Digital-Chirurgie-Vorreiter Brainlab wird 30

Deutschland ist noch eine digitale Healthcare-Wüste

18.04.2019
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 

Digitaler OP

Digitaler OP mit Buzz-OP-Integrationssystem als Informations-Hub.
Digitaler OP mit Buzz-OP-Integrationssystem als Informations-Hub.
Foto: NYU Langone Health

Highlight der Digitalisierung sind die über 30 Operationssäle des Kimmel Pavilions. Gemeinsam mit Partner Brainlab haben die Amerikaner hier OPs aufgebaut, bei denen die verschiedensten bildgebenden Systeme das Ärzte-Team während einer Operation unterstützen. So kann beispielsweise direkt während der Operation eine MRT durchgeführt werden, ohne die sterile Umgebung verlassen zu müssen. Ein "Buzz-OP-Integrationssystem" mit hochauflösendem Display dient im OP als eine Art Informations-Hub und integriert mehrere verschiedene Informationssysteme. Auf diese Weise können die Chirurgen und andere Mitglieder des OP-Teams einen Fall in Echtzeit visualisieren und mit den Pathologen im Labor interagieren. Ferner erlauben Augmented Reality und andere bildgebende Systeme Operationen, die bis vor kurzem nur schwer vorstellbar waren. Wie ein Navigationssystem führt die digitale Technik nun den Chirurgen durch eine OP.

Allerdings fordert eine solche Digitalisierung des OPs auch ihren Tribut auf der Infrastrukturseite. So wurden im Kimmel zwei redundante Rechenzentren mit Load Balancing gebaut. Da das Krankenhaus in einem hochwassergefährdeten Gebiet in der Nähe des Hudson liegt, wurden die RZs nicht wie üblich im Keller installiert, sondern in höheren Etagen, um einen Ausfall durch Überflutung zu vermeiden. Einen Ausfall durch Hacker von außen sollen Firewalls abblocken. Zudem ist jeder OP noch einmal extra durch Firewalls abgesichert.

Die IT-Infrastruktur

Zum Informationsaustausch selbst wurden im Krankenhaus rund 150 Meilen an Glasfaserkabeln verlegt sowie über 1.100 Meilen CAT-6A-Kabel. Übertragungskapazitäten, die auch notwendig sind, denn ein moderner, digitaler OP erzeugt rund 10 GB an Daten pro Stunde. Zumal noch die Daten von MyWall und Co. hinzukommen. Für eine zuverlässige WLAN-Abdeckung im Kimmel Pavilion wiederum sorgen 1.300 Access-Points. Ferner wurden auf jedem Stockwerk Mobilfunkantennen/-Repeater für die in New York gängigen Mobilfunkprovider installiert.

Legt man den HIMSS EMRAM (Healthcare Information and Management Systems Society Electronical Medical Record Adaption Model) - kurz auch als HIMSS Level bezeichnet - als Messlatte an, so hat das Kimmel den Level 7 erreicht. Der HIMSS-Level misst von Null bis Sieben den Grad der Digitalisierung und die Verwendung elektronischer Patientenaufzeichnungen. In Deutschland befindet sich das Gros der Krankenhäuser auf Level 3.

Während das Kimmel also bei der Digitalisierung des Klinikalltags in der Oberliga mitspielt, ging es bei der Entwicklung noch ganz old-fashioned zu: Sowohl von OPs als auch Krankenzimmern wurden 1:1 Mockups gebaut, um den Einsatz der Digitaltechnik mit Ärzten und Krankenhauspersonal zu testen. Ganz anders dagegen in Bozen, wo ein Krankenhaus ebenfalls gerade neue digitalisierte Operationssäle implementiert. Die Norditaliener überprüfen und üben mit ihren neuen OPs per Virtual-Reality-Simulation.

Blackbox für den OP

Ein digitalisierter OP erzeugt pro Stunde rund 10 GB an Daten.
Ein digitalisierter OP erzeugt pro Stunde rund 10 GB an Daten.
Foto: Brainlab

Mit den digitalen OPs hält auch ein Prinzip Einzug, das nicht unumstritten ist. Vergleichbar mit den Flugschreibern eines Flugzeuges protokollieren im digitalen OP künftig Blackboxes alle Vorgänge und Daten. So weiß der Rechner im Hintergrund etwa, wie viele Skalpelle ein OP-Team verwendet hat und wie viele davon zur Sterilisation wieder eingesammelt wurden. Fehlt eines, kann der digitale OP Alarm schlagen, bevor das medizinische Besteck im Patienten vergessen wird. Ferner könnten diese Daten zu Schulungszwecken verwendet werden, aber auch, um womöglich ärztliche Fehler nachzuweisen.

