Dialog-Datenverarbeitung nach System-Methode

21.11.1975

Das Institut für Betriebswirtschaft an der Hochschule St. Gallen ist bekannt durch seine Fixierung auf die Systemtheorie und auf die Kybernetik. Sie haben mitgearbeitet an systemtheoretischen Management-Konzeptionen und kybernetischen Unternehmungs-Modellen. Sind Sie ein Kybernetiker?

Wenn Sie unter Kybernetik nur den technischen Ansatz verstehen, also Fertigungssteuerung und so weiter muß ich sagen: Nein. Wenn Sie in der Kybernetik aber einen neuen Ansatz sehen an Probleme in der Unternehmung heranzugehen, dann sage ich: Ja. Ich bin der Ansicht, daß wir bei der kommerziellen Datenverarbeitung wesentlich mehr diese kybernetischen und systemtheoretischen Ansätze brauchen.

- Neue Terminologie macht sich immer gut. Was bedeutet das im einzelnen?

Es wird tatsächlich viel über diese neuen Begriffe wie Kybernetik, Regelkreise, hierarchische Stufungen gesprochen. Kybernetik ist aber wesentlich mehr als nur Regelkreis oder als nur System/Subsystem-Aufteilung, sondern es ist ein Denken in einer neuen Dimension. Wir versuchen wieder mehr pragmatisch zu denken. Das heißt: Wir müssen uns viel mehr in der EDV fragen: Was nützt uns die Datenverarbeitung? Nicht mehr: Was können wir machen? Was wäre möglich?

Sondern: Wo kann der Betrieb besser geführt werden? Wo kann der Disponent besser entscheiden, wenn er über dieses oder jenes Hilfsmittel, über dieses oder jenes Programm verfügt.

- In der Tat die richtige Frage Wie aber hilft die Kybernetik bei der Antwort?

Indem wir die Unternehmung nicht mehr in der üblichen Art aufteilen nach Abteilungen, Fachbereichen und weiter, sondern indem wir die Unternehmung nach Systemen betrachten - also möglichst autonome, in sich geschlossene Regelkreise, bei denen wir dann den Informations-Kreislauf besser analysieren können - nämlich so, daß wir uns immer wieder fragen: Welche Sollvorgaben muß der Entscheidungsträger überhaupt erhalten damit er entscheiden kann? Und: Wie können wir diese Entscheidung wieder kontrollieren? Daraus lassen sich dann die EDV-Bedürfnisse einer Unternehmung ableiten. Wir gehen also nicht mehr von einer üblichen Ist-Aufnahme aus - daß wir uns also fragen: Wer fakturiert auf welche Art und Weise und wie wird dieses Formular erstellt? Vielmehr müssen wir uns fragen: Wie wird diese Funktion diese Aufgabe als Ganzes wahrgenommen? Die Fakturierung beispielsweise ist ja nur ein kleiner Teil des ganzen Verkaufsabwicklungssystems.

- Stichwort Informations-Kreislauf: Bisher hat die EDV gewachsene ablauforientierte Verfahren immer wie der unterbrochen. Schlagwortartig hieß das "Vertreibung aus dem Realtime-Paradies der Vor-EDV-Zeit in die Stapelhölle". Wie kommt man da wieder heraus?

Diese Vertreibung von der Direktverarbeitung, die der Mensch natürlicherweise macht, wenn er nur auf sich und vielleicht auf seine Kartei angewiesen ist, diese Vertreibung aus dem Paradies ist tatsächlich eines der größten Probleme der heutigen Datenverarbeitung. Man hat zu lange geglaubt, durch eine Rationalisierung einzelner Teiltätigkeiten eine ganze Aufgabe rationeller gestalten zu können, und hat aber dabei zu oft unterlassen, das Datenverarbeitungssystem auf den Menschen, der das System bedient

muß, auszuweiten. Zu lange hat man unter EDV-System allein Computer mit seinen Programmen und mit seinen Dateien verstanden. Woher die Daten gekommen sind und was man mit dem Output gemacht hat, interessierte den Verarbeitungsspezialisten weniger. Das wird sich ändern müssen; durch. Systeme der Dialog-Daten-Verarbeitung.

- Noch so ein neues Schlagwort. Ist dasselbe gemeint wie Online-Verarbeitung?

