IT-Forschung/Auch Biocomputing will die Natur kopieren

Die Forschung ist auf dem Weg zum informationserzeugenden System

28.07.2000
Immer mehr Computerwissenschaftler verschreiben sich der Devise "Lernen von der Natur". Sie versuchen, Erkenntnisse der Bio- und Humanwissenschaften zu nutzen, um selbständige und lernfähige Systeme zu schaffen. Johannes Kelch* hat diesen viel versprechenden Forschungszweig durchleuchtet.

Um gegen zerstörerische Computerviren endlich ein probates Mittel zu finden, studieren Wissenschaftler am IBM-ThomasJ.-Watson-Forschungszentrum in New York Biologie. Beim Designen von Abwehrsystemen gegen Computerviren lassen sich die Forscher von den Fähigkeiten des menschlichen Immunsystems inspirieren, pathogene Organismen zu zerstören.

Von biologischen Systemen zu lernen erfreut sich auch in der Robotik großer Beliebtheit. Stählerne Gesellen sollen - geformt nach dem Vorbild eines vernunftbegabten Wesens - zum nützlichen Begleiter oder sogar Stellvertreter des Menschen werden. Das Sony Computer Lab in Paris versucht mit dem "Talking Heads Experiment", die künstliche Intelligenz und den Spracherwerb von Robotern zu trainieren. Zwei Roboterköpfe mit Kamera beobachten Gegenstände, die sich bewegen, erzählen sich, was sie sehen, und schlagen in Wörterbüchern nach. Direktor Luc Steels: "Ziel des Experiments ist, dass alles emergiert", das heißt, eine höhere Stufe erreicht - Begriffe, Grammatik, Lexikon, Repertoire anlaufen.

Das Institut für autonome intelligente Systeme (AIS) der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) will Robotern beibringen, wie Menschen aus ihren Erfahrungen zu lernen und aus mehreren Handlungsalternativen auszuwählen. Institutsleiter Thomas Christaller: "Unser wissenschaftliches Ziel besteht da-rin, zu erklären, wie Autonomie erreicht werden kann, und darauf aufbauend informationstechnische Systeme zu realisieren."

Lernen von der Natur ist keine ganz neue Idee. Schon seit ihren Anfängen orientiert sich die Informationstechnik an lebendigen Vorbildern. Alle Bemühungen um die Künstliche Intelligenz kreisen um die Idee, die neuronale Informationsverarbeitung durch Sinnesorgane, Nerven und Gehirn zu verstehen und zu imitieren.

Doch in den letzten Jahren hat sich die Neugier der Informatik auf die "Leitwissenschaft Biologie" deutlich verstärkt. Computerexperten lassen sich heute nicht nur durch die Neurophysiologie leiten, sondern auch durch Immunologie, Genetik und Biochemie sowie andere Abteilungen der Biologie. Darüber hinaus liefern Wissenschaften wie Psychologie und Ethologie immer mehr und vielfältigere Ideen für eine bessere digitale Informationsverarbeitung.

Das wachsende Interesse an den Bio- und Humanwissenschaften ist allzu verständlich. Denn die über Jahrmillionen perfektionierte biologische Informationsverarbeitung ist an Raffinesse, Vielfalt und Leistungsfähigkeit unübertroffen.

Schon bei der Aufnahme von Informationen ziehen einzelne Zellen, Organe oder Lebewesen über Sensor-Rezeptor-Mechanismen hochselektiv nur jene Signaleigenschaften aus der Umwelt, die für sie von Bedeutung sind und bleiben deshalb vor einer unnützen Datenflut verschont.

Die Natur macht es lebenden Organismen mit einer Vielzahl von Gedächtnis- und Speichersystemen möglich, in ihrem Verhalten auf frühere Erfahrungen zurückzugreifen. Neben dem genetischen Code und dem Immungedächtnis hält das neuronale Gedächtnis wichtige Informationen vor. Durch die verteilte Informationsspeicherung in verschiedenen Systemen und Subsystemen - ja sogar in jeder Zelle - weisen Organismen ein hohes Maß an Robustheit auf. Gespeicherte Informationen sind gut geschützt vor Datenverlust.

