Die Deutschen sind datensensibel geworden

25.03.1983

Hans Gliss, SCS Unternehmensberatung, Essen

Überraschend lange nahm niemand Notiz vom Volkszählungsgesetz . Nachdem aber die ersten Muster von Fragebögen kursieren, schlägt die Sache Wellen. Bürgerinitiativen bilden sich, der "Stern" verbrät das Thema zur Titelgeschichte - nicht ohne auf das Orwell-Jahr 1984 überdeutlich anzuspielen. Bull hingegen wiegelt ab. Nanu - was ist mit dem obersten Datenschützer der Republik los? Er, der sich vor dem Oktober 1982 immer in die Schußlinie gewagt hatte, wenn es darum ging, Bürgerinteressen gegen die Datenverarbeitung zu vertreten! Seine Presseerklärung liest sich fast wie eine Verteidigungsschrift der Staatsbürokratie .

Liest man die offizielle Erklärung - einschließlich der Bull-Presseerklärung - und die Flugschriften von Bürgerinitiativen sowie die einschlägigen Zeitungsartikel unmittelbar hintereinander, dann wird klar, daß aneinander vorbeigeredet wird. Die Bürokratie argumentiert juristisch, der Bürger schert sich darum den Teufel und empfindet irgendwo in tiefster Magengrube. Solche Scheindialoge können nicht zu Ergebnissen führen! Die nächste Bürgerreaktion gegen die Verdatung ist schon vorprogrammiert: Ein maschinenlesbarer Personalausweis, der insbesondere an den Grenzen eine wesentliche Fahndungshilfe sein kann, ist vom Gesetzgeber beschlossen und vom Bundesrat am 4. Februar 1983 abgesegnet worden. Rechtzeitig für 1984?

Was ist so schlimm an der Volkszählung? Vordergründig spielt sich die Bürgerreaktion als Anti-Computer-Reaktion ab. Und viele werden auch im Computer den Großen Bruder identifizieren. Das ist schlimm, denn es wird die Maschine verteufeln, wo in Wirklichkeit ganz andere Ursachen zugrunde liegen: Der Computer ist nur zum Symbol einer mit einer Vielfalt von Problemen behafteten Gesellschaft geworden, deren Macher nach neuen Wegen zur Lösung eben dieser Probleme suchen. Daß sie dabei neue Schwierigkeiten erzeugen, war nicht geplant.

Liest man die Vorschriften über die Durchführung der Volkszählung, dann kann man den Juristen bescheinigen, daß sie sich bemüht haben, die Regeln klar und datenschutzfreundlich zu definieren. Warum also das ganze Bürgergeschrei? Wenn die Behörden noch auf die wenigen Forderungen der einzelnen Landesdatenschutzbeauftragten und auf Bulls Wünsche eingehen, steht doch einer sauberen und sicheren Datenerhebung nichts mehr im Wege. - Ich meine, der Unmut entlädt sich auf zwei Ebenen, und dies zu recht:

- Völlig unabhängig von der maschinellen Aufbereitung der Daten wird die Frage gestellt, ob eine derartige Erhebung mit einer solchen Tiefe an Information überhaupt nötig ist - ja, ob ein sich anschließender Planungsprozeß überhaupt richtige Ergebnisse erwarten laßt.

Eine solche Volkszählung - eine Erhebung, die über eine rein quantitative Bestandsaufnahme hinausgeht - hat nämlich nur dann Sinn, wenn es verläßliche Algorithmen gibt, mit deren Hilfe die Daten zu einem Zukunftsbild verarbeitet werden können. Wer aber garantiert, daß die anzuwendenden Algorithmen zutreffen? Bestenfalls könnte es also sein, daß die Zähl-Daten ein Heer von Planern völlig sinnlos beschäftigen, schlimmstenfalls werden reihenweise Fehlentscheidungen getroffen. Diese Befürchtung ist nicht gegenstandslos: Computer sind seit fast drei Jahrzehnten im Einsatz. Eine Fülle von Daten liegt in den Unternehmen ständig vor - wie auch bei der öffentlichen Verwaltung. Wie sind dann, zum Teufel, überhaupt noch krasse Fehlentwicklungen erklärbar? Lehrerschwemme, AEG, Rentenkasse, Arbeitslose, um ein paar Beispiele zu nennen, haben wir nicht das ganze Basismaterial? Können wir denn nicht die Zukunft daraus verläßlich ableiten?

