Die digitale Revolution in der Medienwelt (Teil 1) Gluehende Leitungen zu einer nur schwer erwaermbaren Kundschaft

27.01.1995

CW-Bericht, Gerhard Holzwart

Sie ist blond, kraeftig, schnell und anmutend schoen, das Idealbild eines weiblichen Siegfrieds sozusagen. Der riesige Hammer (eigentlich ist es mehr eine Streitaxt), den sie mit sich schleppt, scheint sie jedenfalls kaum in ihrem Vorwaertskommen zu beeintraechtigen, auch wenn die Verfolger immer naeher ruecken. Ihre Flucht fuehrt sie durch menschenleere hellerleuchtete Gaenge eines Gebaeudes, das ansonsten durch seine raumschiffaehnliche Architektur eher dunkel, kahl und abschreckend wirkt.

Fast haben sie die Verfolger, die Maenner der Sicherheitspolizei, mit ihren gezueckten Waffen eingeholt. Aber sie schafft es: Der voellig ueberfuellte Versammlungsraum ist erreicht. Nur noch wenige Meter sind es, vorbei an den zahllosen unbewegten, wie zu Totenmasken erstarrten Gesichtern derjenigen, die die Botschaft des "Grossen Bruders" von der ausladenden Monitorwand empfangen. Ploetzlich schleudern die zarten Haende den Hammer nach vorne, mitten in das elektronische Gesicht des Allwissenden, und das Wurfgeschoss verrichtet zielgenau sein berfreiendes Zerstoerungswerk - der Horror totaler Kontrolle und Bevormundung gehoert der Vergangenheit an.

An dieser Stelle bricht der Trailer der Marketiers von Apple Computers abrupt ab. Wer die "Message" bis jetzt nicht kapiert hat, wird sie wohl nie und nimmer begreifen: Die Aera des Grossen Bruders, oder, wenn man so will, der dummen Terminals ist zu Ende; der Welt erster Multimedia-PC ist geboren. So weit die Reminiszenz an die Markteinfuehrung des ersten "Apple Macintosh" 1984 - dem Jahr, in dem George Orwells gleichnamige Romanfiktion Realitaet werden sollte. Jedenfalls war das schon lange Zeit vorher die Befuerchtung vieler Zeitgenossen. Und es gibt nicht wenige, die heute, gut zehn Jahre spaeter, angesichts von interaktivem Fernsehen, Video on demand und der scheinbar geballten Macht des Internet aehnlich besorgt sind. Aber auch vom Multimedia-PC und damit von Firmen wie Apple wird noch die Rede sein muessen; dann naemlich, wenn es um die Frage geht, wie und vor allem ueber welches Endgeraet kuenftig die Multimedia-Botschaften der Menschheit naehergebracht werden sollen.

Der Mann gilt in der Branche als zurueckhaltend, fast schon bedaechtig wirkend und mitnichten als Freund schneller Gedanken und noch schnellerer Sprueche. Gemeint ist Helmut Ricke, kurz vor Weihnachten ueberraschend zurueckgetretener Vorstandsvorsitzender der Telekom. Dieser sproede Ricke also liess sich noch wenige Wochen, bevor er den Krempel in der Fuehrungsetage des Bonner Postunternehmens mit Multimedia-Ambitionen hinschmiss, zu ganz und gar abenteuerlichen Vorhersagen hinreissen: Die Leitungen werden gluehen, hiess es da sinngemaess in einem "Spiegel"-Interview - vor allem in Form von 400 Fernsehkanaelen, die spaetestens ab dem Jahr 2000 ueber die deutschen Mattscheiben flimmern sollen.

