Die "Dominoreihe" des Fortschritts

02.06.1989

Prof. Ulrich Lohmar

Vorsitzender der Stiftung für Kommunikationsforschung, Forum für Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, Bonn

Unsere Gesellschaft ist arbeitsteilig gegliedert und wird von den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung wesentlich geprägt. Fernsehen, elektronische Datenverarbeitung, Nachrichtentechnik, die Pille, Kernenergie, Agrarchemie und Pharmazie haben unsere Art des Lebens und Zusammenlebens in den vergangenen Jahrzehnten weitgehender verändert als politische Programme von Regierungen oder Parteien.

Wer für unsere Gesellschaft einen gemeinsamen Nenner sucht, wird sie am besten als "wissenschaftliche Zivilisation kennzeichnen können. Sie ist der Handlungsrahmen für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

Naturwissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten folgen wie in einer Dominoreihe meist zuerst die Ökonomie, dann die gesellschaftlichen Organisationen und die Politik, zuletzt das Ausbildungswesen und das Recht. Dadurch hat sich eine Kluft vor allem zwischen technischer Innovation und öffentlicher Bewußtseinsbildung ergeben.

Manchmal haben wir auch eher die Konfiguration eines Halma-Spiels vor uns, aber in jedem Fall sind die beiden "Swinegel" Wissenschaft und Ökonomie eher am Ziel als die anderen "Hasen".

Neues Wissen und erweiterte Erfahrung entstehen somit nicht gleichzeitig, sondern mit Zeitabständen - selbst innerhalb von und zwischen Kooperationsfeldern.

Die Wirtschaft wird durch neue Technologien - insbesondere durch die Informationstechniken - zu einer veränderten Einschätzung ihrer Produktivfaktoren veranlaßt. Von alters her waren wir daran gewöhnt, neben dem Boden nur Kapital und Arbeit als solche Faktoren in Rechnung zu stellen. Aber mehr und mehr schiebt sich zwischen die beiden klassischen Gegebenheiten Kapital und Arbeit der Produktivitätsfaktor Wissenschaft und Technik.

Vor allem die Informationstechnologien führen zu einer veränderten Struktur der Arbeitsorganisation, ihrer Inhalte und Methoden. Ausbildung, technische und ökonomische Entwicklung sowie die organisationsformen dieser Bereiche müssen deshalb in neuer Weise aufeinander bezogen werden.

Information ist also zu einer Art neuem Rohstoff in den entwickelten Industrieländern geworden, der unbegrenzt vorhanden, verwertbar, vermehrbar und veränderbar ist, ohne die Abhängigkeit von Rohstofflieferanten wie beim Erdöl oder anderen Naturprodukten. Dieser Rohstoff kann, soweit zu sehen ist, am ehesten einen neuen Innovations- und Produktivitätsschub in den Industriegesellschaften auslösen. Aus dem Rohstoff Information können viele neue Produkte geschaffen und geformt werden.

Bislang weitgehend voneinander getrennte technische Bereiche wie EDV, Nachrichtentechnik, elektronische Medien, Kabel, Printmedien wachsen technisch zusammen und werden ergänzt durch neue Medien wie Satelliten Video oder Bildschirmtext.

Alle diese Medien, als Transportmittel für Inhalte verstanden, verschmelzen zu einem komplexen technischen Großmarkt, und die Anwendungsmärkte dieser Technologien verschränken sich parallel dazu in ungeahnter Weise. Texte, Daten, Sprachen und Bilder fügen sich in diesen neuen Rahmen der Arbeitsweise der Informationsgesellschaft.

Es entsteht der "Medienbaukasten". Er ist gekennzeichnet durch die Verknüpfung von Energie, Materie und Information und erlaubt, ökonomisch gesehen, die mehrfache oder vielfache Nutzung des gleichen inhaltlichen Angebots auf verschiedenen Wegen und Straßen des Kommunikationsnetzes.

Mit der enormen Vermehrung der Medienverkehrswege hat das inhaltliche und kreative Angebot in den Industriegesellschaften natürlich nicht in gleichem Maße Schritt halten können. Intelligenz ist eben nicht so leicht vermehrbar wie Technik.

Auch aus diesem Grunde ist das Prinzip der Mehrfachnutzung inhaltlicher Angebote unvermeidlich geworden.

