Die Mikroelektronik schafft den Anschluß nicht

Die Förderungspolitik gerät unter heftigen Beschuß

15.12.1989

BERLIN - Nach der politischen Wende in der DDR sind auch die Forschungs-, Entwicklungs- und Investitionsaktivitäten der früheren DDR-Führung ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Dabei wird vor allem die einseitige Förderung der Mikroelektronik angeprangert, weil hier Entwicklungen auf Kosten anderer Wirtschaftsbereiche vorangetrieben wurden.

Trotz des Milliarden-Aufwandes blieb die Mikroelektronik in der DDR ein "Faß ohne Boden" und der bereits seit Jahren angestrebte Anschluß an das Leistungsniveau führender westlicher Industrieländer eine Fiktion. Alle Anzeichen deuten daher darauf hin, daß insbesondere für das Megabit-Projekt, dem Steckenpferd der einstigen SED-Führung, keine weiteren Mittel zur Verfügung stehen.

Bereits vor der politischen Wende wurden in der DDR erste Zweifel an der einseitigen Förderung der Mikroelektronik laut (siehe COMPUTERWOCHE 41/89, Seite 105 und 107). Insgesamt 14 Milliarden DDR-Mark wurden bekanntlich für den Aufbau neuer Produktionsstätten im Südosten Erfurts, für die Entwicklung und Produktion von 64 und 256 KB RAMs und anderer Leistungschips während der achtziger Jahre bereitgestellt; allein elf Milliarden Mark bis Herbst l988 für das Megabit-Projekt.

Schaden für die Volkswirtschaft

Erst jetzt wird von renommierten DDR-Wissenschaftlern offen eingeräumt, daß es nichts bringe, "wenn wenige technologische Spitzen vielleicht zu Lasten anderer Entwicklungen wie Bohnenstangen hochgetrieben werden", so Professor Siegfried Schiller, Institut Manfred von Ardenne, Dresden. Vielmehr wird laut Professor Karl Morgenstern, TU Dresden, durch das "Hochpeitschen neuer Strukturlinien" ohne Rücksicht auf die vorhandenen wirtschaftlichen Möglichkeiten ein "schwerer Schaden" für die Volkswirtschaft der DDR entstehen. Nach jüngsten Veröffentlichungen und Berichten der dortigen Medien ist bereits erheblicher Schaden entstanden. Wie es unter anderem heißt, habe die DDR jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Dies bewirkte einen Produktivitätsrückstand zur Bundesrepublik von 50 Prozent.

Eine erst jetzt, unter anderen auch in Radio DDR II von Professor Wolfgang Marschall vorgestellte Studie über den Stand der Mikroelektronik in der DDR, wurden die früheren Aktivitäten als "Effekthascherei" und als "Berauschen an technisch-technologischen Teilerfolgen" bewertet. Die Mikroelektronik sei zudem "immer eine Art Faß ohne Boden geblieben, und zwar ein Faß, das ständig großer ..., breiter und tiefer" wurde. Fazit: Es sei klar, "daß es so wie bisher nicht weitergehen kann".

Betroffen von den nunmehr zu erwartenden einschneidenden Veränderungen ist zweifellos das Megabit-Projekt, für dessen Weiterführung von Professor Biermann, Generaldirektor des Kombinates Carl Zeiss Jena, noch im Herbst 1988 bei der Vorstellung des Labormusters eines l-Megabit-Chips weitere Milliarden angemeldet wurden. Für Biermann ist auch unter den gegenwärtigen Bedingungen und nicht zuletzt mit Blick auf Cocom die Weiterentwicklung der Mikroelektronik in der DDR "keine Frage des Wollens oder Könnens, sondern eine des Müssens". Seine Feststellung Anfang November: "Persönlich glaube ich auch, die DDR braucht über das 4-Megabit-Niveau nicht hinauszugehen."

Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Misere und noch nicht gelöster Probleme bei der Fertigung von 256 KB RAMs wird man sich wohl mit diesem Niveau zufrieden geben müssen. Darüber hinaus steht noch nicht fest, wie man sich zum Beispiel bei der für 1990 geplanten Verdopplung der Produktion der noch im September 1989 vorgestellten ersten eigenen 32-Bit-CPU entscheiden wird. Robotron beabsichtigt, schon zur kommenden Leipziger Frühjahrsmesse einen auf Basis von 32-Bit-Laborchips entwickelten neuen Rechner vorzustellen. Bereits 1987 wurde mit dem 32-Bit-Supermini RVS 1840 (DEC-VAX-11/780 kompatibel) ein erster 32-Bit-Rechner gezeigt.

Wenn gegenwärtig in der DDR frühere einseitige Entwicklungen kritisiert werden, dann erhebt sich die Frage, ob hiervon nicht auch die Fertigungsautomatisierung gemeint ist. Nutznießer einer intensiven Unterstützung waren bisher besonders Betriebe aus den Bereichen Elektrotechnik/Elektronik/Gerätebau, Chemieanlagenbau oder Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau.

Fertigungsautomatisierung wurde hier zweifellos zu Lasten anderer Industriebereiche realisiert. Nicht umsonst monierten kritische Stimmen, daß beispielsweise CIM-Projekte gefördert würden, während in einer Vielzahl von Betrieben die Produktion mit Hilfe überalterter und daher reparaturanfälliger Kapazitäten gefahren werden mußte.

