Management-Report/ Offene Systeme

Die Chancen sind weit groesser als die Risiken

15.01.1993

Die Bereitschaft, auf offene Systeme umzusteigen, ist bei den Anwendern gewachsen. Auch wenn die Kosten erst einmal in die Hoehe schnellen, versprechen Downsizing-Projekte und die Installierung von Client-Server-Umgebungen langfristig Einsparungen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei, dass das Konzept der Offenheit von den in regelmaessigen Abstaenden wiederkehrenden Innovationsschueben unabhaengiger macht. Die Infrastruktur der offengelegten und standardisierten Schnittstellen ermoeglicht, so das Versprechen der Open-Systems-Propagandisten, das problemlose Austauschen oder Ausbauen von DV-Komponenten.

Trotz dieser Moeglichkeiten bedeutet die Umstellung von proprietaeren auf offen Systeme allerdings in der Regel einen Kulturschock fuer die bisherigen Mainframe-Spezialisten. Auf der X/Open-Konferenz in Washington nannte daher Paul Strassman, DV- Verantwortlicher beim US-Verteidigungsministerium, die Mitarbeiterschulung als die zentrale Aufgabe. Deren Bedeutung schaetzt er zusammen mit den Entscheidungen fuer Software- und Kommunikationsstandards als so hoch ein, dass die Anschaffungskosten fuer Hard- und Softwareprodukte demgegenueber kaum ins Gewicht fielen.

Doch gerade die Standards bereiten den umsteigewilligen Anwendern Kopfschmerzen. Zwar laufen die Aktivitaeten der offiziellen Normengremien wie ISO und ANSI ebenso auf Hochtouren wie die Standardisierungsbemuehungen von Industriekonsortien =a la Unix International und X/Open. Dennoch klaffen nach wie vor grosse Luecken.

Grosse Luecken bei den Standards

Standards, denen in Kuerze Produkte folgen, existieren laut Philippe de Marcillac, Director von Dataquest Europe, fuer das Transaktions-Monitoring, beim transparenten Dateizugriff und fuer verteilte Transaktions-Verarbeitung.

In Kuerze zu erwarten sind Produkte und Standards im Umfeld der OSF-Technik DCE fuer verteilte Datenverarbeitung. Dassselbe gilt fuer die System-Netzverwaltung sowie fuer das Applikations- Management. Keine Standards dagegen sieht er im Bereich der Nicht- SQL-Datenbanken, bei den Backup- und Speichermoeglichkeiten in verteilten Umgebungen, beim Management von unterschiedlichen Datentypen und bei Schaffung von globalen Data-Dictionaries.

Doch die Technik ist nicht das Hauptproblem. Die Entwicklung zu offenen Systemen ist laengst unumkehrbar, so dass sich kein Hersteller mehr den Standardisierungstrends entziehen kann. Viel bedeutsamer sind die Implikationen fuer die Unternehmensorganisation der Anwender.

Es ist fast so, als wuerde man in die fruehen Mainframe-Zeiten zurueckgestossen. Wie damals fordern nun wieder Hersteller und Unternehmensberater die Anwender auf, ihre Organisationsstrukturen an die neuen DV-Techniken anzupassen. Nur dann, so das Argument, liessen sich die Moeglichkeiten offener Systeme wirklich ausschoepfen. So vertritt etwa Unternehmensberater David Norton, President der Renaissance Strategie Group diese Linie: "Wer offene Systeme im Rahmen einer althergebrachten Organisation verwendet, kann die Unternehmensleistung um etwa 10 Prozent steigern. Bei offenen Unternehmensstrukturen dagegen liegen die Steigerungsraten bei 90 Prozent und darueber."

Auf die Frage, wie denn offene Unternehmensstrukturen aussehen, waren lediglich Stichworte zu hoeren. Die Rede war vor allem von der Einfuehrung flacherer Hierarchien und direkteren Entscheidungsablaeufen.

So sollen beispielsweise lokale Manager von weltweiten Unternehmen Entscheidungen selbstaendig oder in unmittelbarer Abstimmung mit der Konzernspitze treffen koennen. Je laenger der Dienstweg, so der Schluss, desto unflexibler das Unternehmen.

Als positives Beispiel fuehrt Norton den wirtschaftlichen Erfolg der Japaner an. Dieser gruende vor allem in der Bereitschaft, neue Techniken mit neuen Zielen zu verbinden. Die Moeglichkeiten, mit Hilfe moderner DV-gestuetzter Planungs- und Fertigungstechniken die Innovationszyklen zu verkuerzen, seien in Amerika wie in Fernost gegeben. Dennoch bauen die US-Unternehmen wie einst Henry Ford darauf, das ein einmal eingefuehrtes Produkt durch Massenproduktion und -verkauf Gewinne einfaehrt. Erst wenn der Absatz stagniert, wird ein neues Modell aufgelegt.

Die japanischen Konkurrenten agieren laut Norton anders: Die dortigen Unternehmer setzen auf die Attraktivitaet des Neuen. Aus diesem Grund fertigen sie zwar in geringen Stueckzahlen, koennen dafuer aber in kurzen Abstaenden neue, schoenere und manchmal auch bessere Produkte vorstellen. Das Ziel

der preisguenstigen Massenproduktion wurde mit Hilfe moderner DV- Techniken fuer Planung und Fertigung durch das der Marketing- orientierten Produktplanung ersetzt.

Die Lebenszyklen werden also nicht auf Druck von aussen verkuerzt, sondern weil der Unternehmer in rascher Folge mit neuen Produkten aufwarten will. Dieses Verfahren hat den zusaetzlichen Vorteil, dass die Innovation nie aus den Augen verloren wird. Hier nennt Norton die PC-Industrie als Beispiel, die offene Systeme nutzt, eine ueber den gesamten Globus verteilte Fertigung zu koordinieren, bei der es nicht nur darauf ankommt, mit einem Feature eine Woche vor dem Konkurrenten auf dem Markt zu sein, sondern auch die haeufigen Wechsel bei den Zulieferfirmen in den Griff zu bekommen.

Derzeit allerdings sind solche Beispiele noch selten. Selbst die DV-Hersteller, die schon aufgrund ihrer Produktpalette gezwungen sind, den Stand der Technik zu halten, sind heute nicht mehr in der Lage die noetigen Innovationen allein zu leisten. Deshalb kooperieren sogar harte Konkurrenten.

Schlagwort "Kooperation"

Sun und HP beispielsweise versuchen sich gegenseitig beim Workstation-Absatz zu uebertreffen und entwickeln doch zusammen offene objektorientierte Techniken. Auf der diesjaehrigen X/Open- Konferenz in Washington bezeichneten ein HP- und ein DEC- Mitarbeiter in einem gemeinsamen Referat diese zukunftstraechtige Methode der Zusammenarbeit als "Koopetition".

Das kann nicht bedeuten, dass die Anwender vor der Schwere dieser Aufgabe zurueckschrecken muessten. Die Chancen, so die einhellige Meinung auf der X/Open-Konferenz, sind weit groesser als die Risken.

Das bestaetigten auch Anwender wie Geoge McCorkell, bei der britischen Behoerde fuer Sozialwesen zustaendig, bezueglich Entwicklung und Anschaffung von DV-Systemen. Er hat sich acht Jahre Zeit genommen, um die durch und durch proprietaeren Strukturen seiner Mammutbehoerde landesweit mit Unix- Systemen und OSI-Netzen auszustatten.