Bestandssysteme

Die Achillesferse der digitalen Transformation

03.04.2018
Von 
Prashant Kelker ist Director bei Information Services Group Germany (ISG).
Bestandssysteme bremsen die digitale Transformation mit am stärksten aus. Die Antwort darauf kann aber nicht lauten, einen alten Monolithen durch einen neuen zu ersetzen.

Rund fünf Jahre unterschiedlichster Digitalisierungsprojekte fordern ihren Preis. Viele Unternehmen stellen heute ernüchtert fest, dass ihre Investitionen in zum Beispiel neue und glänzende mobile Apps ihr Geschäft kaum vorangebracht haben. Sie erkennen, dass sie nicht nur mit neuen Technologien spielen, sondern ihr Geschäftsfeld viel fundamentaler umgestalten müssen, wenn sie wirkliche Fortschritte erzielen wollen - ob digital oder nicht.

Monolithische Systeme der Vergangenheit beinhalten Daten und Abläufe, die das Geschäft am Laufen halten - bilden aber gleichzeitig die Achillesferse für das Geschäft der Zukunft.
Monolithische Systeme der Vergangenheit beinhalten Daten und Abläufe, die das Geschäft am Laufen halten - bilden aber gleichzeitig die Achillesferse für das Geschäft der Zukunft.
Foto: Jeanette Dietl - shutterstock.com

Der Haken bei der ganzen Sache: Das Geschäftsfeld der meisten Unternehmen manifestiert sich zumeist in den technologischen Investitionen der Vergangenheit - typischerweise in komplexen und monolithischen Bestandssystemen. Mehr noch: Diese Altsysteme beinhalten fast alle Daten, die das heutige Geschäft am Laufen halten und ohne die digitale Initiativen zum Scheitern verurteilt sind.

Ohne Zweifel zählen Bestandssysteme zu den größten Hürden für die digitale Transformation. Technologieanbietern ist diese Herausforderung nicht entgangen, sodass sie sich derzeit mit Ratschlägen aller Art überbieten: "Gebt alles in die Cloud!", "Investiert in neue Plattformen!", "Ersetzt Eure Altsysteme durch SaaS-Lösungen!", "Beginnt mit der Modernisierung Eurer Altsysteme!" Oder: "Baut an der IT-Architektur der Zukunft!" Solchen Ratschlägen ist eines gemeinsam: Sie fokussieren alle in erster Linie auf Technologie.

Missglückte Großprojekte

In den vergangenen sechs bis Jahren sind viele Programme, die sich zum Ziel gesetzt hatten Altsysteme zu modernisieren, branchenübergreifend gescheitert. Wer versucht hat, neue Systeme im großen Stil zu implementieren, leidet heute in der Regel unter schlechter Performance. Ein Beispiel von vielen ist ein großer amerikanischer Schokoladenhersteller, der eine umfassende ERP-/SaaS-Lösung eingeführt und seine Altsysteme in Produktion und Distribution abgelöst hat.

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Der Starttermin des neuen Systems verschob sich zunächst von April auf Juli, was grundsätzlich erst einmal nicht nach einer Katastrophe klingt. Doch führte diese Verzögerung schließlich dazu, dass das Unternehmen einen großen Teil des Halloween-Geschäfts verpasste, zumal die brandneue Implementierung gegenüber dem alten System in Sachen Performance und Funktionalität deutlich schlechter abschnitt. Schokoladenriegel blieben in den Lagerhallen liegen und konnten wegen zahlreicher Systemfehler nicht ausgeliefert werden. Der Absatz sank innerhalb eines Quartals um 12 Prozent und der Umsatz um fast 19 Prozent. Ähnliche Erfahrungen machten zahlreiche andere Unternehmen, die ihre Anwendungen als Ganzes digital transferieren wollten und dabei vor allem auf Technologie-Upgrades setzten.

Der Softwarearchitekt Martin Fowler hat einen Weg gefunden, die Businesslogik aus Altsystemen zu extrahieren und wiederzuverwenden.
Der Softwarearchitekt Martin Fowler hat einen Weg gefunden, die Businesslogik aus Altsystemen zu extrahieren und wiederzuverwenden.
Foto: Manuel Gomez Dardenne/Martin Fowler

Einen anderen, vollkommen neuen Ansatz wählten in den vergangenen beiden Jahren zum Beispiel europäische Handelsunternehmen. Sie bauten sogenannte "Wrapper"" ("Verpackungen") um ihre Altsysteme auf. Diese Wrapper bringen die Business-Logik an die Oberfläche, die tief in den Bestandssystemen implementiert ist. Auf diese Weise hielten sie ihre Altsysteme stabil, erkannten aber zugleich, was diese monolithischen Systeme leisten und wo sie aufgebrochen werden müssen. Neue Technologien wie zum Beispiel "Kafka" verhelfen solchen Wrappern derzeit zum Durchbruch für den Praxiseinsatz. Das dahinterliegende, vom Software-Architektur-Spezialisten Martin Fowler entwickelte Muster mit dem Namen "Strangler Pattern" ermöglichte es zum Beispiel auch zahlreichen Banken, die Logik ihrer Altsysteme wiederzuverwenden, ohne kostspielige Modernisierungsprogramme für Großrechner fahren zu müssen.

