälte, die große Fälle gewinnen wollen, trifft man oft nachts und am Wochenende in der Behörde an - ohne Mehrgehalt versteht sich. Überstunden sehen die Vergütungstabellen nicht vor.

Bundesweites Vorbild

Für Linderung der Not sollen Wirtschaftsexperten sorgen, die den Staatsanwälten zuarbeiten. Doch dabei handelt es sich häufig um frühere Wirtschaftsprüfer oder Steuerfahnder. "Die können zwar Bilanzen lesen", sagt Ex-Staatsanwalt Karge, "aber echte Wirtschaftskriminalität können sie nicht aufdecken." Besser ist die Lage in Stuttgart, wo fünf Einheiten mit je 20 Wirtschaftsspezialisten der Polizei aufgebaut und den fünf Abteilungen der Wirtschaftsstaatsanwaltschaft zugeordnet wurden. Dieses Modell gilt bundesweit als Vorbild. Verwaltungsirrsinn pur: Im Rahmen einer Neuorganisation der Polizei durch das baden-württembergische Innenministerium droht die Auflösung dieser Polizeieinheiten - und die Staatsanwälte raufen sich die Haare.

Die Steuerfahndungen in Deutschland, sagt Rechtsanwalt Dieter Graefe von der Berliner Kanzlei Wollmann & Partner, seien "viel besser besetzt, weil ihre Betriebsprüfer sichtbar was in die Kasse bringen". Bei Staatsanwälten, so der 76-Jährige, der bis 1998 selbst zur Fahnder-Zunft gehörte, "ist der Ertrag nicht so zählbar und ihr Kampf um Personal ein Trauerspiel".

Hat ein Staatsanwalt trotz aller Hürden ermittelt und Anklage erhoben, kann er noch an einem weiteren Nadelöhr scheitern: an überforderten Richtern. "Wenn ich weiß, dass sich beim Gericht die Fälle auf den Fensterbänken stapeln", sagt ein Staatsanwalt in Nordrhein-Westfalen, "muss ich mir zweimal überlegen, ob Ermittlungen sinnvoll sind. Es hat ja keinen Sinn, dass die Tat verjährt, während die Akte ungeöffnet bei Gericht liegt." Und auch wenn wenige Großverfahren ganze Staatsanwaltschaften lahmlegen, bleiben andere Fälle auf der Strecke.

Blockiert: Der Fall Omega

Dass ehemalige Vorstände der HSH Nordbank mit einem riskanten Investitionsgeschäft namens "Omega 55" 158 Millionen Euro versenkt und sich damit möglicherweise der Untreue im besonders schweren Fall schuldig gemacht haben, hält seit Monaten die Hamburger Justiz in Atem. Die Folgen bekommt jeder in der Hansestadt zu spüren, der mit Wirtschaftsstrafverfahren zu tun hat - als Täter oder als Opfer. Denn Omega ist ein Mammutverfahren. Es soll ans Licht bringen, ob die früheren Vorstände die Risiken hätten erkennen können und einen Schaden für das Kreditinstitut in Kauf nahmen.

Zwei Staatsanwälte, zwei Wirtschaftsreferenten und bis zu 14 Polizisten haben dafür eine ehemalige Polizeiwache in Beschlag genommen, in der sie sich durch die Aktenberge der Bank wühlen. 45 Zeugen wurden in den vergangenen bald dreieinhalb Jahren vernommen, 1100 Mails ausgewertet, und Anfang 2012 wurde Anklage erhoben: gegen Ex-Vorstandschef Dirk Jens Nonnenmacher, seinen Vorgänger Hans Berger und vier weitere Ex-Vorstände. Die Banker bestreiten die Vorwürfe der Fahnder. Ob die Anklage zugelassen wird, ist noch offen.

Die Abteilung von Oberstaatsanwalt Henry Winter hat für Omega keinen zusätzlichen Staatsanwalt bekommen. "Wenn ich am Wochenende mal einen Tag nicht im Büro bin, kann ich schon zufrieden sein", sagt er. Und damit sei er nicht allein. Selbst mit Überstunden lasse sich der normale Betrieb aber nicht am Laufen halten. Andere Fälle seien liegengeblieben, sagt Winter: "Das ist nicht zu verhindern."

Vorteil für Schuldige durch Mangelverwaltung

Besonders schlimm ist das für zu Unrecht Verdächtigte. Er sei sich dessen bewusst, sagt Winter und versteht, wenn Verteidiger Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Staatsanwälte einreichen, weil Verfahren nicht in angemessener Zeit bearbeitet werden können. Ändern kann er an der Lage aber nichts. Und verrückt machen will er sich auch nicht: "Das darf nicht so weit gehen, dass einem die liegengebliebenen Verfahren wie kleine grüne Männchen nachts auf der Bettdecke herumtanzen." Vorteilhaft ist die Mangelverwaltung ausgerechnet für jene, die schuldig sind und später verurteilt werden. Denn "das Strafmaß", so Winter, "schmilzt wie Schnee in der Sonne, je länger ein Verfahren dauert". Ein Teil der Strafe gilt bei der Verurteilung dann bereits als vollstreckt.

Bei Kompetenz und Härte gibt es in den deutschen Staatsanwaltschaften eine breite Spanne. Verdächtige berichten schon mal, Ermittler hätten bei ihnen Computer beschlagnahmt und dann nach den Passwörtern gefragt, weil sie nicht in der Lage gewesen seien, sie zu knacken.

Zu den Stars der deutschen Ermittler-Szene gehört Manfred Nötzel, der in seiner Staatsanwaltschaft München I großkalibrige Fälle wie die Korruptionsaffären von Siemens und MAN juristisch aufarbeitete. Bochums Wirtschaftsstaatsanwaltschaft unter der Regie von Hans-Ulrich Krück hat seit den Ermittlungen gegen Zumwinkel den Ruf, ungnädig mit Wirtschaftspromis umzugehen. Aufsehen erregt auch die Wirtschaftsabteilung der Staatsanwaltschaft Köln unter ihrem Leiter Hanns-Joachim Wolff mit dem Großverfahren um die Bank Sal. Oppenheim. Es kommt aber auch vor, dass Staatsanwälte Ermittlungen aus politischen, karrieretechnischen oder anderen Erwägungen ausbremsen. So dürfen in Bonn Vertreter großer Konzerne auf schonenderen Umgang hoffen.