Die Informationsflut löst den Informationsschock aus

01.06.1979

Mit Prof. Dr. Norbert Szyperski, Direktor am Betriebswirtschaftlichen Institut für Organisation und Automation (BIFOA) an der Universität zu Köln, sprach Elmar Elmauer

- Herr Professor Szyperski, Sie haben das Thema "Produktivitätssteigerung durch Bürosysteme der Zukunft" mit dem Hinweis auf die rasante technologische Entwicklung auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationssysteme angerissen. Ist die Produktivität einer Unternehmung also vom physikalischen Vorhandensein einer Informationstechnologie abhängig?

Ich glaube, man sollte davon ausgehen, daß der Durchdringungsgrad der Anwendungsgebiete in der normalen Unternehmung trotz der Datenverarbeitung noch relativ gering ist. Man schätzt, daß die Unternehmungen, die im Rahmen ihrer Branche jeweils führend in der Anwendung der Informationstechnik sind, nur etwa zehn bis fünfzehn Prozent der möglichen Einsatzgebiete informations- und kommunikationstechnischer Hilfen ausschöpfen. Nun kann man fragen: Würde ein hundertprozentiges oder weitgehendes Ausschöpfen dieses Anwendungsreservoirs zu einer Veränderung in der Produktivität der gesamten Unternehmung führen? Und auf dieser Basis würde ich zu Ihrer Frage sagen: Ja, die technischen Voraussetzungen können zu einer Veränderung und Verbesserung der Informations- und Kommunikationsbedingungen in den Verwaltungen und über die Verwaltung zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit einer Unternehmung führen.

- Werden damit nicht die Apologeten der MIPS- und Baud-Romantik bestärkt, die glauben, mit einem bißchen mehr Leistung ließe sich auch mehr Anwendungswirtschaftlichkeit erreichen?

Allein durch den technischen Spielraum, den wir gewinnen, erlangen wir natürlich noch keine verbesserte Anwendung, ganz im Gegenteil. Wir müssen davon ausgehen, daß der zunehmend technisch bedingte Spielraum auf der einen Seite und die im Preis-/Leistungsverhältnis zum Ausdruck kommende sinkende Wirtschaftlichkeitsschwelle zu einem Anreiz auch für falsche Spielereien werden könnten.

- Womit sich der Satz bestätigt, nichts ist leichter im menschlichen Leben, als perfekt in eine falsche Richtung zu gehen. Ja

- Sofern Produktivitätssteigerung vor allem Entscheidungsoptimierung ist: Können denn Bürosysteme der Zukunft problematische Entscheidungsverhalten innerhalb der Unternehmung verbessern? Sie haben bereits vor Jahren, gestützt auf empirische Daten, geschrieben, "das Entscheidungsverhalten sei häufig durch stark einseitige Informationssuche und Alternativgenerierung gekennzeichnet".

Wir müssen uns, glaube ich, klar werden, daß die Instrumente, die von der Datenverarbeitung für die Entscheidungshilfe zur Verfügung gestellt wurden, wesentlich auf formatierte Informationen und auf numerische Größen zugeschnitten waren und sind. Entscheidungen, die für Unternehmungen von weitreichender Bedeutung sind oder sein könnten, müssen aber von Führungsgruppen getragen werden. Und das bedeutet, daß eine verbesserte Kommunikation zwischen verschiedenen Entscheidungsträgern - Managern verschiedener Funktionsbereiche und in verschiedenen Verantwortungsebenen - eine bessere Voraussetzung dafür bieten kann, daß die Menschen bessere Entscheidungen treffen, nicht durch die Technik bessere Entscheidungen vorgegeben bekommen.

- Nun haben Sie in diesem Zusammenhang kritisiert, daß vor allem Stäbe den Entscheidungsprozeß bestimmen würden, wodurch die Linien-Instanzen praktisch ein Legitimationsinstrument vorab festgelegter Entscheidungen würden. Sie sagen nun, die Manager müßten sich untereinander abstimmen - beendet das diese ungute Situation?

Die Problematik, Wissen im Stab und Überschaubarkeit der zugrunde gelegten Prämissen und Entwicklungsbedingungen im Management, ist eine allgemeine. Und sie nimmt natürlich in dem Maße zu, wie man versucht, analytisch gewonnene Information in den Entscheidungsprozeß einzubringen. Die Kommunikation ist ja nicht einseitig nur auf das Management untereinander ausgerichtet, sondern gerade auch auf die Kommunikation zu den Fachspezialisten hin. Und eine Voraussetzung für wirksames Zusammenarbeiten zwischen Stab und Management ist die wechselseitige Transparenz über die Begründungs- und Argumentationszusammenhänge bei Entscheidungen. Wenn es uns gelingt diese transparenter und für beide Teile sichtbarer zu machen, wird sicher so manche Frustrationserscheinung zwischen den beiden Gruppen abbaubar sein.

