Die Alternative zum 20. Jahrhundert ist das 21.

10.09.1982

Die entscheidenden Fragen nach Ziel, Richtung und Grenzen des technischen Fortschritts werden in der offiziellen Debatte systematisch ausgeklammert. Zugelassen ist allein die, wie man die Bevölkerung auf möglichst unverfängliche Weise mit den Folgen vertraut macht. "Der tiefgreifende Dialog zwischen Wissenschaft und Politik", so klärte vor Wochen der Präsident der einflußreichen Max-Planck-Gesellschaft den Bundeskanzler auf, "muß um die Frage geführt werden, wie der Prozeß des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts für die Menschen unserer Zeit ... mitvollziehbar und damit auch aushaltbar gemacht werden kann." Ruhe ist auch in der Technikkontroverse erste Bürgerpflicht. Am Ende bleibt der vage Hinweis, daß "große Entdeckungen zu allen Zeiten besonderer moralischer und ethischer Kräfte bedurften".

Dialogunfähigkeit der Wissenschaftler

Wird dieser Hinweis wörtlich genommen, muß sich angesichts der nahezu totalen Dialogunfähigkeit der Wissenschaftler in der Öffentlichkeit Skepsis ausbreiten; wird andererseits aber Verzicht auf einzelne problematische Entwicklungen gefordert, dann beginnt das große Lamentieren über Kulturverfall und das Absinken in eine neue Barbarei. Besorgt über die "Feindschaft gegenüber Wissenschaft und Technik", sinniert der Philosoph Hermann Lübbe: "Wir geraten in sich mehrenden Teilbereichen unseres zivilisatorischen Lebenszusammenhangs unter den Druck der Erfahrung eines abnehmenden Grenznutzens. Diese Erfahrung desavouiert aber nicht den Lebenssinn dieser Zivilisation:- sie bekräftigt vielmehr, indem sie den Lebenssinn unseres Systems unberührt laßt, die Banalität, daß in einem endlichen System unendliches Wachstum nicht stattfinden kann. Zu deutsch: Bäume wachsen nicht in den Himmel."

Aber was wäre die Alternative? Die Forschung einzustellen beziehungsweise die Entscheidung über Grenzen des Machbaren dem Gewissen der Forscher zu überlassen? Es gibt leuchtende Beispiele wissenschaftlicher Verantwortlichkeit: Am Ende des Zweiten Weltkriegs versuchten Teilnehmer des amerikanischen Atombombenprojekts, den Abwurf der Waffen über japanischen Städten zu verhindern. 1974 warnten elf hervorragende amerikanische Biologen vor denkbaren Seuchengefahren durch Genmanipulation, obwohl noch gar nichts geschehen war. Unterschätzen wir die Bedeutung der individuellen Verantwortung von Wissenschaftlern nicht!

Eine Illusion wäre es jedoch, zu glauben, es läge an fehlender Forschermoral, daß die Welt vor lauter unbewältigtem Fortschritt in allen Fugen kracht. Fragen wir besser nach denen, die über das Instrumentarium verfügen, nach Nutznießern und Opfern des Fortschritts. Entsprechen die Ziele jener Gruppen, die die Forschung finanzieren und dirigieren, überhaupt den Erfordernissen der Zeit?

Schon ein oberflächlicher Blick, wie Mitte der siebziger Jahre das "Weltforschungsbudget" von 150 Milliarden Dollar aufgeteilt wurde, genügt, um die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und der Notwendigkeit zu erkennen, durch Forschung die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern: Den Löwenanteil, nämlich 24 Prozent, verschlang die Rüstungsforschung. Nur drei Prozent wurden in Agrarforschung investiert, um mit dem Hunger eine der Kriegsursachen zu beseitigen.

Doch selbst dieses eklatante Mißverhältnis von 8 zu 1 verschleiert noch den tatsächlichen Beitrag zum Wohl der Menschen. Der weitaus größte Anteil an diesen drei Prozent entfiel auf die Industriestaaten. In Ländern, die schon heute mit Nahrungsüberschüssen kämpfen, wurde er in Forschung investiert, die eine ökologisch und wirtschaftliche gleichermaßen problematische Landwirtschaft nur noch produktiver machte. Mit 670 Millionen Dollar investierten die USA mehr in die Zukunft ihrer Landwirtschaft als alle Entwicklungsländer einschließlich der großen internationalen Agrarforschungszentren zusammen.

Spiegeln solche Zahlenverhältnisse die "Ambivalenz" des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, oder sind sie Ausdruck der wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse auf der Erde? Und geht nicht von den Staaten und Industrieunternehmen, die Forschung finanzieren, ein tiefgreifender Einfluß auf die Struktur der entwickelten Technik aus, der die Anwendbarkeit und den sozialen Nutzen bestimmt?

