Deutscher Online-Markt im Aufbruch Potentielle Diensteanbieter sind haeufig noch ueberfordert

12.08.1994

Von Wolfgang Rose

Interaktive Online-Services werden mit immer attraktiveren Informations- und Diensteangeboten aufwarten und eine hohe Akzeptanz selbst bei privaten PC-Nutzern erreichen. Die Entwickler dieser Online-Plattformen wie die Deutsche Telekom mit Datex-J, der amerikanische Anbieter Compuserve und auch Microsoft mit der neuen Plattform "Marvel" haben dies bereits erkannt. Andere Anbieter muessen sich damit auseinandersetzen.

Angesichts der stark wachsenden Zahl von PCs in deutschen Haushalten - das Systemhaus Debis erwartet sieben Millionen Stueck im Jahr 1996 - eroeffnen interaktive Online-Dienste fuer PC- Endgeraete einen Markt mit betraechtlichen Gewinnaussichten. Online- Anwendungen wie das Home-Banking, Home-Shopping, der Verkauf von Reisen, Versicherungen oder Immobilien, hochaktuelle Zeitungen und Stadtmagazine mit benutzerindividueller Auspraegung, Bulletin- Boards, Livediskussionen und Online-Spiele mit mehreren Teilnehmern koennen eine hohe Akzeptanz bei den privaten PC- Benutzern erreichen. Dies um so mehr, wenn die Dienste mit modernen Window-Oberflaechen und fotografischen Darstellungen praesentiert werden.

Komposition persoenlicher Zeitungen moeglich

Technologisch sind alle Voraussetzungen fuer attraktive Online- Dienste gegeben. Der groesste Teil der PC-Installationsbasis besitzt bereits heute genug Prozessorleistung, um die Front-end- Applikationen von Online-Diensten mit guter Performance auszufuehren und die Kommunikation mit Online-Servern zu bewaeltigen. Die Modems zur Kommunikationsanbindung der PCs werden taeglich billiger und leistungsstaerker. Und auch bei der Software wachsen zur Zeit die Entwicklungen verschiedener technologischer Richtungen im Online-Bereich zusammen.

So lassen sich durch die JPEG-Kompressionsmethode (Joint Photographic Experts Group der ISO) mit progressivem Bildaufbau in kurzer Zeit fotografische Bilder ueber schmalbandige Netze uebertragen, ohne dass fuer den Nutzer stoerende Wartezeiten entstehen. Dokumentenformate wie Hytime/SGML (Hypermedia Timebased Document Structuring Language/Standard Generalized Markup Language) bieten die Moeglichkeit, Dokumente automatisch zu formatieren und individuell zu layouten. Dies erlaubt die Komposition persoenlicher Zeitungen, die nach den individuellen Interessen der Online-Kunden zusammengestellt werden.

Mit dem Betriebssystem Windows 4.0 ("Chicago") wird die Entwicklung effektiver Multiwindowing- und Multitasking- Applikationen im Online-Bereich moeglich, die es dem PC-Benutzer beispielsweise erlauben, eine Kinokarte fuer den Abend zu buchen, zusaetzlich eine vorher angestossene Datenbankrecherche laufen zu lassen und ausserdem noch persoenliche Post zu empfangen.

Mittelfristig koennte auch der Corba-Standard (Common Object Request Broker Architecture) fuer verteilte objektorientierte Applikationen einen relativ unkomplizierten Zugriff der Online- Nutzer auf Objekte ermoeglichen, die sich auf Rechnern von Serviceanbietern befinden und damit die Anbindung von Anbietern an Online-Netze generell vereinfachen. Ebenso interessant koennte einst das von der amerikanischen Firma General Magic entwickelte Kommunikationskonzept Telescript fuer die Online-Technologie werden. Telescript deklariert gleichsam die existierenden Computernetzwerke zur Online-Plattform, indem es dem Online-Nutzer erlaubt, sogenannte Agenten auf die Reise durch die Netze zu schicken, um beispielsweise spezifische Daten zu ermitteln oder eine definierte Aufgabe wie eine Buchung auszufuehren. Dieses Konzept scheint durchaus zukunftstraechtig, allerdings sind noch grundsaetzliche Fragen bezueglich der Sicherheit, des Accountings oder der Kompetenz der Agenten bei der autonomen Durchfuehrung von Aufgaben in fremden Rechnern zu klaeren.