- Aber jetzt muß man noch davon ausgehen, daß das Management nicht in der Lage ist, seine Anforderungen an das Instrumentarium DV zu definieren und zu formulieren, weshalb es der Sprache des Stabs und dem Fachwissen des Stabs ausgeliefert ist.

Ich würde dies nicht als ausgeliefert sein betrachten. Es ist erst einmal eine normale Arbeitsteilung bei unterschiedlichen Aufgabenstellungen. Zum zweiten wäre zu beachten, daß Informationsanforderung und damit der Informationsbedarf für Entscheidungen vor dem Treffen der Entscheidung nicht eindeutig definiert werden können. In aller Regel müssen wir uns eingestehen, daß wir erst beim Lösen und beim Behandeln der Entscheidungsprobleme auf einen neuen oder veränderten Informationsbedarf stoßen. Wenn jetzt der Stab gewissermaßen autonom in dieser Entwicklung agieren muß, ohne eine engere Kommunikationsbeziehung zum Management, hebt er gewissermaßen auf der Basis einer ursprünglichen Anforderung seine Arbeit aus dem Verbund Stab und Management heraus. Und dann entstehen diese in der Praxis bekannten Schwierigkeiten.

- Könnte sich daraus ableiten lassen, daß es sinnvoll wäre, objekt- und, in einer verfeinerten Art, produktbezogene Informations-Bedarfs-Analysen durchzuführen?

Ja. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang sowohl eine Intensivierung der Bedarfsanalysen im Informationsbereich, als insbesondere aber auch ein intensiveres Dokumentieren und Lernen bezogen auf jede Information, die man bei bisherigen Entscheidungsprozessen benutzt hat. Neue Kommunikationstechniken können uns dabei helfen, den Argumentationsprozeß in komplizierten Entscheidungsprozessen gewissermaßen festzuhalten, um aus der Art, wie argumentiert wurde, auch für weitere Entscheidungsaufgaben lehrreiche Hilfen zu ziehen

- Mit dem Satz, man kann nicht alte Denkweisen auf radikal neue Formen anwenden, stellt Strassmann die Möglichkeiten, neue Bürosysteme zu entwickeln, gänzlich in Frage. Wie weit hat sich die aktuelle Denkweise vom MIS-Irrsinn entfernt, daß vermehrtes Informationsangebot zu einer verbesserten Informationsversorgung führt?

Da sind eine ganze Menge Einzelprobleme in Ihrer Frage. Ich glaube, man sollte erstens sagen, neben einem MIS-Irrsinn gab es auch immer sehr sinnvolle MIS-Entwicklungen. Nur der falsche Weg führte zu der Vermutung, durch eine Informationsflut, die man unstrukturiert und ungefiltert auf das Management niederlassen wollte, dessen Entscheidungsmöglichkeiten zu verbessern. Das löst nur einen Informationsschock aus und verschlechtert nicht selten die Qualität der Entscheidung. Der Fragenkomplex, den Strassmann anspricht, wird am deutlichsten, wenn man sich klar macht, welche Bedeutung Bürosysteme im Rahmen der Verwaltung und die Verwaltung wieder im Rahmen der Unternehmung hat. Wir könnten, wie wir eingangs schon sagten, jeden als Dienstleistungs-, als Servicebereich agierenden Teilbereich in sich selbst optimieren und rationalisieren mit dem Ergebnis, daß er möglicherweise einen großen Schaden im Gesamtzusammenhang anrichtet. Im vorliegenden Falle würde also die Forderung dahin gehen, Überlegungen der Produktivitätssteigerung und der Rationalisierung nicht an der Schreibmaschine oder am Textautomaten zu beginnen, sondern bei den grundsätzlichen Funktionen, die Verwaltungsgebilde in unseren Unternehmungen erbringen und leisten sollen . . .

- . . . nun fordert ja Strassmann weitergehend eine Art von Informationswirtschaft. Nur - leben nicht auch die Informationsmanager von dem, was bei Packard als Big Waste beschrieben ist?

Ja sicher. Hier wird natürlich immer ein gewisser Zirkelschluß sichtbar und es wäre eine fatale Vorstellung, daß wir, gewissermaßen für den Informationsbereich, eine hoheitliche Instanz in der Unternehmung haben, die darüber befindet, wer welche Informationen bekommen sollte. Worum es nur gehen kann, und das, glaube ich, ist der Aspekt der Informationswirtschaft, ist das Zur-Verfügung-Stellen von Informationsmöglichkeiten und, ein zweiter wichtiger Punkt, das Strukturieren der Informationsversorgungssysteme. Nicht aber die Informationsversorgung inhaltlich. In dem Punkt ist eigentlich jeder Entscheidungsträger sein eigener Informationswirtschaftler.