Hauptargument für diese Förderungspolitik war, daß gerade solche Betriebe unterstützt werden müssen, deren Produktion stark exportorientiert ausgerichtet ist. Daran wird sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Wie Professor Ulrich, Direktor des Forschungszentrums des Werkzeugmaschinenbaues der DDR, auf einer gemeinsam mit dem NCG-Verein Ulm in West-Berlin am 1. Dezember 1989 veranstalteten Pressekonferenz unter anderem betonte, wird die rechnerintegrierte Fertigung, wie beispielsweise im Stammbetrieb des Heckert-Kombinates, eine Zielstellung bleiben. Um die hiermit verbundenen Aufgaben lösen zu können, hoffe man auf politische Lösungen, insbesondere auf eine Lockerung der Cocom-Bestimmungen. Notwendige Schaltkreise zur Ausrüstung von leistungsfähigen Automatisierungskomponenten müßte man dann in der Tat bei Verzicht auf eine weitere eigene Schaltkreisentwicklung von westlichen Anbietern beziehen können. Insbesondere die Forderungen des europäischen Binnenmarktes zwingen auch hier die DDR zu neuen Konzepten.

Ausdruck der sich verstärkenden deutsch-deutschen Zusammenarbeit ist unter anderem eine Kooperation des NCG-Vereins mit dem Forschungszentrum des Werkzeugmaschinenbaues der DDR. Der NCG-Verein als Interessenvertreter, so hieß es, sieht in den ersten konkreten Ansätzen der Zusammenarbeit mit Firmen und Institutionen aus der DDR einen vielversprechenden Anfang, der durch die tagespolitische Dynamik eine enorme Weiterentwicklung bringen kann.

Enge Kooperation mit Comecon-Ländern

Er mißt daher insbesondere einer Kooperation mit dem "lnternationalen Kongreß Metallverarbeitung (IKM 90)", der vom 8. bis 10. März 1990 in Karl-Marx-Stadt stattfinden soll, große Bedeutung bei.

Kooperationsbereit zeigten sich DDR-Vertreter kürzlich auch auf einer Veranstaltung der IHK-Hannover-Hildesheim, die der Vorbereitung einer Gemeinschaftsausstellung mittelständischer niedersächsischer Firmen auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1990 diente. Hier geht es um die Präsentation von Meß- und Automatisierungstechnik, von der man sich nach Aussagen des Leipziger Messeamtes und der Außenhandelskammer der DDR viele Entwicklungsanregungen verspricht. Bereits auf der vergangenen Frühjahrsmesse war Niedersachsen in Leipzig mit Meß- und Automatisierungstechnik vertreten.

Kennzeichnend für die DDR-Wirtschaft ist, daß sie stark in den Comecon eingebunden ist. Auch die künftige Wirtschaftspolitik Modrows baut auf einer weiteren Kooperation mit Comecon-Ländern, insbesondere mit der Sowjetunion, auf. Grund hierfür war und ist insbesondere die starke Abhängigkeit der DDR von sowjetischen Rohstofflieferungen. Als Gegenleistungen mußten zum Beispiel Fertigerzeugnisse wie Rechentechnik, Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinen und flexible Fertigungssysteme in die UdSSR exportiert werden. Rund sechzig bis siebzig Prozent beträgt der Exportanteil der Erzeugnisproduktion der Kombinate des Werkzeugmaschinenbaues.

Mithin hatte sich die DDR von Anfang an den Bedürfnissen des Comecon-Marktes angepaßt. Zwingende Neuerungen wurden daher in der Regel erst mit einem zeitlichen Abstand zum Automatisierungsniveau führender westlicher Industrieländer durchgesetzt. So mußten Werkzeugmaschinen für westliche Kunden mit teurer Steuerungsintelligenz aus dem Westen komplettiert werden, um auf diese Weise wettbewerbsfähig zu bleiben. Änderung soll hier nach Vorstellungen von DDR-Automatisierungsfachleuten auf der letzten Leipziger Frühjahrsmesse die neue 16-Bit-Steuerung SPS 7000 aus dem VEB Numerik Karl-Marx-Stadt, einem Produktionsbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinates "Fritz Heckert", bringen.

Die Bürokratie hemmt Initiativen

Ob das kurzfristig möglich ist, erscheint auch Optimisten in der DDR fraglich. Der Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau, traditioneller Devisenbringer und Aushängeschild der DDR, beklagt bereits seit einiger Zeit seine nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit und einen spürbaren Rentabilitätsverlust. Die Gründe hierfür sind zweifellos in dem bisherigen bürokratischen und überzentralisierten Planungssystem zu suchen, das echte unternehmerische Initiativen unmöglich machte. Die neuen Wirtschaftsplaner wollen daher frühere Probleme wie mangelnde Termintreue, ausbleibende Ersatzteillieferungen, mangelnde Risikobereitschaft und eine Betriebswirtschaft auf der Basis staatlich festgelegter Preise und manipulierter beziehungsweise "geschönter" Daten sowie einer Vielzahl von Kennziffern und Normativen möglichst kurzfristig beseitigen.