Nein. Online heißt ja nichts anderes als: Ein Terminal ist direkt verbunden mit einem Computer. Dialog-Datenverarbeitung ist wesentlich mehr. Das ist Dateneingabe - direkt in den Computer; ist Datenverarbeitung im Moment, nachdem ich die Daten eingegeben habe und ist Bekanntgabe der errechneten Resultate direkt zurück zum Sachbearbeiter. An unserem Institut haben wir fünf Kriterien erarbeitet, die erfüllt sein müssen, wenn wir von

Dialog-Datenverarbeitung sprechen: Erstens Datenverarbeitung am Arbeitsplatz, also Mensch-Maschine-Kommunikation und sofortige Verarbeitung. Zweitens Dialog-Software, also eine interaktive Datenverarbeitung mit einer Echtzeit-Dateiverwaltung. Drittens: ein einfaches und funktionsfähiges Betriebssystem, das mir ermöglicht, vom Benutzer aus gesehen, gleichseitig verschiedene Arbeiten auszuführen. Dann viertens: Dialog-Hardware, also eine EDV-Anlage, die von Haus aus auf ein Multiuser-Timesharing getrimmt ist und die es ermöglicht, Terminals verschiedenster Art zu bedienen. Dialog-Datenverarbeitung heißt aber auch, als letztes Kriterium, systemmethodisches Vorgehen - also die kybernetische systemtheoretische Betrachtungsweise des Ganzen.

- Wenn wir diesem Denkansatz folgen - zumal Hardware- und Software-Voraussetzungen immer mehr verfügbar sind - welche Konsequenzen hat das für den Endbenutzer?

Wir müssen hier drei wesentliche Benutzeranforderungen unterscheiden - nämlich Benutzeranforderungen bei der Planung, bei der Disposition und beim Vollzug. Zum ersten: Bei der Planung können wir dem Benutzer dadurch behilflich sein, daß wir ihm eine selektive Informationsversorgung anbieten, also eine Informations-zur-Verfügung-Stellung dann und nur dann, wenn der Benutzer die Informationen braucht. Das heute übliche Gegenteil von diesem Ansatz ist unter dem Schlagwort "Information Pollution" schon bestens bekannt: Das sind die üblichen Datenlisten, die kilogrammweise bei jedem Datenverarbeitungssystem anfallen und verteilt werden. Bei der Disposition als zweiter Benutzeranforderung können wir nicht nur Informationsversorgung, sondern eigentliche Datenverarbeitung betreiben. Die Dialog-Datenverarbeitung bietet hier die Möglichkeit, daß der Benutzer zusammen mit dem Computer seine Arbeit ausführt: Daß er also bei der Artikeldisposition direkt über verfügbare Bestände Auskunft erhält, seine Bestellungen dem System bekanntgibt und sofort neue verfügbare Bestände erhält. Wenn also Minuten später ein anderer Kollege mit dem gleichen Artikel disponieren will, hat er bereits die neuest verfügbaren Bestände zur Verfügung.

- Muß man ein möglichst großes System haben, um alle Dialog-Datenverarbeitungs-Subsysteme miteinander zu vermaschen?

Diese Meinung hat uns in der Vergangenheit und in der jüngsten. Gegenwart Großsysteme beschert, deren Komplexität von niemand anderem mehr genau durchschaut werden kann. Vergleichen wir das mit einem Beispiel aus dem täglichen. Leben: Ein Verkehrspolizist kann eine Kreuzung mit vier, fünf Straßen ohne weiteres beherrschen. Wenn man nun das oben erwähnte Prinzip der Vergrößerung des Systems anwendet, käme man ja zum Schluß, daß man mit zehn Polizisten auch eine riesige Kreuzung mit vierzig einmündenden Straßen beherrschen kann.

- Kann man auch - denn es gibt das Konzept des Kreisverkehrs.