Gates-Company entwickelt Marvel

Ein guter Indikator fuer den Online-Trend ist auch die Tatsache, dass Microsoft diesen Markt bereichern wird. Die Gates-Company ist dabei, eine eigene Online-Plattform mit dem Namen Marvel zu entwickeln und kann diese natuerlich wie kein anderer in ihre PC- Betriebssystem-Software integrieren. Eingeweihte wissen, dass es sich hier um eine langfristige und globale Strategie handelt und dass Marvel technologisch im High-end-Bereich anzusiedeln ist. Auch fuer den Softwareriesen aus Redmond stellt Deutschland den nach den USA interessantesten potentiellen Online-Markt dar, so dass Marvel hierzulande demnaechst von sich reden machen wird.

Auch Datex-J wird kurzfristig einem intensiven Facelifting unterzogen, das bis auf die internen Strukturen durchschlaegt und diese Plattform fuer Anbieter und Nutzer sehr viel attraktiver machen wird. Die bei der Telekom unter dem Arbeitstitel KIT (Kernsoftware fuer intelligente Terminals) laufenden Bestrebungen werden Datex-J auf PC-Endgeraeten zu einer modernen Windows- Oberflaeche mit allen gaengigen interaktiven Bedienelementen sowie fotografischen Darstellungen verhelfen und einen X11-aehnlichen Client-Server-Betrieb zwischen externen Rechnern und PC-Endgeraeten erlauben. Auch ueber eine Restrukturierung des Datex-J-Infranetzes mit dem Ziel eines kostenguenstigeren Betriebs und damit geringerer Nutzungskosten wird bei der Telekom intensiv nachgedacht.

Im Vergleich zu konkurrierenden Online-Plattformen verfuegt die Telekom mit dem Datex-J-Netz ueber eine leistungsfaehige Infrastruktur und ueber einen deutlichen technologischen Vorteil, was die Anbindung externer Informations- und Diensteanbieter angeht. Zwar kann beispielsweise der amerikanische Plattformbetreiber Compuserve einen betraechtlichen Erfolg auf der Basis der Benutzerkommunikation und Informationsdienste vorweisen. Doch scheinen speziell fuer den deutschen Benutzer einige transaktionsorientierte Schluesselapplikationen wie das Home- Banking das entscheidende Kriterium fuer die dauerhafte Nutzung eines Online-Systems zu sein.

Die Aufbruchstimmung im Online-Markt sollte jedoch nicht nur fuer die Betreiber der Online-Plattformen Ansporn sein, moeglichst schnell ihre technischen Systeme und Infrastrukturen zu errichten. Auch potentielle Informations- und Diensteanbieter, die sich einer dieser Plattformen bedienen wollen, sind gefordert, sich auf die Online-Technologie vorzubereiten, wenn sie an diesem Markt teilhaben wollen.

Informationsanbieter in diesem Sinne sind beispielsweise Verlagshaeuser oder Nachrichtenagenturen, die bisher ihre Informationen in Printmedien vertreiben und in der Interaktivitaet der Online-Medien eine Moeglichkeit der interessanteren und individuelleren Gestaltung sehen. Das Spektrum der technischen Moeglichkeiten reicht hier von Hypertext-artiger Interaktivitaet bis zur persoenlichen Zeitung mit perfektem Layout, die automatisch auf die Interessen des Nutzers hin generiert wird und allmorgendlich auf seinem PC erscheint beziehungsweise ausgedruckt wird.

Moegliche Diensteanbieter sind alle Firmen, deren Produkte oder Dienstleistungen durch Transaktionen ueber ein Online-System verkauft werden koennen. Dazu zaehlen zuallererst Banken, die dem Kunden per Online-Service das komfortable Home-Banking ermoeglichen oder Versandhaeuser und Warenhausketten, die ihre Produkte mit Hilfe ansprechender interaktiver Kataloge anbieten und damit letztlich zu einer neuen Form des Vertriebs und Kundenkontaktes finden.

