Siemens-Prognose: Das Computer-Zeitalter kommt erst:

Die DV-lntegration steht und fällt mit den Spezialisten

27.04.1979

HANNOVER (ee) - Ungelöste Software-Technologien und ein wahrscheinlich nicht zu vermeidender Engpaß bei der Ausbildung von DV-Spezialisten: Dies prägt nach Auffassung von Dr. Anton Peisl, Vorstand des Siemens Unternehmensbereich Daten- und Informationssysteme die EDV-Landschaft der 80er Jahre. Peisl kam in einem Vortrag, den die COMPUTERWOCHE hier verkürzt wiedergibt, in Hannover zu der optimistischen Auffassung, daß dennoch "das Computer-Zeitalter erst kommt".

Die wirklich tiefe Durchdringung der entwickelten Volkswirtschaften mit elektronischer Datenverarbeitung wird erst in den 80er Jahren stattfinden! Im kommenden Jahrzehnt wird man den heutigen EDV-Einsatz rückblickend als eine Vorstufe für das eigentliche Computer-Zeitalter ansehen. Mit anderen Worten: Der Höhepunkt der EDV-Anwendung ist noch lange nicht erreicht.

Wie kann man sich das EDV-Szenarium der 80er Jahre konkret vorstellen?

1. Es werden neue Kundenkreise für den EDV-Einsatz gewonnen.

2. Die bisherigen Anwender werden die EDV in Quantität und Qualität noch sehr viel intensiver nutzen als bisher.

Wir schätzen, daß der Weltumsatz der Datenverarbeitungsindustrie, der heute bei etwas mehr als 100 Milliarden Mark pro Jahr liegt, sich im nächsten Jahrzehnt verdoppeln wird. Kapazität und Leistung der einzelnen DV-Systeme werden sich weiterhin steil nach oben bewegen.

Die jährliche Zuwachsrate in der großen Datenverarbeitung wird auch in den 80er Jahren unvermindert bei etwa 10 Prozent liegen, die für die kleine und mittlere Datenverarbeitung in der Nähe von 20 Prozent. Diese Wachstumsraten weist der EDV-Markt in Westeuropa schon heute auf, wobei ich en passant erwähnen darf, daß Siemens sein Datenverarbeitungsgeschäft derzeit überdurchschnittlich ausweiten kann. Wir erwarten auf diesem Gebiet im laufenden Geschäftsjahr eine Zunahme des Auftragseingangs um 20 Prozent und des Umsatzes um 15 Prozent.

In den USA ist die Computerdichte das heißt die Relation zwischen installiertem Computerbestand und der Zahl der Erwerbstätigen, heute noch um 60 Prozent größer als in der Bundesrepublik Deutschland. Ich rechne damit, daß diese Differenz im nächsten Jahrzehnt weitgehend verschwinden wird.

In der Wirtschaft wird in den 80er Jahren die EDV in den meisten gewerblichen Betrieben, das heißt auch in den mittleren und kleinen vertreten sein, und selbst in die Handwerksbetriebe vordringen. Außerdem werden auch die freien Berufe wie Anwälte, Ärzte; Makler, Berater die EDV in geeigneter Form nutzen.

Beispielhaft nun einige wichtige Tendenzen des EDV-Einsatzes im kommenden Jahrzehnt:

- Der quantitative Schwerpunkt des EDV-Einsatzes der Zukunft wird weiterhin in der Rationalisierung, das heißt in der Beschleunigung und Verbilligung von Verwaltungsvorgängen, von organisatorischen Abläufen liegen. Ein besonderer Schwerpunkt des EDV-Einsatzes wird die öffentliche Verwaltung bleiben.

- Besonders wichtig ist der EDV-Einsatz zur Lösung der globalen wirtschaftlichen und politischen Probleme am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, nämlich die verbesserte Nutzung der Ressourcen und der Umweltschutz.

- Der EDV-Einsatz für die naturwissenschaftlichen und technischen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten wird generell anwachsen.

- Die EDV wird dazu verhelfen, den allgemeinen Informationsstand der Gesellschaft zu erhöhen.

- Eine besonders rasche Verbesserung müssen und werden EDV-Hilfen zur Erhöhung der öffentlichen und individuellen Sicherheit gegenüber Straftaten bringen.

- Seit der allgemeinen Einführung der Datenverarbeitung in die medizinische Technik wird diese auch als Auswertungshilfe für die medizinische Diagnostik genutzt.

Funktionell betrachtet wird die EDV in den 80er Jahren folgende Tendenzen zeigen:

Netzwerke:

- Der Einzelrechner wird zunehmend durch den Rechnerverbund abgelöst werden was in der Branche auch mit "verteilter Datenverarbeitung" bezeichnet wird. Die einzelnen EDV-Produkte und die aus ihnen aufzubauenden Rechnernetze können schon heute technisch so gestaltet werden, daß sie sich jeder vom Organisator gewünschten Zentralisierungs- oder Dezentralisierungskonzeption anpassen lassen. Wichtig auch, daß in den 80er Jahren die Realzeitverarbeitung, das heißt die prozess- oder ablaufbegleitende EDV, dominieren wird. Die EDV der Zukunft wird zwar nach wie vor großvolumige Stapelverarbeitungsprozesse bearbeiten, doch der Einsatzschwerpunkt wird die Realzeitanwendung sein: Hier ist sie integrierter Bestandteil des Prozesses des Produktions- und Verwaltungsablaufs.

