Das Uber-Syndrom

Die Furcht vor branchenfremder Konkurrenz wächst

03.02.2016
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Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
In den Vorstandsetagen wächst die Sorge, dass branchenfremde Wettbewerber das eigene Geschäftsmodell untergraben, hat eine groß angelegte C-Level-Umfrage des IBM Institute for Business Value ergeben. Doch während den Verantwortlichen in der Theorie klar ist, dass sie sich neu aufstellen müssen, hapert es vielfach an der praktischen Umsetzung.

Die Angst geht um in den Führungsetagen vieler Unternehmen. Die Angst, dass plötzlich, wie aus dem nichts ein Wettbewerber auftaucht, der das eigene Geschäftsmodell komplett über den Haufen wirft und damit dem eigenen Unternehmen den Boden unter den Füßen wegzieht. Genau diese Angst vor der zerstörerischen Kraft branchenfremder Konkurrenten wird größer, will das IBM Institute for Business Value im Rahmen einer groß angelegten Umfrage festgestellt haben. Für die Studie "Redefining Boundaries: Insights from the Global C-suite Study" wurden in über 70 Ländern 5247 CEOs, CMOs, CFOs, und CIOs aus öffentlichen und privaten Unternehmen in 21 Branchen befragt.

"Das 'Uber-Syndrom' - wenn ein Mitbewerber mit einem völlig anderen Geschäftsmodell in Ihrer Branche auftaucht und Sie dem Erdboden gleichmacht", beschreibt Judy Lemke, Chief Information Officer (CIO) des US-Logistikunternehmens Schneider, ihre Sorge. Es sei sehr schwierig, vorherzusagen, wie sich die Wettbewerbslandschaft entwickeln werde, ergänzt der Chief Executive Officer (CEO) eines niederländischen IT-Unternehmens. Und Sony-Chef Kazuo Hirai sagt: "Disruptive Technologien könnten die Grundlagen unseres Geschäfts verändern und völlig unvorhersehbare Folgen haben, falls sie weitverbreitet werden."

Das Phänomen, das die Top-Manager hier beschreiben, hat viele Namen und lässt sich oft nur schwer greifen. "Uberisierung", "disruptive Innovation", "Industriekonvergenz" - das sind nur einige der Begriffe, die den Firmenlenkern derzeit Kopfzerbrechen bereiten. Dahinter steckt die Gefahr, dass neue Wettbewerber den unteren Bereich eines Marktes ins Visier nehmen und sich von dort unablässig nach oben arbeiten, wo sie letztendlich etablierte Anbieter verdrängen, sagt Clayton Christensen, Management-Guru und Professor an der Harvard Business School. Traten diese Effekte früher eher selten auf, sind sie heute an der Tagesordnung.

Früher sei die Konkurrenzsituation transparenter und damit einfacher gewesen, heißt es in der IBM-Studie. Das größte Risiko sei in der Vergangenheit das Auftauchen eines neuen Mitbewerbers aus der gleichen Branche mit einem besseren oder günstigeren Produkt oder Service gewesen. Diese Gefahr konnten Unternehmen in aller Regel schnell erkennen und abwehren, indem sie ihr Angebot an Produkten und Services verbesserten oder erweiterten beziehungsweise indem sie effizienter und einfallsreicher auf dem Markt agierten. Heute sehen Unternehmen die Konkurrenz oft erst dann, wenn es bereits zu spät ist. Grund genug also für die CxOs sich mit dem Uber-Syndrom auseinanderzusetzen, um besser einschätzen zu können, welche Folgen für die eigene Branche und das eigene Unternehmen drohen.

Die Grenzen zwischen den Branchen verschwimmen

Die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen einzelnen Branchen zunehmend verschwimmen, ist der IBM-Umfrage zufolge im Top-Management angekommen. Durch die Bank identifizierten alle Führungskräfte, vom CEO über die Finanz- und Personalverantwortlichen bis zu IT- und Marketing-Leitern sowie den COOs, die Branchenkonvergenz als den Trend, der das eigene Unternehmen in den kommenden drei bis fünf Jahren am stärksten verändern werde. In der Studie ist in diesem Zusammenhang von "digitalen Invasoren" die Rede. "Diese haben in der Regel einen zentralen Bestandteil der Wertschöpfungskette im Visier, umgehen die etablierten Anbieter und erobern die Kontrolle über die Kundenbeziehung, wodurch andere Anbieter irrelevant werden", schreiben die Studienautoren.

