Die Himmelsstürmer kehren zurück

30.03.2001
Von Dagmar Sobull
Mit der Pleitewelle in der New Economy rücken Karrieremöglichkeiten in etablierten Unternehmen wieder ins Blickfeld: Waren viele Nachwuchskräfte in den vergangenen zwei Jahren dem Lockruf von Startup-Gründungen und Aktienoptionen gefolgt, stehen sichere Arbeitsplätze und feste Gehälter bei den jungen Talenten nun wieder hoch im Kurs.

Headhunter wie Michael Neumann von der Personalberatung Hager & Partner in Frankfurt reagieren auf jede Hiobsbotschaft: "Gute Leute sind innerhalb weniger Tage wieder unter Vertrag", sagt Neumann. Auf der Suche nach den begehrten IT-Experten durchforsten die Kopfjäger regelmäßig die "Todeslisten" zusammenbrechender Startups im Internet. Und die werden von Tag zu Tag länger. Denn das Firmensterben in der Internet-Wirtschaft nimmt rasant zu.

Mindestens ein Dot.com-Unternehmen pro Tag muss in den USA bereits aufgeben, meldet der amerikanische Servicedienstleister Webmergers.com. Insgesamt 210 Internet-Unternehmen stellten im vergangenen Jahr den Betrieb ein. Besonders hart hat es den elektronischen Verkauf an Endverbraucher (Business to Consumer, B-to-C) getroffen. Aber auch der einst so hochgelobte Handel zwischen Unternehmen (B-to-B), bleibt von der Entwicklung nicht verschont. Einer Studie der US-Jobagentur Challenger Gray & Christ zufolge wurden im ersten Halbjahr 2000 nur 5100 Leute entlassen, im zweiten Halbjahr waren es bereits 36 000. Allein im Dezember 2000 fielen mit 10 500 Jobs so viele Dot.com-Stellen weg wie nie zuvor.

Scharfer Gegenwind bläst den Internet-Startups auch in Deutschland ins Gesicht. Seit der Internet Service-Provider Gigabell im September vergangenen Jahres Konkurs anmeldete, kriselt es in vielen Sektoren der Web-Wirtschaft, bei Internet-Agenturen und Beteiligungsgesellschaften. Die Gründe sind fast immer die Gleichen: Die einst so großzügigen Wagnisfinanzierer drehen den Geldhahn zu, weil sie das Vertrauen in den wirtschaftlichen Erfolg der "Onliner" verloren haben. Vielen Dot.coms fehlt es nach Ansicht der Experten so ziemlich an allem, was die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens garantiert: eine attraktive Kundenbasis, ein eingeführter Markenname oder eine außergewöhnliche Technologie.

Jeder zweite Investor hält die Umsatzprognosen von Gründern für völlig überzogen. Das geht aus einer Befragung von Venture-Capital-Managern hervor, welche die VDI-Nachrichten in Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen Baumgartner & Partner Anfang des Jahres vorlegten. Auch der Zeitplan könne nur in den seltensten Fällen eingehalten werden, kritisieren die Wagnisfinanzierer. Defizite im Management der Jungunternehmer stellen mehr als zwei Drittel der Investoren fest, jeder zweite rügt ihre überzogene Technikorientierung. Häufig fehlt den jungen Himmelsstürmern Berufs- und Führungserfahrung, um die Konzepte auch operativ umzusetzen und ein schnelles Wachstum zu bewältigen.

Derzeit trennt sich in der New Economy die Spreu vom Weizen. Die Nachwuchskräfte seien kritischer geworden, beobachtet Personalberater Neumann. Die Aussicht auf künftige Gewinne motiviere die Mitarbeiter in der New Economy längst nicht mehr so wie früher. Im Klartext: Aktienoptionen, die in der New Economy lange Zeit als zweite Währung galten, haben viel von ihrem Glanz verloren, seitdem die Kurse am Neuen Markt nur noch eine Richtung kennen: nach unten.