Die Organisationsformen der vier Säulen unseres Medienbaukastens

- Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher)

- Hörfunk und Fernsehen

- elektronische Datenverarbeitung und Nachrichtentechnik

- neue Medien

sind allerdings bislang in den organisatorischen Gehäusen ihrer

jeweiligen Entstehungszeit verblieben technisch gegebenen Möglichkeiten einer vielfältigen Verbindung zwischen diesen vier Säulen und ihren Elementen werden ökonomisch, gesellschaftlich und politisch noch viel zu wenig genutzt, auch kulturell nicht.

So führen ARD und ZDF ihre Jahrestagungen getrennt durch, die elektronische Industrie ist organisatorisch in VDMA und ZVEI aufgeteilt, Buchverleger, Herausgeber von Zeitschriften und Zeitungen sind jeweils in besonderen Bundesorganisationen zusammengeschlossen - alle marschieren noch getrennt.

Es könnte sich erweisen, daß wiederum die Technik es ist die einen neuen Schub für die auch inhaltliche Ausformung und Nutzung des Medienbaukastens auslöst.

Die Deutsche Bundespost und andere bieten dafür eine neue Hieroglyphe an: ISDN. Die deutsche Post meint, dies sei das neue Nervensystem der Wirtschaft - warum eigentlich nur der Wirtschaft? Die Gründe, die zur Entwicklung von ISDN geführt haben, legt die Post gleichfalls offen: "Heutige Fernmeldenetze sind dienstspezifische Netze, also jeweils auf die Erfordernisse nur eines Fernmeldedienstes ausgerichtet. Je spezieller ein Netz hinsichtlich seiner Dienstmerkmale ist, desto deutlicher sinkt die Zahl der potentiellen Nutzer. Da die Bundespost gezwungen ist, alle Netze flächendeckend vorzuhalten, sind Einrichtungen und Erhaltung solcher Spezialnetze zwangsläufig teuer - teurer jedenfalls als nur ein Universalnetz für alle Dienste, bei dem sich die Kosten auf sämtliche Nutzer verteilen. Hier liegt der gedankliche Ansatz auf dem Wege von Netzen in Analogtechnik zum künftig digitalen Breitband-ISDN."

An anderer Stelle beschreibt die Post, was sie konkret vorhat: "An einen einzigen ISDN-Anschluß können bis zu acht Endgeräte angeschlossen werden. Zum Beispiel Telefone und andere ISDN-Endeinrichtungen wie Telefax, Teletex oder Datenübertragungsgeräte. Man kann problemlos von einem Dienst zu einem anderen wechseln, sogar während einer bestehenden Verbindung. Und man benötigt für alle Dienste und Geräte nur noch eine einzige Rufnummer. Trotzdem kann zu jedem Endgerät direkt durchgewählt werden."

Was die Verfechter der ISDN-Strategie hier formulieren, ist allerdings noch weitgehend Zukunftsperspektive. Verfügbar im Rahmen des späteren ISDN sind heute technische Einzelgeräte, nicht aber das Endgerät als Kombinat. So konzentriert sich beispielsweise die Deutsche Bundespost im Augenblick darauf, dem Kunden die Komforttelefone

schmackhaft zu machen, sozusagen als einen Design-Vorgeschmack auf ISDN.

Nimmt man die technische Zukunftsvision von ISDN aber einmal als bare Münze - wogegen wenig spricht -, dann bietet diese Kombinationstechnologie eine Reihe von Chancen, die das heutige Nebeneinander technischer Angebote und Kommunikationswege noch nicht enthält:

- ISDN bietet die Möglichkeit, arbeitsteiliges und damit nicht mehr zusammenhängendes Wissen bei einzelnen Menschen wieder zusammenzufügen.

- ISDN enthält die Chance zur Überwindung der Vereinzelung von Arbeitswissen und ermöglicht seine kooperative Kombination.

- ISDN stärkt die schon durch die Verbindung von Telekommunikation und Mikroelektronik geschaffene Entzerrung von Arbeitszeiten und Arbeitsorten. Die mit der Industrialisierung entstandene Trennung von Arbeit und Wohnort wird für viele aufgehoben werden können. Sie müssen nicht mehr zur Arbeit gehen, sondern die Arbeit kommt zu ihnen.