Offensichtlich nicht, denn sonst wären sowohl Firmenpleiten wie krasse Fehlentwicklungen der öffentlichen Haushalte nicht eingetreten. Sind sie aber, und der Computer war unschuldig.

- Aber auch die eigentliche Zählung ist anzugreifen: Die Art und Weise, wie die amtlichen Zähler losgeschickt werden sollen, vermittelt in einzelnen Städten durchaus den Eindruck der Bespitzelung (insbesondere die Kopfprämien für aufgestöberte Bürger ohne polizeiliche Anmeldung). In einen Gemeinden ist darüber hinaus die versprochene Geheimhaltung ein Witz. Was nützt es, wenn die Leute auf Daten- und weiß Gott welche Geheimnisse verpflichtet sind? Es kennt jeder jeden, und die menschliche Neugier muß einfach ins Kalkül gezogen werden. Weniger wäre da mehr gewesen - und das betrifft sowohl die Menge der Daten als auch die Tiefe des Details.

Zum anderen: Es ist gut und schön, daß eine sichere Verarbeitung der Daten angeordnet wird. Auch Strafbestimmungen sind nützlich. Aber selbst die Androhung lebenslanger Freiheitsstrafen verhindert gelegentlich Morde nicht. Mit anderen Worten: Es wird auch hier Täter geben, das muß unterstellt werden. Und zwar vor allem deshalb, weil ihnen ein umfangreiches Datenmaterial angeboten wird, das nur hinsichtlich der Datensicherheit geknackt werden muß. Gut, der Name bleibt weg, aber was soll das? Die größte Menge der Datensätze dürfte leicht "reanonymisierbar" sein, wenn Referenzdateien zu Hilfe genommen werden. Manches wird schon klar, wenn nur das allgemein zugängliche Telefonbuch aufgeschlagen wird.

- Die Belege sollen - welch eine Hinterlist - bis zur nächsten Volkszählung aufbewahrt werden. Der Bürger muß und kann nur vermuten, daß man hier eine Datenvorratshaltung plant, um unter neuen Fragestellungen nicht etwa das Datenmaterial neu auszuwerten (die Daten sind ja auf Band genommen und für die Maschine ständig verfügbar, wenn man das will) - nein, die Aufbewahrung der Belege kann doch dann nur den einen Sinn haben, im Fall einer späteren Erkenntnis auf denjenigen zugehen zu können, der den Fragebogen ausgefüllt hat. Mehr noch: Er hat den Bogen von Hand ausgefüllt, man hat also ein Beweismittel. Man kann auch durchaus Handschriftenvergleiche anstellen (nicht ohne Grund wird jeder Hotelgast bei der Anmeldung gebeten, seinen Meldeschein selbst auszufüllen - dies hat der Gesetzgeber deshalb bestimmt, weil die Handschrift, wenn sie maschinell analysiert wird, ein genauso sicheres Unterscheidungsmerkmal ist wie der Fingerabdruck).

Wenn der Bürger sich gegen die Volkszählung wehrt, dann deshalb, weil er inzwischen aus seinem Alltag den Umgang mit Maschinen und mit maschineller DV kennt. Es ist zu erwarten, daß es Datensabotagen in unzähliger Menge geben wird. Die Planer sind zu beglückwünschen.

Ich bin davon überzeugt, daß verläßliches Material zustande gekommen wäre, wenn die Erhebung anonym geplant, der Kreis der Daten auf einige wenige Grunddaten beschränkt und die Abgabe des Bogens durch eine Aufklärungskampagne rechtzeitig vorbereitet worden wäre.

Hans Gliss ist außerdem Vorstand der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit e.V., Bonn.