Trotz der permanenten Anpassung an die Umwelt sind Lebewesen und vor allem der Mensch nicht auf die bloße Reaktion auf äußere Signale beschränkt. Im Gegenteil: Sie verfügen über ein hohes Maß an Autonomie. Bei ihrem Verhalten spielen die internen Ziele und die Bewertung der von außen aufgenommenen Informationen eine entscheidende Rolle. Als Resultat einer höheren Form der Informationsaufnahme und -verarbeitung verfügt der Mensch über Wissen, das heißt bewertete und in Zusammenhänge gestellte Information.

Die Erfolge der erst wenige Jahrzehnte alten digitalen Informationsverarbeitung sind zwar ebenfalls unbestreitbar: Die Verarbeitung von Bits als klar benennbaren und adressierbaren Informationselementen in getakteten Prozessoren nach genau festgelegten Algorithmen hat sich weltweit durchgesetzt. Doch immer stärker dämmert es Computerwissenschaftlern, dass das Rechnen in Bits und Bytes den Anforderungen der Menschen an eine optimale IT nicht gerecht werden kann.

Sogar ein Supercomputer ist nicht in der Lage, sich an seine Umwelt anzupassen. Selbst ein mit Spezialsoftware hochgerüsteter PC ist nur in eingeschränktem Umfang lernfähig. Von den vielfältigen Gedächtnissystemen der Natur ist der universell nutzbare Speicher eines heutigen Computers weit entfernt. Gleiches gilt für Autonomie im Sinne von Handlungsfreiheit. Von der höheren Informationsverarbeitung, die zu umfangreichem und detailliertem Wissen führt, kann überhaupt keine Rede sein. Und einem absturzgefährdeten Rechner von heute fehlt generell die Robustheit eines biologischen Systems.

So prognostiziert eine 1999 veröffentlichte Studie, dass sich die Informationstechnik künftig mit diesen gravierenden Defiziten nicht mehr abfinden wird. Drei namhafte Forschungseinrichtungen haben an der Untersuchung mit dem Titel "Bioinformation - Problemlösungen für die Wissensgesellschaft" mitgewirkt: das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe, die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) und das Institut für medizinische Psychologie der Universität München.

Das hochkarätige Autorenteam zieht aus Expertenbefragungen den Schluss, dass die technische Informationsverarbeitung mittelfristig eine völlig neue Entwicklung nehmen wird. Demnach wird die herkömmliche Rechnerarchitektur, die sich bei der Verarbeitung von Bits bewährt hat, überwunden oder zumindest ergänzt werden.

Laut Endbericht beklagte nur eine Minderheit der befragten Experten "klassische Defizite" der Informationstechnik wie zu geringe Speicherdichten und zu langsame Rechengeschwindigkeiten. Dagegen forderte die Mehrzahl "prinzipiell andere Strukturen".

Nach der Darstellung von Thomas Christaller, der an der Studie mitgewirkt hat, sind Menschen und andere Lebewesen als "informationserzeugende Systeme" eine besondere Herausforderung der Forschung. Während Computer vorgegebene Informationen nach vorgegebenen Regeln "verarbeiten", "erzeugen" Menschen während ihres Wachstums in ihrem Inneren Vorstellungen von der Welt und lernen sich frei in dieser Welt zu bewegen. In der Forschung - etwa bei Sony in Paris - werde nun versucht, derartige "informationserzeugende Systeme" künstlich nachzubilden.

Für das neue Arbeitsgebiet rund um Biologie und Informatik ist in Deutschland spätestens seit der Studie aus dem Jahr 1999 der Fachbegriff "Bioinformation" aktuell (nicht zu verwechseln mit Bioinformatik, jener Disziplin, die sich der informationstechnischen Unterstützung der Bio- und Humanwissenschaften und vor allem der Genomforschung widmet). Auch im angelsächsischen Sprachraum hat sich noch kein einheitlicher Begriff durchgesetzt. Hier ist mal von "Bioinspired Computing", mal von "Biologically Motivated Computing" oder schlicht von "Biocomputing" die Rede.

