Deutsche Bahn AG

Deutsche Bahn mutiert zur E-Company

04.05.2001
Die Deutsche Bahn gerät immer mal wieder in die öffentliche Kritik. Gerade erst wieder beäugen die Medien voller Häme das veraltete, unflexible und Mainframe-basierte Basis-Computervertriebssystem, das für allerlei Pannen im tagtäglichen Personenverkehr verantwortlich zu zeichnen scheint. Doch es gibt Hoffnung, wenn die auch manchmal nur in verborgenen Teams blüht.

Es ist nicht immer leicht, die Deutsche Bahn (DB) zu lieben. Vor allem dann, wenn man die Viertelstunden zählt, die mit Verspätungen dahinrinnen. Dann denkt man zwar an die Deutsche Lufthansa, an den x-ten Stau auf der A8 - glücklicher ist man trotzdem nicht wirklich. Seit ungefähr einem Jahr wollen nun aber die Eisenbahner um ihren Chef Hartmut Mehdorn ihren Kunden Visionen bieten. Die hören zwar auf so staubtrockene Bezeichnungen wie "Komfortauskunft" und "Flott" - sie könnten aber trotzdem Zukunft haben.

Im Februar 2000 hatte die Deutsche Bahn AG sich entschlossen, zum "E-Business-Unternehmen zu mutieren", wie es einer ihrer Manager neulich auf einer Veranstaltung von Ploenzke etwas leger formulierte. Verschiedene bereits bestehende E-Commerce-Vorhaben brach man in Teilprojekte auf, die wiederum Bausteine eines in den nächsten Jahren zu realisierenden Gesamtkonzepts für E-Business-Anwendungen bei der Deutschen Bahn AG darstellen.

Den ersten Meilenstein hat die Bahn bereits im April 2001 mit einem Relaunch ihres Interne-Portals erreicht und bietet seitdem ein umfassendes Reiseportal an. Auf diesem stellt jeder Surfer von zu Hause aus etwa Routenberechnungen für verschiedene Verkehrsträger wie Bahn, Taxi und den öffentlichen Personennahverkehr an, kann aber auch Tickets buchen und Online-Tickets (Surf&Rail) kaufen. Ergänzende Informationen und Buchungsmöglichkeiten etwa über Hotels, Mietwagen, Flugreisen sowie Veranstaltungen aller Art samt der kompletten Kartenbestellabwicklung sowie weitere touristische Dienstleistungen gehören ebenso zum E-Commerce-Angebot der DB .

Heute schon verwirklicht und jetzt als "Reiseauskunft" auf www.bahn.de zu finden ist das Projekt "Komfortauskunft". Mit dem beteiligte sich die Deutsche Bahn am gemeinsam von der COMPUTERWOCHE und dem Beratungsunternehmen Gartner Group ausgerichteten Wettbewerb "Anwender des Jahres 2000" und verpasste nur knapp die Endausscheidung.

Ticketautomat für zu HauseNoch im Versuchsstadium befindet sich das Projekt "Flott", das mit der Komfortauskunft eine logische Einheit bilden wird. Mit ihm soll für Anwender ein neues Zeitalter im Fahrkartenvertrieb anbrechen. Der Internet-Surfer soll sein Ticket am heimischen Drucker ausdrucken oder per E-Mail empfangen können. Auch über den Tickettransfer via WAP- und SMS-Technik denken die Bahner nach. In einem ersten Schritt wird dieser Service für Firmenkunden entwickelt, ein erstes Pilotprojekt unterhält die Deutsche Bahn bereits mit Siemens, dessen Mitarbeiter sich Bahnfahrkarten in der Firma am PC ausstellen können.

Was aber ist neu an dem Bahnservice? Mit der Reiseauskunft (Komfortauskunft) können Benutzer eine individuelle Reiseplanung praktisch von Haustür zu Haustür vornehmen. Das heißt, der Reisende gibt bei der Fahrplanauskunft nicht mehr nur einen Bahnhof oder eine Haltestelle an, sondern er nennt beispielsweise seine Wohnadresse als Start der Reise. Als Ziel nennt er ebenfalls eine individuelle Adresse (etwa eines Hotels oder einer Privatwohnung). Das DB-System berechnet dann von Tür zu Tür den genauen Weg samt allen möglichen Ein- oder Ausstiegshalten. Dabei eruiert das System eine optimale Verbindung, die den Weg zur ersten Haltestelle - etwa einer U-Bahn-Station, die Reisekette mit Bus und Bahn sowie den Weg von der letzten Haltestelle zur Zieladresse beschreibt.