Dass Ricke damals goldene (Pay-TV-)Zeiten heranbrechen sah, versteht sich von selbst. Schliesslich hatte man bestens vorgesorgt: Mit 14,5 Millionen Teilnehmern unterhaelt die Telekom das groesste Kabelfernsehnetz der Welt, und den Rest sollten Bertelsmann und die Kirch-Gruppe unter dem Dach der gemeinsamen Media Service GmbH (MSG) richten. Rund 22 Millionen Haushalte koennen die Bonner ueber ihr Breitbandkabel-Verteilnetz erreichen, ungeahnte weitere Kapazitaeten lassen sich fuer das zukuenftige digitale Fernsehen durch Frequenzerweiterungen im sogenannten "Hyperband" erzielen.

Und wenn das nicht reicht, steht mittels moderner Komprimierungsverfahren wie ADSL (Asynchronous Digital Subscriber Line) notfalls auch noch das herkoemmliche Telefonnetz bereit, um den deutschen Michel via Video on demand zum eigenen Programmdirektor zu machen - Hauptsache, er bezahlt.

Dumm ist in diesem Zusammenhang nur, dass das dem Thema moderne Informationsgesellschaft sonst so aufgeschlossene Bruessel die MSG in ihrer derzeitigen Gesellschafterstruktur nicht genehmigt hat. Jedenfalls passt das kartellrechtlich durchaus Sinn machende Veto der EU-Kommission gar nicht so recht in die Multimedia-Euphorie hierzulande. Es fehlt ja durchaus schon lange nicht mehr an entsprechender Begeisterung, auch dafuer, wie in den USA in Sachen Information-Highway die Post abgeht. Und genau wie auf der anderen Seite des grossen Teiches spielen die Datenautobahnen - von den Blaupausen und Sonntagsreden der Politiker einmal abgesehen - momentan vor allem eine Rolle in den Planspielen von TV- und Medienunternehmen. Auf allein vier Millionen deutsche Haushalte, die im Jahr 2000 digitales Fernsehen empfangen koennen und dafuer knapp vier Milliarden Mark pro Jahr ausgeben werden, kommt aber auch das renommierte Schweizer Prognos-Institut. Und Bertelsmann- Chef Mark Woessner, ohnehin fuer seine nicht gerade grosse Zurueckhaltung bekannt, sieht, wie er dem "Spiegel" gegenueber zugab, im Pay-TV gar das "Ding der Zukunft".

Nun waere ja gegen die Tatsache, dass sich Herr Ricke und Herr Woessner ueber kuenftige Pay-TV-Einnahmen freu(t)en, nichts einzuwenden - es sei denn, dass diejenigen, die da mit neuen und insbesondere vielfaeltigeren Programmformen gesegnet werden sollen, offensichtlich noch gar nichts von ihrem Glueck wissen! Richtig, es geht um die Zuschauer und deren kuenftiges Verhalten beim Konsum interaktiver TV-Angebote - und dabei wuerde schon ein Blick nach Orlando in Florida genuegen: Zweimal verschoben und dann gestartet mit ganzen fuenf Teilnehmern, die bereit waren, den vollen Abonnementpreis zu entrichten.

Aber man muss sich gar nicht mit dem vordergruendigen Blick auf das derzeitige US-amerikanische Vorzeigeprojekt begnuegen; es gibt immer mehr andere, serioese Quellen, die vor uebertriebenen Erwartungen in bezug auf das Interesse der zahlenden Kundschaft an Diensten wie Video on demand und Teleshopping warnen. Zu ihnen gehoert beispielsweise Mark Beilby, Media-Analytiker von S.G. Warburg in London. Der europaeische Markt sei, wie Beilby in einem Vortrag vor Vertretern der deutschen Medienwirtschaft auf einer Handelsblatt/Euroforum-Konferenz Ende vergangenen Jahres erlaeuterte, aufgrund seiner historisch-kulturellen Heterogenitaet gar nicht mit dem in den USA vergleichbar. Es komme also sehr auf die spezifischen Inhalte an, meinte der britische Marktforscher; wem diese Aussage auf dem Alten Kontinent allerdings nennenswert weiterhelfen koennte, konnte Beilby allerdings auch nicht sagen. Eines weiss man indes doch: Orlando ist nicht das erste Projekt dieser Art, und Erfahrungen von AT&T, US West, TCI & Co. zeigen, dass der Abruf von Wunschfilmen mittels Video on demand - gemessen an der durchschnittlichen "Verleihrate" herkoemmlicher Videotheken - zu keinem Konsumrausch vor der Glotze gefuehrt hat.