- ISDN wird auch neue Formen der Führung erleichtern. Die alten Hierarchien waren in ihrer Funktionsfähigkeit daran gebunden, daß der jeweilige Chef alle Fähigkeiten und Fertigkeiten seiner Mitarbeiter beurteilen konnte, also überall mit besserem oder gleich gutem Wissen nach dem Rechten sehen konnte.

Die Arbeitsteiligkeit hat diese Möglichkeit mehr und mehr eingeschränkt. Führung muß sich also heute auf Zielvorgaben, Motivation von Mitarbeitern und Erfolgskontrolle beschränken und konzentrieren

ISDN wird diese Umstellung von der alten Arbeitsdisziplin auf eine neue Kommunikationsmoral erleichtern.

Ungeachtet solcher Chancen für mehr Freiheit und Selbstverwirklichung, damit auch für mehr Humanisierung der Arbeitswelt, fragt sich der eine oder andere, ob die Kommunikationsgesellschaft der Zukunft - für die ISDN steht - nicht doch eine Gesellschaft ohne Kommunikation werden könnte. Aber die Suppe wird auch hier nicht so heiß gegessen werden wie sie gekocht wurde.

Erinnern wir uns: Anfang der siebziger Jahre behaupteten die Vorsänger der elektronischen Industrie, bald würden die Lehrer durch den Lehrautomaten ersetzt werden, und noch Anfang der achtziger Jahre konnten wir landauf und landab hören, bald werde das papierlose Zeitalter anbrechen und die elektronische Mitteilung unsere bisherigen Gewohnheiten ersetzen. Heute haben wir mehr Lehrer denn je und verbrauchen mehr Papier als vor der Einführung der Elektronik.

Wie Bundesminister Riesenhuber einmal sagte: Prognosen sind Voraussagen in einem überraschungsfreien Raum, und den gibt es bekanntlich nicht. Der menschliche Kontakt wird also durch ISDN nicht beseitigt, sondern in seinen technischen Möglichkeiten verfeinert und entspannt werden können. Auf diese Weise wird kulturelle Vielfalt nicht zerstört, sondern als Möglichkeit besser gesichert.

Wir können natürlich von keiner Technik erwarten, daß sie uns die Entscheidung über unsere eigenen kulturellen und politischen Normen abnimmt. Dies bleibt unsere Sache, und wir können sie nicht auf die Technik oder die Wissenschaft abschieben.

Allerdings wäre es ein Vorzug, wenn wir uns aus der Induzierung aller neuen Entwicklungen durch Technik allmählich lösen und rechtzeitiger damit beginnen würden, den betriebswirtschaftlichen, volkswirtschaftlichen und politischen Rahmen solcher Entwicklungen zu durchdenken. Dafür sind Pilotprojekte wie bei der Einführung des Kabelfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland sicher ein guter Weg, und auch mehr interdisziplinäre Forschung über die Technik hinaus könnte hier hilfreich sein.

Von der Forderung nach einer "sozialen Beherrschbarkeit" der Technik durch den Staat halte ich hingegen wenig, denn der Markt ist der einzige Weg, um den Bürgern eines Landes die Option für unterschiedliche Möglichkeiten der Entscheidung offenzuhalten. Die Marktwirtschaft ist die ökonomische Ausgabe der Demokratie und kann durch keine noch so gut gemeinte Regulierung von Staats wegen ersetzt werden.

Bei der Erwägung des möglichen Nutzens von ISDN sollten wir uns allerdings nachdrücklicher als bisher die Frage stellen, wie sich eine solche Technologie auf das Zeitbudget unterschiedlicher Benutzer auswirken mag. Zeit ist die knappste Ressource, die uns allen zur Verfügung steht, und es müßte der erste Sinn jeder technischen Neuerung sein, mehr Zeit für Wesentliches verfügbar zu machen als umgekehrt Zeit für unwesentliche Technik aufwenden zu müssen. Das Fehlen dieses Ansatzes macht die gesamte Fortschrittsdiskussion im technischen Bereich gelegentlich problematisch.

Der Medienbaukasten ist längst zu einer technischen Realität geworden, und er wird es in seiner möglichen Vielfalt durch ISDN noch mehr werden. Auch die beste Technik wird uns jedoch niemals den eigenen Entwurf für unser Leben abnehmen können, und dies sollten wir also auch weder befürchten noch erwarten. Die Menschen sind frei geboren und wollen es bleiben. Sie wollen nicht gelebt werden, sondern leben. Technik kann und soll dabei helfen.