Michael Proft

Mit dem schwierigeren Umfeld an der Wachstumsbörse rücken traditionelle Unternehmen wieder ins Blickfeld der Internet-Generation. Dabei komme den etablierten Unternehmen zugute, dass sich der Gegensatz zwischen Alt und Neu mehr und mehr verwische, meint Michael Proft, Leiter Competence Center Startups bei der Personalberatung Ray & Berndtson in Frankfurt: "Einerseits müssen sich erfolgreiche Startups mit zunehmender Größe professionalisieren und damit bürokratische Strukturen einführen, die den Charme der Gründerzeit verblassen lassen. Andererseits dehnt sich die Internet-Wirtschaft zunehmend auf etablierte Unternehmen fast aller Branchen aus. Erfolgreiche Unternehmen der Old Economy sind bereits dabei, Geschäftsbereiche abzuspalten, so dass kleinere, überschaubare Unternehmenseinheiten entstehen."

Beispielsweise kündigte Siemens-Chef Heinrich von Pierer im Oktober vergangenen Jahres ein Investitionsprogramm in Milliardenhöhe an, um den 153 Jahre alten Konzern auf E-Business zu trimmen: "Siemens ist New Economy mit Substanz", lautet die Losung. Kaum ein Management-Begriff bei Siemens kommt neuerdings ohne das magische "E" aus, alle 447 000 Siemens-Mitarbeiter sollen Anschluss ans Internet bekommen.

Frischen Wind sollen jungdynamische Nachwuchskräfte des neu gegründeten Center of E-Excellence am Münchner Flughafen in das Traditionsunternehmen bringen. Angehende Jungunternehmer mit überzeugenden Businessplänen können dort zu günstigen Bedingungen eines von 160 Glasbüros mieten. Rund 500 Mark Miete müssen die Startups für einen etwa 14 Quadratmeter großen Arbeitsplatz zahlen, ausgerüstet mit modernster Informations- und Kommunikationsinfrastruktur. Know-how von Siemens gibt es gratis dazu. Insgesamt sollen in dem Center of E-Excellence 350 Arbeitsplätze entstehen.

Business-Coach Andreas Gilhuber steht den Startups im Business-Accelerator mit Rat und Tat zur Seite. Wie machen wir unseren Markennamen bekannt? Wie bauen wir einen schlagkräftigen Vertrieb auf? Woher bekommen wir neue Mitarbeiter? Das sind typische Probleme junger Unternehmen im E-Business. "Wenn wir nicht selbst helfen können, vermitteln wir den bei uns angesiedelten Startups Kontakte zu geeigneten Experten auf dem jeweiligen Gebiet", sagt Gilhuber.

Für unternehmensinterne Projekte sucht Personalchef Alexander Gisdakis vor allem Mitarbeiter, die "zur E-Business-Kultur passen" und sich in den jeweiligen Branchen, Geschäftsbereichen oder Prozessen der Siemens AG gut auskennen. Etwa zwei Drittel der Mannschaft sollen aus dem Konzern rekrutiert werden. Ein weiteres Drittel soll von außen kommen und Know-how mitbringen, das innerhalb des Konzerns nicht ausreichend vorhanden ist, etwa in den Bereichen Content-Management, Editoren, Database-Marketing und Supply-Chain-Management.

Softwarefreaks aus kleinen Startup-Unternehmen sind häufig besonders innovativ und deshalb auch in den E-Business-Abteilungen großer Konzerne gern gesehen. Doch nicht jeder kommt mit dem Wechsel der Unternehmenskultur zurecht. Schnelle und einsame Entscheidungen etwa, wie in einem Zwei-bis-drei-Personen-Startup üblich, seien in einem weltweit agierenden Konzern wie Siemens kaum möglich, räumt Gisdakis ein. Andererseits hätten Nachwuchskräfte bei Siemens die Möglichkeit, schon in jungen Jahren viel zu bewegen. Die Zukunftsaussichten für engagierte Nachwuchskräfte jedenfalls seien bestens, verspricht der Personalchef. "Wer heute mithilft, das E-Business-Geschäft bei uns aufzubauen, kann damit rechnen, sehr schnell in Führungspositionen aufzusteigen, wenn es läuft."

