Die Gegenständlichkeit des Abstrakten

03.10.1980

Was ist der Unterschied zwischen einer Doppelripp-Herrenunterhose (supergekämmt, fombeständig, hautfreundlich) und einem Netzwerksystem (kommunikationsstark, zugriffsgesichert, universell)?

Kein Unterschied, was die Messefähigkeit dieser Produkte betrifft, lediglich eine Frage des Termins und der Standgestaltung. Ob Videokamera, Tennisschläger, provenzalischer Ziegenkäse oder EDV-Anlage - es gibt genug vermietbare Quadratmeter, auf denen solche Brauchbarkeiten publikumswirksam präsentiert werden können: zu verschiedenen Zeitpunkten, versteht sich, und "erfolgreich", das heißt mit turnusmäßig ansteigenden Aussteller-, Besucher- und Übernachtungszahlen. Was der homo oeconomicus schafft, soll er vorzeigen - schnell, oft und variationsreich.

Den Büromaschinenhersteller, dem jede CeBIT, Systems und jede Orgatechnik eine Messe wert ist, plagen periodisch gewisse Zweifel am Visualisierungskonzept seiner Verkaufsförderung. Freilich: Man hat Dingliches zu bieten - elektronische Schaltschränke, ergonometrisch optimierte Arbeitsplätze, bedruckte Meterware an Formularpapier ... Doch schon bei der Dastellung der (unsichtbaren) Funktionsbasis, auf die sich im EDV-Bereich der technologische und organisatorische Aufwand konzentriert, muß der Standbauer optische Prothesen einplanen, muß er Leuchttableaus und Bewegungsschemata installieren, um auf das Wesentliche seines Exponats aufmerksam zu machen. Denn ein modernes Netzwerksystem ist von der physischen Realität der Warengattung "Terminal" ungefähr so weit entfernt wie die Parzival-Partitur von einer Posaune - man ahnt den anspruchsvollen Hintergrund, wird aber von der sinnlichen Substanz des einzelnen Ausstellungsstücks nicht zwangsläufig zur Einsicht in die höheren Zusammenhänge gebracht. Vordergründig fällt der Besucherblick auf das Informatik-Mobilar, das, systemtechnisch gesehen, bisweilen eher zur Peripherie gehört, selbst wenn es aus Zentraleinheiten besteht.

Das Problem, Abstraktes für drei bis neun Tage konkret vorzuführen, belastet allerdings lediglich einen Teil der EDV-Branche, und auch diesen nur in sehr differenziertem Maße. Wer Taschenrechner, Schreibmaschinen, Hobby-Computer oder Sprachausgabegeräte herstellt, den kann der Halbjahresrhythmus eines Produkt-Appells nicht schrecken. Über die ästhetischen Komponenten der Form (und Farb-)gebung läßt sich kurzfristig manche Neuheit ausweisen, die nicht gleichzeitig eine Innovation sein muß. Kleine augenfällige Veränderungen erzielen meist den gewünschten "Guck-mal"-Effekt beim Beschauer. Branchen-Optimisten (und Werbeleiter) deuten dies als "vom Markt gefordert".

Schwieriger wird es beim Vorzeigen von Kopiermaschinen, Mikrofilm-Anlagen, Plottern usw. Man hilft sich mit Geschwindigkeitsrekorden und deklamiert die gesteigerte Systemverfügbarkeit (direkt demonstrieren kann man sie kaum). Auch beim Bildschirm ist rasch der Punkt erreicht, so daß es "ergonomischer" nicht mehr geht und die Akzeptanz saisonaler Modifikationen zur Glaubensgewohnheit gerät.

Noch schlechter schneidet im Schaugeschäft jedoch ausgerechnet jenes Gebiet ab, in dem sich die epochalen Fortschritte der Computer-Ära vollziehen, wo der Rechner nicht mehr Produkt, sondern Baustein einer Entwicklungskette ist, an deren Ende (beispielsweise) ein Verbundnetz oder eine komplexe Datenbankstruktur steht. Über solche Errungenschaften kann man referieren, man kann über sie diskutieren und einige ihrer Sekundärwirkungen am Terminal beobachten aber vorführbar, im engeren Sinne, sind sie nicht. Die revolutionärsten EDV-Anwendungen der 80er Jahre werden, wenn überhaupt, nur hinter den Kulissen des herkömmlichen Messes tandes begreifbar. Man "besichtigt" sie am besten vor Ort, in der Organisation eines Anwenders.

Die Verabredung zu einer Benutzer-Demo kann der Hersteller mit seinem Interessenten indes jederzeit und überall treffen, es bedarf dazu keines Gruppen-Rendezvous. Gleichwohl fördern die Veranstalter seit Jahren mit viel Propaganda den kommunikativen Aspekt der Produktausstellung. Auf diese Weise entstanden die sogenannten "Bindestrich-Messen", die den Kongreß-, Tagungs- und Treffpunkt-Charakter unterstreichen, wodurch eine Fach-Schau vorerst an Attraktivität gewinnt.

Vorerst ist nicht auf Dauer. Denn die Akzeleration der technologischen Entwicklung und der hohe systemlogische Abstraktionsgrad des Leistungsangebots wird dem Computerhersteller künftig mehr als bisher die Frage aufdrängen, inwieweit ein von blinkenden Plasma-Bildschirme angelocktes Publikum für ihn wirklich relevant ist - eine Frage die alle Beteiligten immer wieden bewegt und die von Mal zu Mal aus größerer kritischer Distanz heraus beantwortet werden muß.

In einer Zeit, in der ein Wirtschaftsraum wie die Bundesrepublik für die Mehrzahl der Waren und Dienste eine Art "Instant-Messe" darstellt, auf der jeder Informationssuchende ohne Rücksicht auf Standort und Kalender das sehen kann, was ihn ernsthaft interessiert - in einer solchen Zeit sind die wiederkehrenden Rechtfertigungsargumente für den organisierten Marktplatz fast ebenso spannend wie die kreativen Umwege, auf denen die EDV-Industrie ihren immateriellen Produkten im Bewußtsein der Seh-Leute zur faßbaren Gegenständlichkeit verhilft.