Das Paradebeispiel ist die Grüne Revolution - die Entwicklung und Verbreitung einer ertragreichen, industrieabhängigen Landwirtschaftstechnik nach US-Vorbild in den Ländern der dritten Welt. Beachtliche Ertragssteigerungen wurden um den in Entwicklungsländern exorbitanten Preis erkauft, daß Hunderte Millionen von Kleinbauern und Tagelöhnern die Existenzgrundlage verloren haben. Die soziale Katastrophe ist scheinbar sachlich begründet: Nur die wohlhabenden Bauern und Großgrundbesitzer konnten die technischen Voraussetzungen für die Ertragssteigerungen schaffen. Dünger, Schädlingsbekämpfungsmittel, Maschinen, Bewässerungspumpen und Hochleistungssaatgut mußten gekauft werden. Die Lieferanten waren natürlich Konzerne aus den Industriestaaten, denen die Grüne Revolution den Weg in die unerschlossenen Märkte zu ebnen versprach. Sie haben diese Technik entscheidend mitgestaltet.

Die scheinbar technisch begründete Ambivalenz hat indessen politische Ursachen. Von Anbeginn an war es das erklärte politische Ziel der Initiatoren gewesen, den Typus des marktorientierten Agrarunternehmers zu Lasten der Masse der kleinen Selbstversorger zu fördern. Daß alternative Techniken möglich gewesen wären, bestätigen heute erfolgreiche Versuche der internationalen Agrarforschungszentren, in Entwicklungsländern, durch moderne, Kleinbauern-orientierte Methoden mehr, vor allem aber gerechter verteilte Nahrung zu erzeugen.

Die Ambivalenz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts liegt vielfach nicht in den Mitteln, sondern in den wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die darüber entscheiden, wie diese Mittel eingesetzt werden. Gesundheit zum Beispiel läßt sich entweder durch Kurieren oder durch Verhindern von Krankheit erreichen. Im Gesundheitswesen gibt die pharmazeutische Industrie, deren langer Arm bis weit in die Hochschulinstitute hineinreicht, die Richtung vor, in der geforscht wird. Folglich dominiert das Interesse, den Krankheiten und Störungen medikamentös zu Leibe zu rücken; das bestimmt die Richtung, in der geforscht wird. Da in den Industriestaaten die meisten Menschen an Zivilisationskrankheiten sterben, bei denen Umweltfaktoren eine wichtige Rolle spielen, dient Gesundheitsforschung in erheblichem Maße dazu, die Menschen mit wachsendem Aufwand an eine krankmachende Zivilisation anzupassen.

Scheinbar neutrale Sachfragen

Im Gesundheitsbereich wie in der Landwirtschaft erhält der wissenschaftlich-technische Fortschritt auf diese Weise wirtschaftliche Strukturen künstlich am Leben, die sonst unter der Last der selbsterzeugten Probleme und Schäden längst zusammengebrochen wären. Ähnlich ist es in Bereichen wie Energie, Rüstung oder Datenverarbeitung.

Solche Erfahrungen sind jedoch nicht, wie uns Professor Lübbe nahelegt, Ausdruck eines abnehmenden Grenznutzens der Technik; sie sind vielmehr die Konsequenz wirtschaftlicher und sozialer Strukturen, die sich immer mehr als Fortschrittshemmnisse erweisen, indem sie die Technikentwicklung in die ihnen gemäße Richtung lenken und Alternativen blockieren. Es spricht nur wenig dafür, daß die "Bäume" wissen, wann sie aufhören müssen, in den Himmel zu wachsen.

Im selben Maß, wie die Erde klein wird; im gleichen Verhältnis, wie die menschliche

Fähigkeit, sie zu verändern wächst und die Technik Mensch und Gesellschaft zu überwuchern beginnt, müssen wir dem Fortschritt Ziele und Grenzen setzen. Wer jedoch, wie der Biochemiker und Wissenschaftskritiker Erwin Chargaff, als Ausweg das Kleinschrumpfen der Wissenschaft empfiehlt, der verkennt, daß die Alternative zum 20. Jahrhundert nicht das 19. ist. Die Probleme lassen sich nur lösen, wenn es gelingt, die innovativen Kräfte weiter zu fordern, aber sie den sozialen Erfordernissen und der Notwendigkeit anzupassen, die Natur zu erhalten. Es gilt, die scheinbar neutralen Sachfragen der Technikentwicklung zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zu machen.

Entnommen aus der Süddeutschen Zeitung: Gekürzte Fassung des Aufsatzes "Die Furcht vor der Technik - Von der Notwendigkeit. Ziele und Grenzen der Fortschritts

zu erkennen" vom 28./29. August '82, Seite 83 (Feuilleton-Beilage).