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Deutschland im Techno-Kaufrausch: Wie steht's mit der Ergonomie?

19.12.2007
Von WIWO WIWO
Digitalkameras, Handys oder Navigationssysteme werden immer leistungsfähiger. Oft zulasten der Bedienerfreundlichkeit. Die Produkte des Jahres beweisen: Es geht auch anders.

Deutschland im Techno-Kaufrausch. Nie schleppen die Bundesbürger mehr Fernseher, Hi-Fi-Anlagen, Mobiltelefone, Computer, MP3-Spieler und anderes elektronisches Spielzeug in ihre Wohnstuben als zur Vorweihnachtszeit. Nie aber waren sie auch ratloser angesichts einer Flut neuer Technologien, Kürzel und Funktionen als in diesen Tagen. So mancher verzweifelt schon beim Studium der Prospekte, in denen "Multimedia-Mobiltelefone", "Video-Jukebox-MP3-Spieler" oder "Bluetooth-Freisprech-Navis" angeboten werden. Von Fernsehern mit LCD- und HD-Technik, DVB-T-Empfängern und HDMI-Anschlüssen ganz zu schweigen.

"Der Trend, die Geräte mit immer mehr Fähigkeiten und immer neuen Eigenschaften aufzurüsten, überfordert viele Käufer", beobachtet die Hamburger Psychologin und Unternehmensberaterin Karen Lindemann. Eine Umfrage von wiwo.de zu den größten Schwachstellen moderner Technik bestätigt das: 42 Prozent der Nutzer nennen die immer undurchschaubarer werdende Funktionsvielfalt als größten Mangel der Geräte. "Das Ergebnis sind genervte Kunden, Reklamationen wegen vermeintlicher Defekte, aber auch Imageschäden für die Hersteller", kritisiert Beraterin Lindemann.

Für die Wurzel des Übels hat die Branche einen eigenen Begriff kreiert: Es mangelt an der "Usability", zu Deutsch an der Bedienbarkeit und Benutzerfreundlichkeit der Geräte. Der Krieg der Knöpfe hat längst alle Produktkategorien und Branchen erfasst. Egal, ob Digitalkamera oder Druckmaschine: Weil Designer, Marketing- und Vertriebsleute allzu oft die Entwicklung neuer Produkte bestimmten, ohne zuvor deren Tauglichkeit bei der potenziellen Kundschaft zu testen, patzt der vermeintliche High-Tech-Knüller im Markt. "Dann muss teuer nachgebessert werden, oder das Produkt landet komplett in der Mülltonne", weiß Detlef Zühlke, der Chef des Zentrums für Mensch-Maschine-Interaktion am Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz in Kaiserslautern.

"Usability ist heutzutage ein Muss, und jeder Hersteller - ob Industriegüter oder Konsumgüter -, der das ignoriert, wird große Probleme mit dem Absatz bekommen, wenn er sie nicht schon hat", mahnt auch Marc Hassenzahl, der Präsident des rund 530 Mitglieder zählenden deutschen Zweigs der Branchenvereinigung Usability Professionals Association (UPA).

Die Erkenntnis macht sich in immer mehr Unternehmen breit. "Seit gut zwei Jahren bemerken wir eine wachsende Sensibilität der Hersteller für das Thema", sagt etwa Tim Bosenick. Der 37-jährige Soziologe gehört zu den deutschen Usability-Vordenkern und zählt mit seinem 2001 gegründeten Beratungsunternehmen SirValUse zu den größten europäischen Anbietern von sogenannten Benutzbarkeitstests. Die Hamburger führen in ihren Labors im Jahr mehr als 300 Studien für Industriekunden durch. "Wir fungieren als externer Berater und können so Mängel ansprechen, ohne auf interne Abhängigkeiten oder Zwänge Rücksicht nehmen zu müssen."

Mehr als 4000 Probanden pro Jahr testen in den Labors von SirValUse Produkte aller Art auf ihre Bedienbarkeit. Gemeinsam mit den Auftraggebern erarbeiten die Usability-Experten Checklisten für jeden Test und definieren die Zielgruppe. Zwischen 30 und 200 Euro - je nach Zeit- und Arbeitsaufwand - bekommen die über spezialisierte Personalvermittler rekrutierten Testpersonen für ihren kontrollierten Kampf mit der Technik.