Nichtsdestotrotz stellen diese Blackbox-Daten derzeit ein Problem dar. Denn noch ist nicht abschließend geklärt, wer wann unter welchen Umständen an diese Daten heran darf. Und wem gehören sie? Dem Patienten, dem behandelndem Arzt, dem OP-Team oder dem Krankenhaus? Würden hier einfache Erklärungen zum Datenschutz reichen? Solche und andere rechtliche Fragen sowie von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Krankenhausgesetze bremsen hierzulande die Digitalisierung des Gesundheitswesens aus. Und das, obwohl deutsche Hersteller bei der Digitalisierung der Medizintechnik eine führende Rolle einnehmen.

Zu diesen zählt etwa das bereits erwähnte Münchner Unternehmen Brainlab, das vor 30 Jahren gegründet wurde. Die Münchner haben sich auf bildgebende Verfahren zur 3D-Darstellung anatomischer Strukturen sowie die Digitalisierung der OPs fokussiert. Dabei beschränken sich die Münchner nicht nur auf die Darstellung, sondern liefern für die Chirurgen gleich ein Art Navigationssystem für den Eingriff an der richtigen Stelle mit.

Doch die Münchner und ihr Firmenchef und Gründer Stefan Vilsmeier haben noch mehr vor. "Wir wollen die digitale Chirurgie demokratisieren", gab Vilsmeier als Losung aus. Hierzu will der Manager bestimmte Komponenten seiner Middleware "Origin" künftig als Open Source zur Verfügung stellen. Die Software fungiert quasi als eine Art MIoT-Plattform (Medical Internet of Things) und stellt etwa die Verbindung zwischen dem eigentlichen Betriebssystems eines Rechner und der darüber liegenden medizinischen Software her. Zudem dient sie als Bindeglied, um verschiedene Datenformate und Protokolle wie etwa DICOM (Digital Imaging and Communications in Medicine) miteinander zu verbinden. Ferner ermöglichen die APIs der Plattform den Datenaustausch und die Zusammenarbeit von OP-Maschinen unterschiedlicher Hersteller.

Plattformökonomie in der Chirugie

Brainlab sucht den Einstieg in die Plattformökonomie.
Brainlab sucht den Einstieg in die Plattformökonomie.
Foto: Brainlab

Die Bereitstellung der Middleware ist für Brainlab ein Schritt in den Einstieg in die Plattformökonomie. Dabei hofft man, dass sich rund um Origin ähnlich wie bei IoT-Plattformen à la MindSphere oder Adamos ein eigenes Ökosystem mit neuen Apps und Services bildet. Zudem soll dies das eigene Standing in Sachen Digitalisierung absichern, beziehungsweise ausbauen und den Konzern gegen die Konkurrenz wappnen. Wobei Vilsmeier als Konkurrenz weniger andere Medizinhersteller sieht, sondern vielmehr Computergiganten wie Google und Amazon. Denn auch in der Medizin werden mit AI/ML Daten immer wichtiger. Zumal in den Augen Vilsmeiers die hierzu erforderliche Technik in Form von Cloud, Rechenleistung etc. nun im erforderlichen Umfang verfügbar ist und auch ausreichend skaliert.

Always young - die Hardware

Dies ist auch einer der Gründe dafür, warum Brainlab die Hardwareproduktion noch in diesem Jahr wieder am Standort München insourcen wird. Im Gegensatz zum Maschinen- und Anlagenbau, wo ein PC-Modell auch mal zehn Jahre und mehr eingesetzt wird, verfolgt Brainlab den Anspruch "always young". Sprich die Münchner wollen nach Möglichkeit immer die jeweils aktuellste Hardware verbauen, um so für den rasanten Fortschritt in der digitalen Medizin gerüstet zu sein und den Anwendern Investitionsschutz zu geben. Mit Blick auf die erforderlichen Tests, Zertifizierungen etc. könnte dies am besten am eigenen Standort gewährleistet werden.

Und aktuelle Rechenleistung benötigt die moderne digitale Chirurgie auch. Jüngste Entwicklung sind etwa OPs mit Mikroskop und Augmented-Reality-Unterstützung. Und der Bedarf an Rechen-Power dürfte weitersteigen. Schon sind komplett non-invasive Eingriffe im Gespräch, bei denen Miniatur-Instrumente zur OP über Körperöffnungen eingeführt werden. Assistenzarzt Computer leitet dabei den Chirurgen zur richtigen Stelle. Mit dem steigenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Machine Learning bei der Operationsunterstützung dürften die Hardwareanforderungen sogar explodieren.