- Haben Sie den Eindruck, daß sich die einzelnen Informations- und Kommunikations-Technologien nämlich Datenverarbeitung, Nachrichtenvermittlung , Textverarbeitung als selbständige kybernetische Kreise auseinander entwickeln, obwohl die Forderung da ist, diese drei Sachgebiete müßten zusammenwachsen und zu einer gemeinsamen Schnittstelle finden?

Bei Entwicklungen dieses Ausmaßes sind natürlich zur gleichen Zeit Zentrifugal- und Zentripedalkräfte wirksam. Die zentripedalen Kräfte sind, auf längere Sicht, so hoffe ich jedenfalls auch, die durchgreifenderen. Das ergibt sich aus der Notwendigkeit und aus den Anwendungserfordernissen. Zentrifugal wirkt im Augenblick sicher der Umstand, daß diese von der Anwendung her gesehen an sich miteinander zu verknüpfenden Teilbereiche - nicht notwendigerweise aus ingenieurtechnischer Sicht - daß diese Anwendungsbereiche in sehr verschiedenen organisatorischen Einheiten gepflegt und behandelt werden. Hier ist aus der verständlichen Sicht mancher Empire-Builder eine Abschottung gegen den anderen Entwicklungsbereich erkennbar. Das ist für die Unternehmungen in der Tat ein schwieriges Problem in der Aufbau- und in der Ablauforganisation.

- Sie sprechen vom Empire-Builder: Ist es nicht so, daß das Ausmaß der Investition die Dominanz innerhalb dieses Trios bestimmt, womit praktisch der Führungsanspruch der Datenverarbeitung auch in Zukunft gewahrt bleibt, und zwar bei aller Verbesserung des Preis-/ Leistungsverhältnisses?

Ich glaube, wenn wir die Datenverarbeitung als Einsatz von computertechnischen Hilfen und Geräten betrachten, dann wird natürlich gerade auch Textverarbeitung ohne Datenverarbeitung auf die Dauer, ob zentral oder dezentral, gar nicht möglich sein. Die zweite Frage geht aber dahin, welches Volumen sich im Rahmen des Budget-Ansatzes für informations- und kommunikationstechnische Entwicklungen im Anwendungsbereich die einzelnen Unternehmungen sich genehmigen werden. Wird man auf der Basis des bisherigen Budget-Ansatzes fortschreiben und gewissermaßen einzelne Jahreszuwachsraten draufschlagen oder wird man aus einer anderen Sicht versuchen, die Bedeutung der Informations- und Kommunikationssysteme für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmung zu erörtern und auf dieser Basis in einem strategischen Ansatz den Rahmen für sinnvolle Budgethöhen erarbeiten.

- Nichts ist gefährlicher als bessere Information in der Hand des Wettbewerbs ist ein alter Spruch der Kaufleute. Sehen Sie Möglichkeiten, innerbetriebliche Informationsverbesserung dadurch herbeizuführen, daß Information automatisch abstrahiert wird und tatsächlich nur noch das Entscheidungskriterium zum Entscheidungsträger kommt?

Informationen sind in aller Regel so lebendig und so bunt wie unsere Welt. Man kann sie sehr schwer nur auf die notwendigen und auf die letztlich essentiellen Bestandteile reduzieren. Informationen werden im Kommunikationsprozeß letztlich eben zwischen Menschen wirksam, und die Art, wie Menschen im Entscheidungsfall denken, sich verhalten und Kommunikation pflegen suchen oder meiden, bestimmt wesentlich die Chance, Informationen ihrem inhaltlichen und sachlichen Kern nach in diese Entscheidungsprozesse einzubringen.

- Das Seminar hieß: "Produktivitätssteigerung durch Bürosysteme der Zukunft". Kann ich Sie hinreißen, eine Prognose zu geben, welche Produktivitätssteigerung möglich sein wird?

Das ist nicht nur schwer, sondern insbesondere auch davon abhängig, unter welchen Voraussetzungen man Produktivitätssteigerung und Entwicklung betrachtet. Ich kann nur soviel sagen, daß in den Entwicklungen, die wir zur Zeit nicht nur utopisch im Labor, sondern praktisch im Experiment haben - und zwar weltweit beobachtbar -, daß aufgrund dieser Entwicklung viele heute noch beobachtbare Leerlaufzeiten, Wartezeiten, insbesondere auf Informationen, die man haben möchte, und sucht, reduzierbar sind. Welche Nutzung das Management und die Fachspezialisten daraus ziehen, daß sie ihre Arbeit zügiger und reibungsloser abwickeln können, bleibt natürlich aus unserer Sicht erst einmal nur als Chance gegeben. Die Nutzung dieser Chance ist dann die individuelle Frage jedes einzelnen, der mit so einem System arbeitet. Darum würde ich sagen, die Potentiale für Produktivitätssteigerung sind gegeben, wo und wie sie genutzt werden, kann einer Unternehmung nicht von außen vorgeschrieben werden. Das Risiko liegt in den nicht genutzten Chancen.