Die Gemeinschaft muß mehr sein als ein Binnenmarkt

04.01.1991

Prof. Dr. Thomas von der Vring

Mitglied des Europäischen Parlaments (SPD) und Vorsitzender des Haushaltsausschusses

Die Unterzeichnerstaaten des Europäischen Freihandels-Abkommens (EFTA) sind auf dem Wege, sich der EG anzuschließen. Deren heutige Verfassung ist aber nicht geeignet, eine solche Erweiterung zu verkraften. Auch die neuen Demokratien Osteuropas wenden sich der EG zu.

Doch die Gemeinschaft zögert. Sie läuft Gefahr, diese Chance zur Öffnung zu verpassen. Die Vollendung des Binnenmarktes wird lustlos abgearbeitet. Hat unsere Industrie vergessen, daß ein Binnenmarkt ohne wirtschaftspolitische und industriepolitische Handlungsfähigkeit nicht ausreicht, um den Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs gewachsen zu sein? Die japanischen Investitionen in der EG sind innerhalb eines Jahres von 27,8 Milliarden Dollar auf 45,5 Milliarden Dollar gestiegen. Der Binnenmarkt als aufgeschlagenes Bett für die japanische Industrie - soll das die Bestimmung der Europäischen Gemeinschaft sein?

Diese Zeitzeichen charakterisieren auch den europäischen IT-Sektor. Wichtige Firmen schreiben rote Zahlen: Philips kündigt umfangreiche Entlassungen an, und Fujitsu übernimmt den größten britischen Computerhersteller. Letzteres fordert eine Überprüfung der europäischen Computerstrategie.

Ohne einer Marktabschottung das Wort zu reden: Der europäische Markt umfaßt etwa 30 Prozent des Weltmarktes für Informationstechnologie. Davon werden aber nur sieben bis acht Prozent der Produkte in Europa hergestellt. Im Licht dieser Tatsache sollte die Strategie der Gemeinschaft vor Beginn des 3. Esprit-Programms überprüft werden. Dabei sind folgende Fragen zu klären:

1. Reicht die vorwettbewerbliche Forschungsförderung der Gemeinschaft zur Sicherung einer europäischen Informatik-Industrie aus? Ist es nicht höchste Zeit, über eine europäische Firmenstrategie nachzudenken - als Teil einer gemeinschaftlichen Industriepolitik?

2. Sind unsere Forschungsprogramme unter diesem Gesichtspunkt richtig konzipierte Auf welche Sektoren sollten wir uns konzentrieren, von welchen können wir uns trennen? Wo ist weltweite Kooperation angebracht?

3. Reicht der gegenwärtige Mittelansatz der Gemeinschaft aus, oder sollte nicht ein wesentlich größerer Teil der nationalen Forschungsförderung ins Rahmen des EG-Haushalts konzentriert und damit koordiniert werden? Dies ist ein wesentlicher Aspekt der anstehenden Beratungen über die erweiterten Aufgaben einer Europäischen Union.

4. Wird dem Gesichtspunkt dei gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge im Bereich dei Forschung genügend Aufmerksamkeit gewidmet?

Es ist höchste Zeit, unser Konzept des internationalen Wettbewerbs neu zu definieren. Das gilt besonders für den IT-Sektor. Im Dreieck USA-Japan-EG wird das Problem des Wettbewerbs heute durch Übernahmen gelöst. Die ursprüngliche Strategie der zwölf großen Firmen, mit vorwettbewerblicher Forschungskooperation im Rahmen der EG zu einer stabilen Weltmarkt-Position zu kommen, ist gescheitert. Es war ein teurer Irrtum, zu glauben, Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten müßten nichts tun nur genügend Geld in die Entwicklung neuer Chips und Computer stecken.

Forschung ist zwar wich kann aber keine europäische Industriepolitik ersetzen. Dazu würde gehören, daß europäische Firmen endlich zusammenfinden.

Heute scheint es dagegen leichter zu fallen, über den großen Teich Kooperationen Vereinbaren als zwischen München und Eindhoven.

Die Gemeinschaft sollte die Initiative ergreifen unter ihrem Dach Industrie, werkschaften und Geldgeber einem Tisch zusammenzubringen, um Kooperation in allen relevanten Aspekten der Firmenpolitik des IT-Sektors Vereinbaren

- Marktabgrenzungen,

- Investitionsstrategien,

- Zusammenschlüsse,

- Standardisierungen,

- Forschung,

- europäische Lösungen Firmenschieflagen,

- Abfederung sozialer und regionaler Folgen.

Die EG-Kommission sollte hier die Balance zwischen Marktordnung und Wettbewerb gewährleisten. Das oberste Ziel muß die Wahrung der europäischen Autonomie in diesem Schlüsselsektor der Wirtschaft sein.

Eine solche Gemeinschaftsinitiative wurde auch eine deutsche Aufstockung der Forschungsförderung der Gemeinschaft erfordern. Zugleich müßte der Bereich der weltweiten Forschungskooperation von dein einer engeren europäischen Kooperation abgegrenzt werden. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit eine Beteiligung von Firmen an europäischen Programmen von einem bestimmten europäischen Kapitalanteil abhängig gemacht werden sollte,

Ferner gehört zu einem solchen industriepolitischen Ansatz die Beachtung einer ausgewogenen Beteiligung der europäischen Regionen. Wer für eine solche Gemeinschaftpolitik die Zustimmung der Mitgliedstaaten und ihrer haben will, der muß zu eine entsprechende Abstimmung der Instrumente der Gemeinschaft gewährleisten: Regionalfonds, Sozialfond Forschungspolitik.

