Die alte Arge im neuen Gewand: Virtuelle Unternehmen - nicht allein fuer Cyberspace-Projekte

01.10.1993

In der betriebswirtschaftlichen Diskussion macht ein neues Wort die Runde: das virtuelle Unternehmen. Dahinter steht das Konzept eines neuartigen Angebotes, in dem ein Unternehmen seine eigene Produkt- oder Dienstleistungspalette durch Zulieferer und Partnerschaften komplettiert. In der Praxis funktioniert dies befriedigend nur durch die Verkopplung der betrieblichen Informationssysteme. Damit kommen auf Unternehmensfuehrung und DV- Abteilungen neue Aufgabenstellungen zu.

Das Konzept der virtuellen Unternehmung wird speziell in der DV- Industrie diskutiert, ist aber tatsaechlich viel aelter und in anderen Bereichen durchaus eingefuehrt, wenn auch nicht immer unter diesem Namen. Ein Beispiel dafuer ist die Automobilindustrie, wo Hersteller von Bremsen oder Motorensteuerung bereits beim Entwurf neuer Modelle einbezogen sind. Auch wuerde diese Branche heute im Rahmen der Just-in-time Produktion ohne die informationstechnische Verkettung von Zulieferer, Spedition und Automobilwerk nicht mehr funktionieren. Ebenso ist in der Mode- oder Baubranche eine solche enge Zusammenarbeit laengst Gewohnheit.

In der Informationstechno- logie haben wir uns inzwischen daran gewoehnt, dass sich die von einem Anbieter formulierte Gesamtloesung sehr oft nur in Zusammenarbeit zahlreicher Anbieter realisieren laesst. Diese Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, die in Groesse, Spezialisierung und Finanzkraft extrem unterschiedlich sind, zum Teil sogar in anderen Bereichen miteinander konkurrieren, funktioniert nur durch einen frei zugaenglichen Markt und die Bereitschaft zur firmenuebergreifenden Organisation.

Nur fuer kurzfristige Ziele verbunden

Diese virtuelle Unternehmung ist somit ein Sonderfall des Business Re-Engineering, also der staendigen Neudefinition der Geschaeftsfelder aufgrund der Marktchancen. Die darin eingebundenen Unternehmen oder Unternehmensteile sind quasi fraktale Unternehmungen: Gebilde, die in sich lebensfaehig sind und auf neue Anforderungen jeweils neu reagieren koennen. Diese fraktalen Unternehmungen fuegen sich durch firmenuebergreifende Informationen und den heute moeglichen schnellen Austausch per Computer zum virtuellen Unternehmen zusammen.

Der Zweck der virtuellen Unternehmung ist es, entweder kurzfristig entstehende und vergehende Marktchancen durch neuartige Kombinationen mehrerer Unternehmen abzudecken oder langfristig durch strategische Kombination spezialisierter Unternehmen neue Maerkte aufzubauen und auf existierenden Maerkten die Ertragskraft zu steigern. Um dies zu erreichen, braucht das Informationswesen jedes der beteiligten Unternehmen Portabilitaet, Skalierbarkeit, Interoperabilitaet und Sicherheit in bisher nicht realisierbarem Ausmass. Es ist unmittelbar einsichtig, dass erst die offenen Systeme und insbesondere die Verfuegbarkeit leistungsstarker Unix- Systeme auf allen Ebenen vom Desktop bis zur Mainframe-Maechtigkeit diese Entwicklung moeglich gemacht haben.

Da Informationen das Grundelement jeder virtuellen Unternehmung ist, besteht der erste Schritt logischerweise jeweils in der Verbindung bestehender Computernetze der einzelnen Unternehmen miteinander. Auf diese Anforderungen wird sich der MIS-Manager einstellen muessen, unter anderem durch die Entwicklung flexibler Moeglichkeiten und Reaktionen fuer die Notwendigkeit des Remote Access durch Partnerfirmen.

Ausserdem werden Organisationen in Zukunft mit einer Vielzahl von Daten und Dokument- typen sowohl in Daten- wie auch in Sprachnetzen umgehen. Man wird sich auch darueber klarwerden muessen, dass die meisten MIS-Strukturen derzeit sehr schlecht auf die Arbeit mit "Remote Sites" vorbereitet sind. Doch genau dafuer werden virtuelle Unternehmen planen.