Interessierte Anbieter sollten sich zunaechst intensiv mit den Gestaltungsmoeglichkeiten und den Interaktionsmechanismen von Online-Plattformen vertraut machen und ein Konzept fuer die Praesentation ihrer Informationen und Dienste entwickeln. Neben den kaufmaennischen Aspekten wie Gebuehren und Konditionen fuer die Nutzung einer Plattform sind technische Eigenschaften wie die Tarifierungsmoeglichkeiten fuer angebotene Informationen, Uebertragungskosten, die Datensicherheit sowie die Mechanismen zur Einspeisung der Anbieterdaten in das Online-System zu beachten.

Online-Produkt kann stuendlich erscheinen

Besonderes Augenmerk ist auf den beim Anbieter notwendigen Produktionsprozess zu richten. Moechte beispielsweise ein Verlagshaus stuendlich eine Online-Zeitung anbieten, so muss die Herstellung durch eine Reihe interaktiver Werkzeuge unterstuetzt werden.

Zunaechst muessen die Text- und Bildinformationen mit Hilfe konventioneller Editoren bearbeitet werden. Danach ist mit Hilfe eines speziellen Werkzeugs die Interaktivitaet, das heisst die Beziehungen der Informationen untereinander, zu erzeugen. Dieses Werkzeug sollte idealerweise vom Entwickler beziehungsweise Betreiber der Online-Plattform zur Verfuegung gestellt werden. Als letztes muessen die Daten in einem Mastering-Schritt auf ihre Konsistenz getestet, in das fuer das Online-System notwendige Format tranformiert und zum Server uebertragen werden. Diese Phasen stellen natuerlich in ihrer Gesamtheit bei einem stuendlich erscheinenden Online-Produkt hohe Anforderungen an Produktionsablaeufe und Produktionssoftware.

Fuer Anbieter von transaktionsorientierten Diensten ergibt sich zusaetzlich die Frage der Transaktionsprotokolle zwischen seinem Rechner und dem Online-Server. Auch hier sind Aspekte wie Sicherheit, Entwicklungsaufwand fuer das Protokoll-Handling etc. zu untersuchen.

Die Entscheidung, ob und wann der Eintritt in die Online-Welt gewagt werden sollte und welche Plattform die geeignete ist, duerfte potentiellen Anbietern auch angesichts der grundsaetzlich verschiedenen Stroemungen in diesem Bereich schwerfallen. Noch sind die Meinungen ueber die prinzipielle technologische Basis fuer Online-Dienste kontraer.

So hat sich beispielsweise auch die von DBP Telekom, der Bertelsmann- und Kirch-Gruppe gegruendete Media Service GmbH langfristig interaktive Online-Dienste wie das Home-Shopping auf die Fahnen geschrieben. Dieses Ziel soll auf der Basis intelligenter Fernsehendgeraete, einer hohen Flaechendeckung von Breitbandnetzen, eines separaten Rueckkanals sowie entsprechender Betriebs- und GUI-Software fuer den computerisierten Fernseher erreicht werden. Doch scheint dieser Weg ueber die Video-on-demand- Technologie hin zu attraktiven Online-Diensten indirekter und laenger als der ueber die kurzfristig verfuegbaren PC-Online- Plattformen.

Ebenso interessant koennten Online-Dienste fuer PDA-Endgeraete werden, die ueber ein Funkmodem an ein Mobilfunknetz angebunden sind und auf diesem Wege mit einem Online-Server kommunizieren koennen. Der Vorteil dieser Endgeraete ist sicherlich ihre Mobilitaet. Allerdings scheint eine aesthetische Praesentation der Informationen und Dienste auf den kleinen PDA-Displays kaum moeglich. Da sich zudem noch kein sicherer PDA-Softwarestandard abzeichnet, waeren Software-Investitionen zur Zeit noch mit einem betraechtlichen Risiko behaftet.

Kenner der Szene erwarten mittel- bis langfristig ein Zusammenwachsen der verschiedenen technologischen Stroemungen, da sich die Unterschiede zwischen den genannten Online-Endgeraeten mit der Zeit mehr und mehr nivellieren werden. Potentielle Informations- und Diensteanbieter sollten daher aus unserer Sicht auf eine solide PC-basierte Online-Plattform setzen, um einen moeglichst schnellen Markteintritt und Know-how-Aufbau zu gewaehrleisten. Die PC-basierten Dienste werden die Standards fuer die Online-Technologien der Zukunft setzen.

Wolfgang Rose ist leitender Berater fuer interaktive Medien beim Debis Systemhaus in Hamburg.