Vor kurzem ist auf Einführung des CIM (Computer Integrated Manufacturing) problematisiert worden. Erhebliche Risiken sind mit der Einführung dieser Technologie bezüglich der Qualifikation) der Arbeitskräfte verbunden, Solche sozialen Veränderungen können nicht einfach der Entwicklung der Technik überlassen bleiben. Es geht darum, die Fragen nach den gesellschaftlichen Folgewirkungen in die Forschungsprojekte zu integrieren. Auch dafür werden Forschungsmittel benötigt.

Das Europäische Parlament hat eine erhebliche Aufstokkung des neuen Forschungs-Rahmenprogrammes gefordert. Der Europarat ist dagegen im Begriff, dieses Programm faktisch abzuwürgen, weil er sich aus formalen Gründen gegenwärtig nicht in der Lage sieht, adäquate Verpflichtungen für die Zeit nach 1992 einzugehen. Dies ist ein Beispiel dafür, daß die auf kurzatmigen Beschlüssen beruhenden EG-Finanzierungsregelung einer zukunftsgestaltenden Gemeinschaftspolitik hinderlich sind. Dies wäre ein wichtiges Thema für die anstehende Reform der Gemeinschaft.

Gegenwärtig steht die Gestaltung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion auf der Tagesordnung. Dabei wird fast nur über das künftige Zentralbank-System gesprochen. Über den Aspekt der Wirtschaft wird wenig geredet. Allenfalls die fiskalischen Konsequenzen einer europäischen ,Geldpolitik werden diskutiert.

Vielen ist noch nicht klar, was die Vollendung des Binnenmarktes faktisch bedeuten wird: den Zerfall der wirtschaftspolitischen Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die konjunkturpolitischen Instrumente der Mitgliedstaaten werden stumpf, und der Handlungsspielraum der nationalen Industriepolitiken schrumpft - ganz abgesehen davon, daß nationale Interventionen in die europäische Industrie-Entwicklung immer weniger Sinn machen.

Internationaler Wettbewerb ist kein Spiel, das man sich selbst überlassen kann. Internationale Wettbewerbspolitik kann nur die Form von internationalen Vereinbarungen haben. Dies reicht aber nicht aus zur angemessenen Marktregulierung. Die Gemeinschaft benötigt vielmehr in dieser monopolistischen Phase der Weltwirtschaft unbedingt eine sektorale Industriepolitik, in der die Informationstechnologie eine Schlüsselrolle spielt. Es geht nicht um eine flächendeckende Intervention, sondern um die strategische Gestaltung der zentralen Industriesektoren. Dafür benötigt die Gemeinschaft zusätzliche Kompetenzen und Instrumente.

Es wäre wichtig, daß sich die Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion auch damit befaßt.

Beim Thema Europäische Union wird zu viel von der Form und zu wenig vom Inhalt gesprochen. Definiert man aber die zukünftigen Probleme der EG - etwa im IT-Sektor -, dann ergeben sich Anforderungen an Verfassung und Organisation der EG ebenso wie die Notwendigkeit einer neuen Verteilung der Steuermittel zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Diese konkrete Definition der Anforderungen an das Europa von morgen sollte nicht Politikern und Beamten überlassen werden. Wie vor einigen Jahren das Weißbuch zum Binnenmarkt die Forderungen der Wirtschaft in ein Legislativprogramm umgewandelt hat, sollten auch jetzt wieder die Erfordernisse der Wirtschaft artikuliert werden - wobei diese ihrerseits mit einigen Tabus aufräumen müßte.

Noch ein Faktor steht der Ausgestaltung einen europäischen Industriepolitik entgegen: das Demokratiedefizit der Gemeinschaft. Die EG absorbiert immer mehr politische Souveränität von den Mitgliedsparlamenten. Ausgeübt aber wird diese Souveränität noch immer überwiegend von den im Ministerrat vereinigten Ministerien Europas. Dabei geht die demokratische Verantwortlichkeit verloren. Das Europäische Parlament erhebt dagegen den Anspruch, alle Kompetenzen zu übernehmen, die den nationalen Parlamenten verloren gegangen sind. Daraus ergeben sich vier Bereiche, in denen nicht mehr ohne das Europäische Parlament entschieden werden darf:

1. die Setzung neuen europäischen Rechtes;

2. finanzielle Forderungen der Gemeinschaft an die Mitgliedstaaten;

3. Ausgaben der Gemeinschaft;

4. Ernennung des Kommissionspräsidenten.

Ferner benötigt das Europäische Parlament die vollen Rechte zur Untersuchung aller EG-Angelegenheiten. Ohne eine demokratische Fundierung, die die gemeinschaftliche Willensbildung mit einer europäischen Öffentlichkeit verbindet, kann Europa keine politisch handelnde Einheit werden.