"Softwerker" in St. Petersburg - verlängerte Werkbank des Westens? (Teil 2)

Die Informatik-Forschung erreicht allmählich das Westniveau

20.10.2000
ST. PETERSBURG - Der Mangel an IT-Experten in Deutschland rückt immer mehr Alternativen zur vielzitierten "Green Card" in den Blickpunkt. Vor allem in Mittel- und Osteuropa bieten sich für IT-Firmen bisher nur zaghaft genutzte Kooperationsmöglichkeiten zur Softwareentwicklung an. Anknüpfend an die einst von Zar Peter I. begründete Rolle als Vermittler zwischen Russland und den westeuropäischen Staaten will die alte Zarenmetropole St. Petersburg hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Alexander Egorov und Mathias Weber* haben vor Ort recherchiert.

Im ersten Teil ihres Streifzuges durch die St. Petersburger IT-Szene (siehe CW 41/2000, Seite 72) haben sich die beiden Autoren vor allem mit den Chancen und Risiken einer Kooperation westlicher IT-Firmen mit einschlägigen russischen Partnern auseinandergesetzt. Und mit deren weitgehend unumstrittener fachlicher Qualität, die vor allem auch auf einem funktionierenden Zufluss von Nachwuchskräften basiert. Möglich wird dies durch eine für westliche Verhältnisse undenkbare Verzahnung von Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft. Studenten der entsprechenden Fakultäten und Hochschulen schnuppern bereits als Praktikanten erste Luft als Programmierer; umgekehrt nutzen viele Professoren ihre "Zweitfunktion" als Entwicklungschefs oder gar CEOs von Softwarehäusern zum "Wohle" beider Seiten, etwa durch die Vergabe industrieller Forschungsaufträge an ihr eigenes Institut.

Doch es gibt in St. Peterburg auch noch andere "Rekruitment-Praktiken". Einen sehr rigorosen Kurs im Bereich Personalentwicklung verfolgt beispielweise das auf Data Warehousing und Document Management spezialisierte Softwarehaus Digital Design. Alle Entwickler müssen dort die Qualifikation eines Microsoft Certified Engineers - es sind bereits mehr als 30 - erwerben, sonst erhalten sie nur das Minimalgehalt. "Auf den Gebieten, wo wir uns bewegen - das sind in erster Linie die Microsoft-Technologien - gibt es kein zweites IT-Unternehmen in Russland, das es mit uns aufnehmen kann", lehnt sich Firmengründer Andrei Fedorov aus dem Fenster. Immerhin schwebt ihm eine Verdopplung des in dieser Hinsicht qualifizierten Personals binnen eines Jahres vor. Zur Sicherung des eigenen Bedarfs an qualifizierten Mitarbeitern wird Fedorov eine "Schule für höchste Meisterschaft in der Programmierung" an der Universität für Transportwege gründen. "Auswahlprozedur, Ausbildung, Examen sind kostenfrei. Die Ausbildung erfolgt nach Kursen, die von Microsoft und auch von IBM autorisiert sind. Wir haben die Kraft, uns das leisten zu können. Der Hintergedanke besteht darin, die besten Studenten für uns zu gewinnen", erklärt der Digital-Design-Chef sein (schon) sehr westliches Ausleseprinzip.

Trotz dieser vielen Facetten offensichtlich erfolgreicher Nachwuchsförderung sind die Ressourcen an guten Entwicklern in St. Petersburg zwar umfassend, aber bei weitem nicht grenzenlos - obwohl genau das von einigen der russischen IT-Experten, die in die USA ausgewandert sind, behauptet wird. Jedenfalls gibt es immer wieder Fälle, wo damit geworben wird, dass man Projekte jeder Größenordnung realisieren und dazu beliebig viele Leute in der alten Heimat aktivieren könne. Was dann, wie Kenner der St. Petersburger Szene bedauern, in den Vereinigten Staaten zu entsprechend falschen Vorstellungen über das Angebot von Programmierern in Russland führt.

Auch zur Finanzierung der Informatik-Forschung in St. Petersburg - und damit auf längere Sicht auch zur Sicherung ihrer Qualität - liegen unterschiedliche, im Detail auch widersprüchliche Einschätzungen vor. Informatik-Professor Alexander Bogdanov, Herr über das größte Superrechner-Zentrum Russlands, schätzt ein: "Es wäre falsch zu sagen, dass die Finanzierung der Wissenschaft durch den Staat stark gesunken ist. Es hat sich nur die Struktur der Finanzierung geändert. Die Informatik hat keinen Grund zur Klage, hat sie doch sogar in puncto finanzielle Zuwendungen die Hochenergiephysik hinter sich gelassen."

Allerdings ist es, wie der Wissenschaftler ebenfalls betont, kein Geheimnis, dass seine Zunft (und das nicht nur in St. Petersburg) jedes Jahr führende Spezialisten verliert. Ein Problem, das man auch in Deutschland kennt: Viele der besten Experten gehen in die USA. Im Falle Russlands kommt hinzu, dass auch Mathematiker oder Physiker noch immer das Land verlassen, weil sie ihre Familien nicht ernähren können. Bogdanov nennt zur Veranschaulichung des Problems auch konkrete Zahlen: So entschließen sich Absolventen oder wissenschaftliche Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl zur Auswanderung, weil sie anstelle von 200 Dollar eben 2000, in Einzelfällen sogar bis zu 8000 Dollar pro Monat verdienen können. Viele bleiben allerdings auch, "weil es inzwischen auch hier interessante Probleme zu lösen gibt", gibt der Wissenschafter zumindest eine Teilentwarnung, was den Exodus von Spitzenkräften angeht. Denn die zunehmende "Verwestlichung" der russischen IT-Branche, also die Tatsache, dass sich immer mehr Westfirmen mit eigenen Dependancen ansiedeln und/oder russische IT-Companies mit Aufträgen versorgen, führt dazu, dass immer häufiger auch in St. Petersburg und anderswo Gehälter gezahlt werden, mit denen die Lebenshaltungskosten in Russland mehr als gut bestritten werden können.

Insgesamt hat die Öffnung nach dem Fall des Kommunismus Experten zufolge doch zu einer gewissen Verwässerung beigetragen. Die Informatikforschung in St. Petersburg befinde sich weiterhin auf hohem Niveau, das aber nicht mehr mit dem zu vergleichen ist, welches zum Ende der Sowjetunion erreicht worden war, heißt es. Außerdem komme es inzwischen zu einer stärkeren Differenzierung zwischen den Hochschulen. So gibt es eine ganze Reihe von Forschungsgruppen, die sich auf die neuen Bedingungen der Finanzierung aus internationalen und auch aus russischen Fonds sowie auf das konzentrierte Arbeiten in beziehungsweise mit Programmen und Projekten gut eingestellt haben. Man könnte auch sagen, die Ausrichtung der Forschungsarbeiten ist einfach kommerzieller geworden.

(Wird fortgesetzt.)

*Alexander Egorov ist Gründer und CEO des in St. Petersburg ansässigen Softwarehauses Reksoft.Mathias Weber ist Geschäftsführer des im IuK-Dachverband Bitkom integrierten Unternehmensverbandes Informationssysteme, Berlin.