Die Bertelsmann AG verfolgt ein ähnliches Konzept, um frischen Wind in das westfälische Traditionsunternehmen zu bringen und junge Talente aus der New Economy für den Konzern zu gewinnen. Shobna Mohn, Schwiegertochter des Bertelsmann-Patriarchen Reinhard Mohn und Chefin beim jüngsten Firmenableger "Bertelsmann Valley", sucht seit Ende vergangenen Jahres systematisch nach jungen, unternehmerisch denkenden Leuten mit guten Ideen. Mindestens zehn Millionen Mark jährlich will der Mediengigant in aussichtsreiche Businesspläne stecken. Neben Venture Capital hilft Bertelsmann Valley jungen Firmengründern mit dem Wissen erfahrener Manager auf die Sprünge und stellt ihnen die notwendige Infrastruktur wie Online-Zugänge und Hochleistungsrechner zur Verfügung.

Außerdem haben die Startups Zugang zu sämtlichen Multimediabeteiligungen des Konzerns. So können sie beispielsweise im Internet über AOL und Compuserve surfen, Zeitung bei Paperball lesen oder sich Informationen bei Lycos beschaffen. "Im Gegenzug sorgen die innovativen High-tech-Schmieden dafür, dass der Mediengigant im westfälischen Gütersloh immer über neue Markttrends und Entwicklungen auf dem Laufenden ist", erklärt Shobna Mohn das Konzept. Außerdem sichern sich die Bertelsmänner Anteile an den jungen Firmen. Ob Old oder New Economy: Die Aussichten auf eine Karriere in der Internet-Wirtschaft scheinen in jedem Fall glänzend zu sein. Die Lage in dieser Branche sei besser als ihr Ruf, davon sind die Experten einhellig überzeugt. Die Bundesregierung rechnet damit, dass sich die Zahl der Internet-Nutzer von heute 16 Millionen bis zum Jahr 2002 verdoppeln wird.

Andreas Franz hat sich vor einigen Monaten aus der Startup-Szene verabschiedet. Nach einem siebenmonatigen Einsatz als Business Development Director bei Lycos Europe war er im April vergangenen Jahres als Vorstandsmitglied bei einem europäischen Familienportal eingestiegen. Doch angesichts der unsicheren Perspektiven in der Branche wechselte er im Oktober wieder den Arbeitgeber. "So kurze Abschnitte im Lebenslauf sind in der New Economy zwar kein Problem, sie sollten aber nicht zur Regel werden", sagt der 34-Jährige: "Wenn ich nochmal in die Internet-Szene einsteige, dann nur bei bereits etablierteren Firmen, die eine gefestigte Marktposition haben und deren Zukunftsperspektiven ich mitgestalten kann."

Eine Alternative könnten aber auch Unternehmen der Old Economy sein, die ja momentan massiv ins E-Business drängen, sagt Franz. Bei den sehr dynamischen Startups lasse sich zwar viel lernen, aber das Ziel sollte nicht nur ein Börsengang sein: "Was ich bei dem hohen Tempo und der Arbeitsbelastung in der Internet-Landschaft an Erfahrung gesammelt habe, lässt sich angesichts der gegenwärtigen Marktveränderungen ebenso gut in der Old Economy einsetzen." Belastbarkeit hat Franz schon während seiner MBA-Ausbildung parallel zu seinem damaligen Job bewiesen. Drei Jahre lang verzichtete er auf jegliche Freizeit. Stock Options sind für den Manager mit Startup-Erfahrung nicht mehr der alleinige Anreiz. Franz: "Es muss Spaß machen, etwas bewegen zu können, und die Arbeitsbedingungen müssen attraktiv sein."