Wer ist besser: Die Bahn oder das Auto?Geplant ist es, in der nächsten Ausbaustufe - Herbst 2001 - so genannte Points of Interest, also Sehenswürdigkeiten, Behörden, Krankenhäuser, Hotels etc. ebenfalls als mögliche Start- und/oder Zielpunkte zur Auswahl anzubieten. Darüber hinaus wird dann auch ein Routenvergleich mit dem PKW angeboten.

Dieses Neudeutsch "intermodales Routing" genannte Auskunftssystem berücksichtigt auch bahnfremde Verkehrsmittel, die der Auskunftsuchende auf seiner Reise nutzen könnte: Pkw, Taxi, Fahrrad, Fußwege, Bus, Straßenbahn, U- und S-Bahn, Nah- sowie Fernverkehrszüge. Nicht ohne Selbstbewusstsein meint der "Ideengeber" für die Komfortauskunft, Reinhold Pohl, die geplante Lösung hebe sich von allen bisher am Markt befindlichen Anwendungen ab.

Die Auskunft ist zunächst für den nationalen Verkehrsmarkt gedacht. Bereits jetzt zeichnen sich aber, sagt Pohl, Anwendungsmöglichkeiten im europäischen Ausland ab. Die Deutsche-Bahn-Tochter Transport-, Informatik- und Logistik-Consulting GmbH, kurz TLC, habe nämlich bereits die Ausschreibung für die Datenintegration der Fahrplandaten aller europäischen Bahnen für sich entscheiden können. "Da liegt es natürlich nahe, das Anwendungsgebiet der Komfortauskunft auszuweiten", erklärt der Bahn-Manager mit dem langen Titel Organisationsleiter der Abteilung Marketing E-Commerce Personenverkehr (MEP).

Leicht gesagt - schwer getanUm den Kunden ein solches Informationsangebot machen zu können, ist ein beträchtlicher Aufwand vonnöten. Allein mit dem derzeitigen Daten-Management, das heißt der Harmonisierung der Daten von über 80 Datenlieferanten, der Plausibilitätsprüfung sowie der Verknüpfung von Fahrplan- und Haltestelleninformationen mit dem Kartenmaterial, sind im Europäischen Fahrplanzentrum - kurz EFZ - der TLC fünf Mitarbeiter beschäftigt. An der Programmentwicklung der Komfortauskunft beteiligten sich mehrere Firmen - die TLC, Hacon und weitere Subunternehmen wie SLT und Gikom. Die TLC fungierte als Generalunternehmer.

Die zentrale Bedeutung der Komfortauskunft, sagen Pohl und die MEP-Projektleiterin Petra Karacaga, ist deren "Intermodalität". Das heißt, der Surfer bekommt eine Auskunft über seinen Reiseweg, die Informationen zum Individual- und zum öffentlichen Verkehr miteinander verbindet. Um dies realisieren zu können, müssen auch die entsprechenden Daten verknüpft werden. Als Straßendatengrundlage für die Routingkomponente dienen die Navtech-Daten, die von Digital Data Service (DDS) bezogen werden. Die Daten des öffentlichen Personenverkehrs holt sich die Bahn von den jeweiligen Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen (Bus und Bahn).

Alle diese Daten zu integrieren ist nicht gerade trivial. Immerhin muss die Bahn hierzu 6400 Bahnhöfe in Deutschland in das System einfüttern. Die werden von 33000 Zügen angelaufen. Insgesamt existieren rund 180000 Haltestellen in ganz Deutschland und zirka 50000 Bahnhöfe europaweit, die für mögliche Berechnungen in Frage kommen - von der Programmlogik her gesehen sind es sogar 360000, weil bei diesem Informationssystem ja immer beide Fahrtrichtungen berücksichtigt werden müssen.

Wer kennt schon 4,5 Millionen Straßen?Halbjährlich mit zusätzlichen Zwischenlieferungen erhält das Fahrplanzentrum der Bahn (EFZ) eine neue Straßendatenlieferung komprimiert auf zwei CDs im GDF-Format (GDF = Geographic Data Files). Diese werden innerhalb von zirka zwei Tagen in die Datenhaltung des EFZ importiert. Momentan, sagt Pohl, dürften sich noch etwa fünf Prozent des Straßennetzes ändern. Das liegt vor allem an den Neuerfassungen von ländlichen Gebieten. Ziel ist, das deutsche Straßennetz lückenlos zu erfassen.

Zurzeit enthalten die Daten zirka 4,5 Millionen Straßenknoten (Kreuzungen, Einmündungen) und etwa 5,5 Millionen Straßensegmente. Diese werden in einem Spezialverfahren zu rund 950000 Straßen zusammengefasst. Um diese Datenmengen in annehmbarer Zeit verarbeiten zu können, musste ein spezielles Softwarepaket von der TLC entwickelt werden.