Man stelle sich eine Unternehmung vor, in der Mitarbeiter kurz hintereinander mit unterschiedlichen Firmen in der Loesung von Problemen zusammenarbeiten und fuer diese Aufgaben mit Informationen aus dem beteiligten Unternehmen zu versorgen sind. Damit aendert sich die Sicherheitsaufgabe wesentlich: Das Unternehmen ist nicht mehr als monolithische Einheit anzusehen, das gegen Eingriffe von aussen bis hin zum Datendiebstahl abgesichert werden muss.

Vielmehr stellt sich eine inhaltsabhaengige Sicherheitsaufgabe: Es gilt, Sicherheitssysteme zu finden, die es leicht und schnell ermoeglichen, Informationen fuer bestimmte Projekte auch fuer den Zugriff von aussen durch berechtigte Personen freizugeben oder zu schliessen. Dazu wird auch eine ganz neue Art der Vertragsgestaltung im Personalwesen gehoeren, denn das in den Hirnen der Mitarbeiter gespeicherte Wissen laesst sich nicht per Computer loeschen.

Als Vorsorge ist der "Logbuchfuehrung", das heisst dem Nachweis, wer wann zu welchen Informationen Zugang hatte und tatsaechlich darauf zugegriffen hat, viel mehr Beachtung zu schenken, als dies bisher der Fall ist. Die Entwicklung der letzten Zeit hat ja gezeigt, dass im Falle des Datendiebstahls durchaus nicht nur die Vorstaende des bestohlenen Unternehmens ins Wanken geraten.

Unix ist die ideale Systemvoraussetzung

Kern und Motor jeder virtuellen Unternehmung muss das Computersystem sein, wobei schon die Verfuegbarkeit von Unix auf vielen Plattformen dieses Betriebssystem beguenstigt. Zugleich duerfte Unix aber auch nach Anzahl der Anwender, Durchsatz bei der Transaktionsverarbeitung, Anzahl der unterstuetzten CPUs im Multiprocessing und aehnlichen Leistungsfaktoren das kosteneffektivste unter den derzeit verfuegbaren Betriebssystemen sein.

Wie bereits ausgefuehrt, kann ein virtuelles Unternehmen aus Organisationskomponenten der unterschiedlichsten Groessen zusammengesetzt sein. Entsprechend stellt sich die Aufgabe, die vorhandenen informationstechnischen Loesungen moeglichst reibungslos und elegant auf Systemen theoretisch jeder Groessenordnung, vom PC bis zur Mainframe-Maechtigkeit, bereitzustellen. Sonst besteht immer die Gefahr, in einer technologischen oder wirtschaftlichen Sackgasse zu enden.

PCs und Mainframes fuehren in Sackgassen

Beispiele solcher Sackgassen sind sicherlich in der PC-Welt zu finden, wo vorhandene Loesungen schwierig oder gar nicht auf Grosssysteme oder in die Online-Transaktionsverarbeitung uebertragbar sind. Auf der anderen Seite erlauben die bisherigen Grossrechnersysteme hinsichtlich der Komplexitaet der Anwen- dungsentwicklung und der Minimalgroesse arbeitsfaehiger Anlagen keine Uebertragung in sehr kleine betriebliche Einheiten, was eine reibungslose Zusammenarbeit stoert oder unnoetig verteuert. Die einzige verbreitete Plattform, die die gesamte Leistungsspanne abdeckt, ist heute in der Tat Unix. In einer virtuellen Unternehmung, gestuetzt auf Unix-Systeme, werden auch alle oder nahezu alle Ressourcen virtuell zu nutzen sein. Abgesehen von der technischen Moeglichkeit, die Unix-Systeme dafuer in Verbindung mit X-Terminal und X-Emulationssoftware bieten, entspricht dies auch den Anforderungen der teilnehmenden Mitarbeiter.