Können Sie aber nur dann, wenn Sie mit dem einzelnen Verkehrsteilnehmer einen relativ hohen Grad an Autonomie und an selbständigem Entscheiden zumuten können - wenn sich also der einzelne Verkehrsteilnehmer selbständig in dieses System einfädelt und selbst weiß, wo er wieder aus dem System herauskommen muß. Dazu brauchen wir aber mehr Informationen als zum sturen Geradeausfahren und zum Warten bis zum nächsten Zeichen des Polizisten. übertragen auf die Datenverarbeitung heißt das nichts anderes als daß wir dem einzelnen Aufgabenträger wieder wesentlich mehr Verantwortung für die Aufgabenerfüllung geben müssen, verbunden mit zusätzlichen Informationen für ein möglichst optimales Verhalten.

- Das aber macht das Erarbeiten solcher Lösungen wieder erheblich komplexer als üblich.

Das ist richtig, macht aber nichts. Wir haben zu lange nur Abläufe programmiert und nicht Aufgaben neu gestaltet.

- Das ist ja auch so einfach nicht. Selten beginnt man auf der "grünen Wiese", sondern meistens wird angeflickt.

Wenn Sie das Prinzip der Dialog-Datenverarbeitung anwenden wollen, können Sie tatsächlich nicht nur anflicken. Sie müssen aber nicht in einem Anlauf eine ganze Unternehmung auf Dialog-Datenverarbeitung umstellen. Die Betrachtungsweise der möglichst autonomen Subsysteme ermöglicht uns, einzelne Aufgabenbereiche herauszugreifen, die Schnittstellen zu den anderen - vielleicht noch mit herkömmlichen Mitteln automatisierten Systemen genau zu definieren und in diesem abgegrenzten Subsystem ein neues Verfahren einzusetzen. Wir wenden hier also eine Mischung von Top-Down-Design- und Bottom-Up-Verifikationen.

- Also von oben hinunter schauen, ob es gutgeht, und sich dann von unten nach oben hocharbeiten.

Ich persönlich meine, daß es vier Komponenten eines solchen systemmethodischen Vorgehens gibt. Was wir soeben beschrieben haben, ist das Systemdenken.

- Vor weiteren Details zunächst noch einmal den Gesamtüberblick: Welche vier Komponenten sind dies?

Systemdenken, Vorgehenssystematik, Projektmanagement und viertens Methoden, Hilfsmittel und Verfahren. Die Vorgehenssystematik beschreibt in einzelnen Teilschritten, wie man vom Gesamtkonzept zur Realisierung und zum Betrieb des Systems kommt: Also das Prinzip der hierarchischen Strukturierung und Verfeinerung. Dazu muß nicht - aber sollte - auch die strukturierte Programmierung gehören. Da man komplexe Systeme nur in großen Teams realisieren kann, müssen wir auch dem Aspekt des Projektmanagements unsere Aufmerksamkeit schenken. Dies ist die viel zu oft unterschätzte, meist nicht formalisierte, aber gleich wichtige Komponente der Systementwicklung.

- Und was für Methoden, Hilfsmittel und Verfahren sollten zum Einsatz kommen?

Das ist immer von dem abhängig, was in der Unternehmung bereits bekannt ist. Generell wenden wir Interviewtechnik und insbesondere einen Raster - zur Untersuchung und Neugestaltung der Systemzusammenhänge an: Also einen verfeinerten kybernetischen Regelkreis, wo die einzelnen wesentlichen Lenkungselemente aufgelöst sind und aus den Verbindungen zwischen den Kästchen und Unterkästchen sich die Informationszusammenhänge herleiten lassen - entsprechend dem systemorientierten St. Galler Management-Modell.

- Hier schließt sich der Regelkreis. Wir sind in diesem Gespräch wieder bei der Kybernetik.

Das überrascht mich keinesfall.

Dr. Rudolf Baer, 29,

ist frischgebackener Doctor oeconomiae der renommierten Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften St. Gallen, jener gelegentlich als "Schweizer Harvard" oder "Eliteschule für Kybernetik-Technokaten" bezeichneten Mini-Universität. Seit 1971 arbeitet er am dortigen Institut für Betriebswirtschaft, nunmehr als Ressortleiter EDV, an Systementwicklungsprojekten - so zur Zeit an einem Produktionsplanungs- und Dispositionssystem für ein größeres Schweizer Elektronikunternehmen und einem

Baustellen-Kontrollsystem für die Bauwirtschaft. Da sein Dissertationsthema die "Dialog-Datenverarbeitung" war, überrascht es nicht, daß es sich genau um solche Systeme handeln wird. -m-