Business im Fokus

Die Lehre aus solche Vorreiterprojekten ist eindeutig: Statt in aufwendige Modernisierungsprogramme für Bestandssystemen zu investieren, sollten Unternehmen besser identifizieren, wo zusätzliche Mehrwerte für ihr Geschäft schlummern und welche (neuen) IT-Funktionen benötigt werden, um diese Mehrwerte zu erzielen. Anstatt eine Generalinventur zu starten, lassen sich Bestandssysteme so mit Blick auf ganz spezifische Business-Ziele hin anpassen.

Dabei braucht es zweierlei: zum einen Teams, welche die neuen digitalen Business-Funktionen definieren, und zum anderen Spezialisten als Teil dieser Teams, welche die Bestandssysteme in all ihren Details kennen. Auf diese Weise sind auch neue Lösungen und Implementierungen in der Lage, die grundsätzliche Business-Logik der Altsysteme weiter zu nutzen.

Da Business-Lösungen immer mehr in Mikroservices aufgebrochen und gekapselt werden, müssen Unternehmen ihre traditionellen Bus-Systeme für die Datenübertragung zwischen den Business-Anwendungen durch einen moderneren, fallgesteuerten Backbone ersetzen, der zum Beispiel eine Technologie wie Apache Kafka verwendet. Solche Backbones versetzen Unternehmen in die Lage, neu implementierte Lösungen mit der offengelegten Business-Logik der Bestandssysteme zu verbinden. Mit dem so erstellten Set aus alten und neuen Mikroservices lassen sich nun während der digitalen Transformation Änderungen an den Geschäftsprozessen flexibel vornehmen. Damit ist der Druck, Bestandssysteme als Ganzes zu modernisieren, endgültig passé.

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Natürlich bleibt es weiterhin wichtig zu wissen, welche Technologien über die Jahre zum heutigen Zustand zusammengewachsen sind. Doch muss dieses Know-how um ein Denken in Bahnen des Produktmanagements ergänzt werden. Zu diesem Zweck sollten Unternehmen ihr vorhandenes Technologie-Portfolio auffächern: Welche großen Systeme weisen welches Risiko und welche zu erwartende weitere Laufzeit auf? Die daraus abgeleitete Matrix zeigt auf, welchen geschäftlichen Mehrwert die einzelnen Systeme jeweils generieren. Dies kombiniert mit einem Health-Check der Systeme gibt aufschlussreiche Hinweise darüber, wo sich die problematischen Bereiche im Systemportfolio eines Unternehmens befinden.

ERP gestern, SaaS heute?

Die SaaS-Angebote am Markt lenken nur vom Wesentlichen ab. Was früher ERP hieß, kommt nun in der Gestalt von SaaS wieder. Standardsoftware "as a service" ist grundsätzlich nichts Falsches - sollte aber nicht am Anfang einer Reihe von Entscheidungen stehen. Es mag sein, dass eine bestimmte SaaS-Lösung die besten am Markt erhältlichen Funktionen bietet. Wer davon wirklich überzeugt ist, sollte das System kaufen und seine Organisation so umbauen, dass sie zu der Lösung passt. Wer meint, dass er Funktionen eines Standards ändern muss oder glaubt, dass manche Funktionen die eigenen Kernkompetenzen gefährden, sollte eine eigene individuelle Lösungsvariante erstellen. Doch über eines müssen sich die Verantwortlichen dabei im Klaren sein: Die Entscheidung für eine bestimmte SaaS-Lösung führt zwangsläufig dazu, dass umgehend ein neues Bestandssystem entsteht.

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Egal ob Alt- oder Neusysteme: Im Mittelpunkt aller Investitionsentscheidungen sollten nicht Software-Systeme stehen, sondern der mögliche Mehrwert für das Business. Umfangreiche Software-Upgrades helfen niemandem, da sich die Systeme während der Umstellung (und oft darüber hinaus) kaum oder nur schwer erweitern lassen. Stattdessen ist es möglich, die in den Bestandssystemen implementierte Business-Logik ans Licht zu bringen und die problematischsten der Altsysteme Schritt für Schritt abzuschalten. Dieser evolutionäre Ansatz der Bestandsmodernisierung stellt sicher, dass Technologieinvestitionen wohl überlegt und nicht im Sinne eines einmaligen "Big Bang" fallen.

Ökosystem zahlreicher Anbieter

Ziel sollte es nicht sein, ein monolithisches System durch einen weiteren, wenn auch moderneren Monolithen zu ersetzen. Vielmehr sollte die IT-Organisation in der Lage sein, Geschäftsziele flexibel zu unterstützen und dabei auf ein ganzes Ökosystem von Partnern zurückgreifen, nicht nur auf einen oder wenige Anbieter. Denn unsere neuen, modernen Systeme von heute sind die Bestandssysteme von morgen.