Das Importprogramm muss dabei eine riesige Datenflut verarbeiten, denn alle neuen Daten müssen eingefügt, unterschiedliche Daten geändert und wegfallende gelöscht werden. Dieser Prozess ist aufwendig, da vor allem auch die geografischen Daten immer verglichen und gegebenenfalls auf den neuesten Stand gebracht werden müssen.

Ein anderes Problem stellen Namensänderungen von Straßen dar. Um Straßen zu vergleichen, sind abgesehen von deren Bezeichnung auch geografische Kriterien nötig. So existiert beispielsweise in Berlin in drei verschiedenen Stadtteilen eine Albrechtstraße. Trotzdem muss sich die Komfortauskunft noch zurecht finden.

Sämtliche für die Haus-zu-Haus-Auskunft benötigten geografischen Daten werden in eine Datei für den Web-Server exportiert. Dazu gehören das Fußwege- und Straßennetz sowie die georeferenzierten Bahnhöfe, Haltestellen mit ihren Zugängen und deren Verbindung mit dem Straßennetz. Beim Export werden in zwölf bis 14 Stunden zirka 20 Tabellen ausgelesen und über 1 GB an Daten in eine Datei übertragen.

Da die Rohdaten Fehler enthalten (zum Beispiel Placebostraße anstatt Parebostraße), manche Informationen auch nicht in den Rohdaten enthalten sind (wie beispielsweise Bahnhofseingänge), müssen die Daten erst noch "veredelt" werden. Hierzu hat die TLC eine Pflege-Anwendung geschrieben, mit der man direkt die in einer Oracle-Datenbank gehaltenen Daten ändern kann. Damit kann zeitnah auf entsprechende Kundenmeldungen reagiert werden.

Um den Weg zum Einstiegs- oder vom Ausstiegshalt genau berechnen zu können, muss eine Verbindung zwischen dem Halt und dem Straßennetz bestehen, das in Form von Vektorkarten vorliegt. Klingt einfach, ist es aber nicht: Der Zugang zu Haltestellen, insbesondere zu Bahnöfen, S- und U-Bahn-Stationen, kann nämlich nicht automatisch ermittelt werden. Zum einen ist zu beachten, dass diese Halte zumeist mehrere Eingänge besitzen. So hat der Hauptbahnhof in Frankfurt am Main einen Haupt-, einen Nord- und einen Südeingang, außerdem ist der Zugang über eine so genannte B-Ebene möglich. Die S-Bahn-Station Frankfurt (Main)-"Galluswarte" hat sowohl an der "Mainzer Landstraße" als auch an der "Frankenallee" je einen Eingang, die etwa 300 Meter voneinander entfernt liegen. Entscheidend für das Routing, die digitale Wegbeschreibung also, sind diese Eingänge und nicht die Ko-ordinaten des Bahnhofs, die ja nur einen virtuellen Punkt darstellt, wohingegen Bahnhöfe in Wirklichkeit teilweise sehr großflächig sind.

Wo bitte geht''s zur Straßenbahnhaltestelle?Ein weiteres Problem, das die Komfortauskunft meistern muss, sind verteilte Haltestellen. Diese werden zwar unter einem Namen geführt, ihre Ein- und Ausstiegspunkte können jedoch je nach Fahrtrichtung und Verkehrsmittel unterschiedlich ausfallen. So liegen etwa bei der Haltestelle "Güterplatz", an der Straßenbahnen und Busse halten, die Ein- und Ausstiegspunkte für Straßenbahnen in Richtung Osten rund 100 Meter vom Ein- und Ausstiegspunkt für Straßenbahnen in Richtung Westen entfernt. Die Bushaltestelle dagegen befindet sich nicht auf der "Mainzer Landstraße" wie die Straßenbahnhalte, sondern am "Güterplatz".

Ein ähnliches Problem stellt sich bei großen Bahnhöfen mit vielen Gleisen. Es ist bei einer Auskunft mit Fußwegberechnung durchaus relevant, ob ein Fahrgast von Gleis 1 oder Gleis 27 oder sogar von der Straßenbahnhaltestelle vor dem Bahnhof abfährt, denn der Weg durch den Bahnhof kann mehrere Minuten in Anspruch nehmen. Daher sollten solche größeren Stationen in kleinere Einheiten aufgespalten werden. Diese müssen aber dann von der Software auch als eigene Einstiegspunkte mit Zugangsmöglichkeiten und Verbindungskanten erfasst werden.

Das System berücksichtigt sogar, ob ein Anfragender sein Auto oder ein Taxi benutzen will oder einen Teil des Weges zu Fuß zurücklegt. In ersterem Fall müssen Parkplätze, -häuser und Taxistände berücksichtigt werden. Außerdem rechnet die Bahn dem Internet-Surfer sogar noch die Zeit aus, die für die Parkplatzsuche benötigt wird.