Anklänge an die Biologie sind schon bei Konzepten wie den "künstlichen neuronalen Netzen" und "genetischen Algorithmen" erkennbar, die sich vor längerer Zeit durchgesetzt haben. Die Biologie kommt bei diesen Konzepten jedoch nur als Ideen- oder Stichwortgeber ins Spiel. Deshalb bezeichnet die Studie zur Bioinformation diese "metaphorischen Bezüge auf die Biologie" als Sackgasse: "Obwohl genetische Algorithmen und genetisches Programmieren klar von biologischen Prinzipien inspiriert sind, beanspruchen sie heute keineswegs, eine realistische Kopie der belebten Natur zu sein."

Demgegenüber feuert die Studie die Forschung an, insbesondere die "Ansätze in der IT mit mehr Biologienähe" zu verfolgen. Sie bewertet die direkte Zusammenarbeit mit Biologen und die grundlagenorientierte Forschung mit mittel- bis langfristigen Anwendungszielen als viel versprechenden Weg.

Biologische Systeme als Wegweiser der ForschungDas Vorhaben, biologische Systeme als "Wegweiser" für Forschung und Entwicklung in der IT zu nutzen, hat allerdings noch einen gewaltigen Haken. Zwar steigt der "Bio-Push" aus den Bio- und Humanwissenschaften, aber die bislang verfügbaren Forschungsergebnisse reichen noch bei weitem nicht aus.

Laut Studie sind die Leistungen der biologischen Informationsverarbeitung zwar "in großer Breite experimentell untersucht". Es bleibe aber einzuräumen, "dass die Prinzipien, die diesen Leistungen zugrunde liegen, erst zu einem relativ geringen Teil wirklich verstanden sind". Es werde noch lange dauern, bis das "Fernziel einer biologischen Informationstheorie" erreicht ist.

Was also sollen Informatiker tun, solange es eine "systemorientierte biologische Informationstheorie" noch nicht gibt? Die Verfasser der Studie schlagen den Computerwissenschaften vor, sich vorerst auf das Abkupfern "spezieller Vorbildsysteme" zu kaprizieren. Sie denken dabei an das Immunsystem oder die "künstliche Nase". Lohnenswert sei bereits die Imitation von Einzeleigenschaften von Subsystemen. Als Beispiel genannt werden "inhomogene CCD-Sensoren nach dem Vorbild der Retina".

Durch das Kopieren struktureller Grundeigenschaften würden auch bestimmte funktionale Leistungen von den biologischen Vorbildern auf die künstlichen informationsverarbeitenden Systeme übertragen. Die Vielfalt der biologischen Realisierungen - resümiert die Studie - biete "ein nahezu unerschöpfliches Potential, um daraus eine Vielzahl technischer Anwendungen ableiten zu können".

*Johannes Kelch ist freier Journalist in München.

Engagement der IndustrieDie von der Biologie inspirierte Informationsverarbeitung wird auf lange Sicht eine herausragende Bedeutung erlangen. Sie wird nicht nur Nischenprodukte hervorbringen, sondern von der Sensorik bis zur Systemebene die gesamte IT beeinflussen. In den USA und in Japan wird deshalb von Unternehmen bereits viel auf diesem Feld getan. Anders ist das in Deutschland: Die Wirtschaft engagiert sich hierzulande noch zu zaghaft und zögerlich. Experten fordern deshalb eine rasche Umorientierung: "In der Industrie muss eine "Absorptionskapazität" beziehungsweise Ankopplungskompetenz ausgebaut werden, damit die Ergebnisse der öffentlichen Forschung nicht ins Leere laufen" (aus der Studie: "Bioinformation - Problemlösungen für die Wissensgesellschaft").