Digitale Riesen und kleine, aggressive Wadenbeißer

Es gibt zwei Typen dieser Invasoren: die digitalen Riesen und die kleinen aggressiven Anbieter, die "Wadenbeißer". Beispielsweise könnte der Online-Riese Amazon.com mit seinem Einstieg in den Lebensmittelversand den etablierten Handelsketten durchaus gefährlich werden. Genauso gefährlich seien indes die Wadenbeißer. Sie sind klein, smart und agil, heißt es in der Studie. Diese würden nicht durch eine traditionelle Infrastruktur behindert - allein deshalb, weil sie in aller Regel überhaupt keine Infrastruktur haben und brauchen, da sie die Assets anderer Anbieter nutzten. "Und sie sind schwierig zu erkennen - sie werden erste dann bemerkt, wenn sie zugeschnappt haben." Bestes Beispiel sei die Finanzbranche: Fintechs picken sich einzelne Aspekte aus dem Bank- und Versicherungsgeschäft heraus, wickeln diese deutlich effizienter und vor allem auch kundenfreundlicher ab - und könnten damit in der Summe die altehrwürdige Bankenbranche durchaus empfindlich treffen.

Mittlerweile glauben mehr als die Hälfte (54 Prozent) der befragten CxOs, dass größere Konkurrenz vor allem aus anderen Branchen kommen werde. Nicht einmal ein Drittel (29 Prozent) sieht diese Gefahr aus der eigenen Branche kommen. Vor zwei Jahren war das Verhältnis noch fast ausgeglichen - 43 Prozent zu 39 Prozent.

Technik ja, aber welche?

Als zentrale Kraft hinter den anstehenden Veränderungen sehen die Manager technologische Faktoren. Die Aussage, dass Technik ihr Geschäft in den nächsten Jahren massiv verändern wird, unterschreiben drei Viertel der befragten Führungskräfte. Während die Bedeutung der Technik unbestritten ist, sind sich die CxOs allerdings unsicher, wie sich die Technik auswirken wird. Die Befragten sprechen davon, mit einem "technologischen Ansturm" fertig werden zu müssen, und der Angst, möglicherweise auf das falsche Pferd zu setzen und damit das eigene Unternehmen in Schwierigkeiten zu bringen.

Einsetzen wollen die Unternehmensverantwortlichen technische Hilfsmittel vor allem dafür, um ein engeres Band zu den eigenen Kunden zu knüpfen. Den meisten geht es darum, eine stärker digitalisierte und individualisierte Kundenerfahrung zu schaffen. Darüber hinaus wollen sich die CxOs stärker außerhalb des eigenen Unternehmens nach Innovationen umsehen und enger mit Partnern zusammenarbeiten, um Zugang zu Innovationen zu bekommen. "Wenn wir Einzelkämpfer bleiben, stößt unser zukünftiges Wachstum an Grenzen", zitiert die Studie den CIO eines chinesischen Konsumgüterunternehmens. "Wir müssen mit anderen Unternehmen zusammenarbeiten."

Das hat auch Auswirkungen auf die Organisation und die Kultur in den betroffenen Firmen. Viele Manager bestätigen, dass künftig eine stärker dezentralisierte Entscheidungsfindung notwendig sei. Ein konventionelles hierarchisches Management sei heutzutage nicht mehr zeitgemäß, wenn ein Großteil des Werts eines Unternehmens in den Netzwerken liege, die es geknüpft habe, und nicht in den Ressourcen, die es besitze.

Security rückt stärker ins Blickfeld

Die Techniken mit dem größten Veränderungs- und Innovationspotenzial sind aus Sicht der befragten Manager die Cloud (63 Prozent), mobile Lösungen (61 Prozent) und das Internet of Things (57 Prozent). Bei aller Technikeuphorie gibt es allerdings auch eine Schattenseite. Tauchten in der vorhergehenden C-Suite-Study aus dem Jahr 2013 Sicherheitsprobleme nur ganz am Rand des Radars der CxOs auf, stehen sie zwei Jahre später im Brennpunkt des Interesses. Gut zwei von drei Managern sehen IT-Sicherheitsrisiken als größte Gefahr. "Je mehr Dinge vernetzt sind, desto anfälliger sind wir alle", brachte es der Chief Marketing Officer eines australischen Finanzdienstleisters auf den Punkt.