Die IT-ArchitekturFür die Reiseauskunft setzt die DB momentan einen Park von mehr als zwölf Linux-Rechnern ein. Vier der zwölf Rechner sind Web-Server, das heißt, sie dienen nur zur Kommunikation mit den Benutzern, die anderen berechnen im wesentlichen Verbindungsanfragen.

Hinzu kommen noch ein Rechner, der als Zugang zur Schnittstelle des Kurs''90-Host-Systems dient (Rail-Server), sowie ein System, das die Bearbeitung der eingegangenen Bestellungen ermöglicht Die beiden letztgenannten sind Windows-NT-, beziehungsweise Windows-NT-Terminal-Server-Systeme.

Der Zugriff auf die Fahrplanauskunft aus dem Internet erfolgt über den Web Server Director (WSD). Das ist ein Load-Balancing-System, welches die Anfragen "gerecht" auf die Web-Server verteilt. Nach außen gibt es bei dieser Konstruktion nur eine IP-Adresse, nämlich die des WSD.

Eine Pentium-Pro-Maschine mit 200 Megahertz kann in der Stunde bis zu 4000 Anfragen beantwortet, auch wenn auf dem Rechner gleichzeitig der WWW-Server läuft. Mit einer schnelleren Hardware, beziehungsweise durch Verteilung auf mehrere Rechner steigt die Leistung entsprechend. Somit kann man auf höhere Zugriffsraten flexibel reagieren.

Der Internet-Surfer erhält seine Routing-Daten als Grafikdateien im PDF-Format. Diese PDF-Dateien werden mit dem Kompressionsverfahren "Flate Compression" dabei so klein wie möglich gehalten, um die Übertragungskosten zu reduzieren und um den Auskunftsuchenden nicht zu lange warten zu lassen.

Und was bringt das der Deutschen Bahn?"Analysen haben ergeben," sagt Pohl, "dass wir durch das Komfortauskunftssystem gemessen am Gesamtumsatz der Fahrgeldeinnahmen des Personenverkehrs einen zusätzlichen Erlös von zwei bis fünf Prozent erwirtschaften können." Das würde sich bei der Deutschen Bahn zu einem zweistelligen Millionen-Mark-Betrag summieren.

Noch ist es Zukunftsmusik, mit der Komfortauskunft auch direkte Preisvergleiche zwischen einer Fahrt mit dem Zug und etwa dem Auto anzustellen. Das wäre sehr im Sinne der DB, sagt Pohl. Denn Untersuchungen hätten gezeigt, dass Autofahrer, die nie mit der Bahn fahren, die Kosten für eine Reise im Privat-PKW im Vergleich zu einer Zugreise fast immer unterschätzen: "Bei Kenntnis der tatsächlichen Auto- beziehungsweise Bahnkosten würden wir vielen die Augen öffnen, wie sie Kosten sparen können."

Eine weitere große Hürde wird die DB mit ihrer Komfortauskunft im Mai 2001 genommen haben: Dann sollen alle Straßendaten Deutschlands lückenlos erfasst sein. Und dann könnte es auch für den finstersten Winkel der Republik heissen: "Wir machen Ihnen den Weg frei." Auch wenn das der Werbespruch eines anderen Unternehmens ist.

Jan-Bernd Meyer, jbmeyer@computerwoche.de

Das Projekt

Dauer

- Voruntersuchungen: 1999.

- Projektstart: 4. Januar 2000.

- Das System ging im 0ktober 2000 ans Netz.

- Auswertungen, Anpassungen und die Dokumentation waren bis Februar 2001 abgeschlossen.

Beteiligte

- Leitung MEP (Marketing E-Commerce Personenverkehr):Reinhold Pohl.

- Projektleitung und -koordination MEP: Petra Karacaga, Michael Karbach.

- Projektleiter TLC:Valéry Schmid.

- Das Projektteam setzte sich zusammen aus vier Mitarbeitern von TLC, sowie aus Mitarbeitern der Firma Hacon.

Komfortauskunft kurz

- Erster Schritt für multimodalen Routenvergleich.

- Optimaler Weg von und zu Haltestellen.

- Erleichterte Suche bei unbekannten Haltestellennamen.

- Darstellung von Krankenhäusern, Behörden, Hotels etc.

- Wegweisung zu Veranstaltungen.

- Optimale Verbindung von Reisezeit und Routenwahl.

- Mehr Verbindungen des öffentlichen Verkehrs werden gefunden.

- Verknüpfungen zu Hotels.

- Einbindung von Events.

- Anbieten kompletter Reiseketten.