Jumbos wachsen

- Trotz der raschen Verbreitung von Terminals und trotz der raschen Zunahme von kleinen und mittleren Rechnern wird der große Rechner, der Jumbo, eine große Zukunft haben, wahrscheinlich wird seine Bedeutung noch zunehmen. Unsere Analysen sagen uns, daß im nächsten Jahrzehnt die Hälfte des Wertes aller in der großen Datenverarbeitung installierten Anlagen auf die beiden obersten Größenklassen von insgesamt sechs Größenklassen entfallen wird. Der Grund hierfür liegt darin, daß das Durchschnittsvolumen der vom einzelnen Rechner zu bewältigenden Aufgaben weiter zunimmt und mit der Verbreitung von Terminals gleichzeitig die Notwendigkeit der Führung großer zentraler Datenbestände entsteht, die dezentral abgefragt und berichtigt werden können. Die hierfür notwendigen Verarbeitungsleistungen und Steuerungsfunktionen können in der Regel nur von großen zentralen Rechnern erbracht werden.

Ein weiterer sehr innovativer Bereich ist das Büro der Zukunft: Durch Kombination von Sprachkommunikation Text-, Bild- und Datenverarbeitung und ihren technischen Ausprägungen in Telefonterminals, in Text- und Kopiersystemen, in Bürocomputern mit Bildschirmarbeitsplätzen werden neue, rationellere Konzepte für die Struktur von Arbeitsplätzen und für die Ablauforganisation ermöglicht.

Auswirkungen der Datenverarbeitung auf Volkswirtschaft und Arbeitsmarkt

Welche Auswirkungen wird die geschilderte Entwicklung des EDV-Einsatzes auf die Volkswirtschaft und auf den Arbeitsmarkt haben?

Nach meiner Überzeugung wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in den 80er Jahren entscheidend davon abhängen, wie schnell und wie gründlich in unserem Land die erweiterten Möglichkeiten der Datenverarbeitung aufgegriffen und genutzt werden.

Bei nüchterner Betrachtung wird die Datenverarbeitung als das beste Mittel zur Rationalisierung in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung noch an Bedeutung gewinnen. Daneben muß sie aber auch - und das wird häufig unterschätzt - als einer der wichtigsten Katalysatoren für die Produkt- und Verfahrensinnovation in allen Bereichen gewertet werden.

Wir wissen, daß zu Beginn der 80er Jahre jeder zweite in der deutschen Wirtschaft Beschäftigte einen Büroarbeitsplatz haben wird. Wir müssen den Schwerpunkt unserer Rationalisierungs- und Innovationsbestrebungen auf diesen Sektor der Wirtschaft richten, wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen. Jeder, der sich dieser Erkenntnis verschließt, und sich der EDV nicht in dem durch den Stand der Technik möglichen Maße bedient, wird Nachteile haben, im Grenzfall aus dem Wettbewerb ausscheiden.

Auswirkung des EDV-Einsatzes auf Arbeitsmarkt und Berufsbilder:

Es wäre oberflächlich zu sagen, daß der Computer in Zukunft die Arbeitsplätze unberührt läßt. Offen gesagt, niemand in der Welt kennt genaue Zahlen über die noch kommenden Veränderungen der Arbeitswelt durch die Intensivierung des EDV-Einsatzes. Eines jedoch können wir sagen: Der Freisetzungseffekt durch die EDV wird im allgemeinen überschätzt. Aus gutem Grunde bin ich der Auffassung, daß es zu nachteiligen Veränderungen der gesamten Beschäftigungsstruktur durch den EDV-Einsatz auch in den 80er Jahren nicht kommen wird.

In Zukunft wird uns die Datenverarbeitung nämlich vor allem dazu verhelfen, die in Volumen und in Komplexität zunehmenden Arbeitsprozesse ohne weitere Erhöhung des Arbeitskräfteeinsatzes überhaupt zu bewältigen. Einen historischen Beweis für diese Behauptung liefern uns die USA: Sie sind uns, wie gesagt, in der Computerdurchdringung der Volkswirtschaft voraus, jedoch gibt es keine Anhaltspunkte für eine speziell durch den Computereinsatz in den USA induzierte Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Trotz der Erhöhung der Computerdichte sind in den letzten zehn Jahren dort 18 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden.

Die Aktivseite der Bilanz kann sich sehen lassen: Bis Anfang der 80er Jahre werden in der Bundesrepublik Deutschland rund 500 000 Arbeitsplätze direkt durch die EDV geschaffen, davon etwa zehn Prozent bei den Herstellern von Datenverarbeitungsanlagen und 90 Prozent bei den Anwendern. Allein zwischen 1978 und 1980 werden zirka 100 000 EDV-Spezialisten benötigt.