Insgesamt tun sich die Firmenlenker jedoch schwer, Ausmaß und Auswirkungen der bevorstehenden Veränderungen richtig einzuschätzen. "Es ist unmöglich vorherzusagen, was sich auf unser Unternehmen auswirken wird, weil es so viele Variablen gibt", gab der Manager einer südafrikanischen Bank zu. In ihren Bemühungen, an dieser Stelle mehr Klarheit zu gewinnen, seien die CxOs allerdings noch zu stark althergebrachten Methoden verhaftet, monieren die Studienautoren. Beispielsweise nutzten gerade einmal die Hälfte der Befragten Simulationen (51 Prozent) und Prescriptive Analytics (46 Prozent). Verfahren wie Crowd-Sourcing (23 Prozent) und Cognitive Computing (13 Prozent) seien noch deutlich seltener in Gebrauch.

Des Weiteren baue nur jeder zweite Manager auf das Feedback seiner Kunden, um neue Trends zu ermitteln. Dabei hätten in der vorangegangenen Umfrage sechs von zehn befragten Unternehmenslenkern erklärt, sie wollten sich aktiver mit den eigenen Kunden beschäftigen und die daraus resultierenden Erkenntnisse in die eigenen Geschäftspläne einbauen. Das sei allem Anschein jedoch nicht passiert, so das Fazit der Studie. Hier bestehe immer noch eine Lücke, die es zu schließen gelte.

Die Ubers uberisieren

Auch mit der Umsetzung von Veränderungen tun sich viele Unternehmen offensichtlich schwer. "Am schwierigsten ist die Auswahl des richtigen neuen Geschäftsmodells", sagte der COO einer landwirtschaftlichen Genossenschaft in Frankreich. Auch die Sorge, zu viel und zu früh zu investieren oder bestehende Umsatzströme zum Versiegen zu bringen, hemmt die Manager. Neben dem finanziellen Rahmen dreht sich vieles um die Organisation der Veränderung. Etliche CxOs merkten in der Umfrage an, wie schwierig es sei, neue Modelle innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen des Unternehmens zu testen.

Sich mit neuen Ideen im eigenen Unternehmen zu verschanzen, sei jedoch ein Kardinalfehler, warnen die Studienautoren. Um ein erfolgreiches neues Geschäftsmodell zu entwickeln, müsse man für gewöhnlich außerhalb der normalen Unternehmensumgebung experimentieren. Es gelte, zahlreiche unterschiedliche Ideen zu entwickeln und zu testen, die vielversprechendsten Ideen weiterzuverfolgen und sie erst dann in die Tat umzusetzen, wenn man überzeugt sei, dass sie in der Praxis funktionierten.

Oft hätten die Unternehmen auch eine zu eingeschränkte Sicht auf ihre Optionen. Scheuklappen erlaubten vielfach nur den Blick auf die Wertschöpfungskette weiter oben, statt auch einmal in die andere Richtung zu sehen. Die IBM-Studie führt an dieser Stelle den Tomatenmarkhersteller Morning Star an. Als das Unternehmen mit Lieferproblemen zu kämpfen hatte, begann es kurzerhand, selbst Tomaten anzubauen. Mit Erfolg: Mehr Sorten mit verschiedenen neuen Geschmacksrichtungen führten letzten Endes zu einer deutlich breiteren Produktpalette.

Der Fokus auf die Basis des eigenen Geschäfts hat aus Sicht der Studienurheber noch einen weiteren Vorteil: Wenn man in der Wertschöpfungskette weiter nach unten rückt, kann man sich zudem besser gegen die "Wadenbeißer" verteidigen, von denen viele die unteren Marktsegmente im Visier haben, schreiben sie. Die Kontrolle der unteren Bereiche der Wertschöpfungskette verkleinere die Schlupflöcher, durch die digitale Invasoren schlüpfen könnten. Doch diese Erkenntnis ist noch nicht weit verbreitet. Nur wenige CxOs würden darüber nachdenken, geschweige denn konkret planen, eine völlig neue Kundengruppe anzusprechen oder in eine neue Branche einzusteigen. "Die große Mehrheit der CxOs hat offenbar keine Ambitionen, die 'Ubers' selbst zu 'uberisieren'."