"Ein Mobiltelefon sollte so einfach nutzbar sein wie ein Türgriff", lautet eine zentrale Forderung der Benutzerfreundlichkeits-Charta, die im November, zum internationalen World-Usability-Day, veröffentlicht wurde. Die Industrie hat hier noch großen Nachholbedarf. Immerhin, die Labortests zeigen Wirkung. Immer öfter ragen aus der Masse einzelne Geräte heraus, die nicht nur gut aussehen, sondern sich auch gut bedienen lassen. Gestützt auf die Testerfahrungen haben die Experten von SirValUse für die WirtschaftsWoche in acht Alltagskategorien die benutzerfreundlichsten Produkte des Jahres gekürt.

Usability-Tests sind Knochenarbeit. An diesem Nachmittag Anfang Dezember sitzt ein Student in dem Testlabor, das mit Sofaecke, Sideboard und Gummibaum recht wohnlich ausfällt. Beobachtet von der Testleiterin soll der Mittzwanziger auf dem Prototypen der neuen Homepage, die sich ein deutscher Großkonzern gegönnt hat, verschiedene Aufgaben erledigen. Wie schnell findet er das Kontaktformular des Kundendienstes, wo befindet sich die Nummer der Hotline, an welcher Stelle lassen sich die Kundendaten hinterlegen? All dies wird säuberlich festgehalten. Die Testleiterin notiert jeden Kommentar des Mannes und stoppt die benötigte Zeit für jeden Schritt. Während der Computer jede Mausbewegung dokumentiert, nimmt eine Kamera die zunehmend ratlosen Gesichtszüge des Probanden auf und überträgt die Aufnahmen in einen Nebenraum. Von dort können Projektmanager jede Aktion der Tester verfolgen.

Hinter den verspiegelten Scheiben, die Labors und Beobachtungszimmer trennen, "spielen sich zum Teil Dramen ab", erzählt Bosenick. Mancher Entwickler und Manager erlebte hier schon böse Überraschungen - wenn ein Testnutzer an der vermeintlich selbsterklärenden Technik verzweifelte. "Meist verstehen unsere Kunden hier sehr schnell, wo die Probleme liegen."

Der Bewusstseinswandel ist dringend nötig, wie die Studie "Usability Trend" von SurValUse belegt. Danach mussten rund die Hälfte der knapp 1200 Befragten in Deutschland schon einmal Produkte wegen mangelnder Gebrauchstauglichkeit nachbessern oder ganz vom Markt nehmen.

Die Pleiten beim Design treffen Unternehmen jeder Größe. So bekam der Automobilhersteller BMW 2001 nach der Einführung der neuen 7er-Reihe böse Kritik für die erste Generation seines i-Drive genannten Bediensystems. Die Designer hatten versucht, Klima-, Navigations- und Unterhaltungsfunktionen über einen einzigen Dreh-/Drückregler zu steuern - und waren an der Aufgabe grandios gescheitert.

Auch die Deutsche Telekom und ihr Konkurrent Arcor wissen inzwischen, dass gut gemeint noch lange nicht gut gemacht ist. Wenige Wochen nachdem sie ihre Handys T-One und Twintel im Herbst 2006 mit großem Werberummel auf den Markt gebracht hatten, ließen sie die Geräte wieder aus den Läden verschwinden. Die komplexe Konfiguration der sowohl in Mobilfunk- als auch in schnurlosen WLAN-Computernetzen arbeitenden Kombitelefone hatte die Käufer überfordert.

In der digitalen Welt sieht es nicht besser aus. So kommen nach dem "Usability Monitor 2007" des Online-Marketingunternehmens Syzygy mehr als drei Viertel der zahlungskräftigen Kunden über 50 Jahren mit der Benutzerführung deutscher Internet-Reiseportale nicht zurecht - und brechen die Online-Buchungen ab. Mit teuren Folgen: Den Anbietern, kalkuliert die Studie, "entgehen so Millionenumsätze".