Voraussetzungen für die Datenverarbeitung in den 80er Jahren

Welche Voraussetzungen, welche Erwartungen müssen erfüllt werden, damit sich der Nutzen aus der zukünftigen EDV-Entwicklung tatsächlich so ergibt, wie ich es beschrieben habe?

Die Datenverarbeitungssysteme müssen noch billiger werden. Die meisten von Ihnen wissen, daß eben wieder ein kräftiger Verbilligungsschub für Computer auf dem Weltmarkt eingetreten ist.

Der Anwender selbst muß auch einigen Anforderungen entsprechen um sich den vollen Nutzen des EDV-Einsatzes zu sichern. Insbesondere muß das Wissen um die Datenverarbeitung und der von ihr zu bewältigenden organisatorischen Abläufe in den Führungsebenen zunehmen. Wirtschaftliche Effizienz bringt die EDV nur dann, wenn sie nach strengen ökonomischen Regeln behandelt wird. Grundvoraussetzung für ihren nutzbringenden Einsatz ist die logische Durchdringung des zu lösenden Problems, die Überprüfung der Aufgabenstellung auf Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit auf der Basis eines übergeordneten Organisations- und damit Unternehmenskonzeptes. Der beste Weg, den EDV-Einsatz in der Bundesrepublik weiter voranzutreiben, liegt nicht nur in der Bereitstellung neuer Produkte von seiten der EDV-Anbieter, er liegt vornehmlich in der Bewältigung von Konzeptions- und Entscheidungsfragen bei den Anwendern.

Die wichtigste Voraussetzung dafür, daß die tiefe EDV-Durchdringung der , Volkswirtschaft eintreten kann, ist die Verfügbarkeit einer ausreichenden Zahl von EDV-Fachleuten. Ich befürchte hier einen Engpaß, selbst wenn alle anderen Voraussetzungen, die ich genannt habe, erfüllt werden. Wir brauchen in unserem Lande eine noch wesentlich größere Zahl von Ausbildungsplätzen für Informatiker an Fachschulen und an Universitäten. Das Berufsbild des Informatikers mit all seinen spezifischen Ausprägungen sollte die Attraktion für gescheite und fleißige junge Menschen sein. Die Berufsaussichten in dieser Branche sind für die überschaubare Zukunft geradezu exzellent. Wer in diesem Fach etwas zu bieten hat und auch fleißig arbeiten will der wird es nicht verhindern können, daß er beruflich vorankommt und attraktive Einkommen erzielt.

Ich rechne damit, daß die durchschnittliche jährliche Preissenkung in den 80er Jahren für DV-Anlagen im Schnitt mehr bei zehn Prozent als bei fünf Prozent liegen wird.

Alles, was wir heute über die Halbleitertechnologie, die Basistechnologie für die EDV-Hardware wissen, läuft darauf hinaus, daß sich der Innovationszyklus im nächsten Jahrzehnt eher beschleunigen als verlangsamen wird.

Der Computer muß nicht nur billiger, er muß auch anwenderfreundlicher, komfortabler, leichter bedienbar werden. Ich sehe die größte Dringlichkeit in der Erhöhung der Akzeptanz des Computers durch die Erleichterung des Dialogs zwischen ihm und dem Anwender, und das ist primär eine Frage der Software, der Programme, mit denen wir dem Computer das befehlen können, was er dann wirklich tut.

Zum zweiten muß die Technik der Produktion von Software sowohl bei den EDV-Anbietern als auch bei den Anwendern noch wesentlich verbessert werden. Entwicklung, Anwendung, Dokumentation und Pflege von Computerprogrammen wird in Zukunft den größten Teil der Betriebskosten der EDV ausmachen. Heute fallen ungefähr 50 Prozent auf Hardwarekosten und 50 Prozent auf Softwarekosten, gegen Ende der 80er Jahre werden wir, wie schon vielfach vorausgesagt wurde, bei 80 Prozent Softwarekosten und bei 20 Prozent Hardwarekosten angelangt sein.

Es ist heute noch nicht abzusehen, ob und wann sich Softwareprodukte mit einem ähnlichen Trend verbilligen werden wie die Hardware. Der Grund liegt darin, daß bei der Produktion von Software die Personalkosten dominieren, und die steigen bekanntlich in allen Volkswirtschaften am schnellsten. Ein weitblickender DV-Anbieter wird daher der Entwicklung effizienter Software-Produktionsmethoden mindestens dasselbe Augenmerk widmen, wie der weiteren Verbesserung, das heißt der Verbilligung, Verkleinerung und Leistungssteigerung der DV-Hardware. Der große Durchbruch auf dem Gebiet der Softwaretechnologie kündigt sich weltweit bis heute noch nicht an. Dieses Thema ist und bleibt bis auf weiteres Nummer 1 im Fragenkatalog für den DV-Einsatz.