Mitarbeiter einer virtuellen Unternehmung werden typischerweise nicht nur von einem Ort an einem Computer aus arbeiten, sondern sehr stark mit Fernzugriffen operieren muessen. Das kann beispielsweise daran liegen, dass sie gerade bei einer anderen Unternehmung oder auch zu Hause taetig sind oder dass sie Zugriff auf bestimmte Sonderperipherie benoetigen, die im Netz nicht beliebig oft vorhanden ist. Diese Art der Flexibilitaet spart nicht nur Zeit und Aufwand ein, sondern ist auch ein Beispiel fuer die Geschwindigkeit, mit der sich virtuelle Unternehmen aufbauen und deaktivieren lassen. Dieses Tempo hat unmittelbaren Einfluss auf die Profitabilitaet des virtuellen Unternehmens.

Dienstleistungsabgebote auf elektronischem Markt

Die weitere Verbreitung des Konzepts virtueller Unternehmungen wird ganz automatisch zum Aufbau von "Marktplaetzen" fuehren, an denen fraktale Unternehmungen ihre Dienstleistungen anbieten koennen. Der Natur der Sache nach werden diese Marktplaetze ueberwiegend in Form eigener elektronischer Netze organisiert sein.

Ein gutes Beispiel dafuer existiert bereits in Form von "Unilinx", das von USL begruendet wurde. Auf diesem elektronischen Marktplatz koennen Anbieter Leistungen zur Kenntnis bringen und Nachfrager zu Angeboten auf elektronischem Wege auffordern. Darueber hinaus wird Unilinx in Zukunft auch die Moeglichkeit geschlossener Benutzergruppen bieten und damit ein Rueckgrat fuer die Formulierung virtueller Unternehmen durch die Teilnehmer darstellen.

Aehnliche elektronische Informationsboersen, branchenbezogen oder auch branchenuebergreifend, werden in der naechsten Zeit entstehen. Fuer die Unternehmensleitung stellt sich damit eine neue Informationsaufgabe, da sie viel staerker als bisher auf elektronische Maerkte eingehen muessen.

Ein wichtiger Aspekt des Aufbaus virtueller Unternehmen ist die inhaerente Faehigkeit, dass Mitarbeiter von praktisch ueberall aus arbeiten koennen. Technisch ist dies schon lange kein Problem, doch standen bis jetzt einer weiteren Verbreitung die normalen Praktiken des Geschaeftsablaufs entgegen. In einer virtuellen Unternehmung, wo Entscheidungsprozesse ohnehin zwischen Mitarbeitern verschiedener Unternehmen koordiniert werden, fallen diese Hindernisse weg.

Die Umstaende der Arbeit reduzieren sich auf den Mitarbeiter und sein netzwerkfaehiges Computersystem, das ihn vermutlich in tragbarer Ausfuehrung ueberallhin begleiten wird. Dies macht allerdings nicht nur den Mitarbeiter flexibler, sondern eroeffnet auch erheblich groessere Moeglichkeiten in der Mitarbeiteranwerbung. Da die bisherigen oertlichen Beschraenkungen wegfallen, koennen auch Mitarbeiter per Heimarbeit am Unternehmen teilnehmen, und das Zielgebiet der Suche nach hochkaraetigen Spezialisten erweitert sich auf die ganze Welt.

Neue Fuehrungs- und Finanzkonzepte notwendig

Es ist klar, dass Unternehmen dieser Art sich mit herkoemmlichen fiskalischen Effizienzkriterien nicht sinnvoll leiten lassen. Aufbau und Wechsel erfolgen einfach zu schnell, als dass auf die Endabrechnung eines Projektes gewartet werden koennte. Man wird zur Fuehrung von Unternehmen dieser Art viel staerker als bisher auf Zielhierarchien und innerhalb von diesen auf Performance-Kriterien ausgerichtet sein. Dieser betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit zur Einfuehrung neuer, ganzheitlicher Fuehrungskonzepte steht auf der anderen Seite eine historische Chance gegenueber, da virtuelle Unternehmen ja gemaess Definition keine ererbte Firmenstruktur und keine vorgepraegten Management-Stile haben koennen.

Dies wird fuer viele, insbesondere wohl auch gerade fuer die faehigsten Mitarbeiter in den Unternehmen ein enormer Ansporn und eine Leistungserleichterung sein. Andere werden sich dagegen sehr schwer tun. Und was fuer einzelne Personen gilt, gilt in vergroessertem Massstab natuerlich auch fuer Unternehmen und sogar ganze Laender als Wirtschaftsstandort.

* Christoph Michel ist Marketing-Manager bei der Sequent Computer GmbH in Muenchen.