Dies sieht auch Torsten Gerpott so, und der Inhaber des Lehrstuhls fuer Planung und Organisation an der Universitaet Duisburg sowie fruehere Mitarbeiter der internationalen Unternehmensberatung Booz, Allen und Hamilton, weiss, wovon er spricht. "Die Markterfolge von Pay-per-view- und Pay-TV-Angeboten sind in den USA hinter den anfaenglich hochgesteckten Erwartungen zurueckgeblieben", lautet seine fuer manche Zeitgenossen doch ernuechternde Bilanz. Gerpotts Analyse des im Vergleich zu Europa weiter entwickelten US-TV- Marktes wird nicht magenfreundlicher, wenn er noch einen Punkt hinzufuegt: Schuld an dem Defizit war vor allem eine wenig benutzerfreundliche Bedieneroberflaeche der Set-top-Box-Prototypen.

Hier mit einer bahnbrechenden Entwicklung voranzugehen hatte sich ja die MSG unter anderem auf ihre Fahnen geschrieben, womit wir wieder zu Hause in Deutschland waeren. Wer nun aber Pay-TV zwischen der Nordsee und den Alpen weiter am "Gluehen" haelt, eine leistungsfaehige standardisierte Decoder-Technik entwickelt und fuer die Gewinnung von Programmanbietern verantwortlich zeichnet, steht jedenfalls, nachdem Bruessel das Signal auf Rot gestellt hat, in den Sternen. Was jedoch umgekehrt alle diejeinigen, die viel oder auch nichts mit dem Thema zu tun haben, erst recht in die Startloecher zu treiben scheint.

So sollen dieses Jahr in sechs deutschen Grossstaedten beziehungsweise Bundeslaendern Pilotprojekte mit Diensten wie Video on demand und Interactive TV beginnen, und es gibt nicht wenige, die befuerchten, dass dabei, wenn ueberhaupt, nur die Telekom Klarheit erhalten wird - naemlich ueber den Sinn und Zweck des Einsatzes unterschiedlicher Uebertragungsverfahren wie ATM und ADSL. Nichts genaues weiss man nicht, heisst sonst das Motto der sechs Feldversuche - ausser dass dabei jeder der Beteiligten wohl in erster Linie sein eigenes Sueppchen kocht. Erfahrungen sammeln beim Kunden-Management, der Server-Technik und der Videovermittlung heisst dies dann offiziell.

Alleine weiterkochen will man das MSG-Sueppchen notfalls auch bei Bertelsmann, wo man nach den Worten von Aufsichtsratsmitglied Manfred Lahnstein "keinen Wert auf Trittbrettfahrer legt". Der Guetersloher Verlagsriese verfuegt mit den Erfahrungen seiner Pay- TV-Tochter "Premiere" ueber einen im Zweifel fast uneinholbaren Startvorteil, was natuerlich auch die Konkurrenz der Bertelsmaenner weiss und mittlerweile selbst die altehrwuerdigen Anstalten des Oeffentlichen Rechts ARD und ZDF auf den Plan ruft. Dort, so scheint es, will man geradezu mit Wonne die eben erst entflammte Multimedia-/Pay-TV-Euphorie zu einer Mediendebatte umfunktionieren, bei der fuer den Bertelsmann-Vordenker Lahnstein die Gefahren fuer ein Unternehmen wie das seine unendlich gross waeren: "Die Bedenkentraeger und die Kontrolleure werden im Zweifel vor uns auf dem Information-Highway sein."

(wird fortgesetzt)