Desktop-Betriebssysteme/Warten auf Windows 95 haelt PC-Anwender weiter in Atem

04.08.1995

Es geht um einen Milliardenmarkt, den sich nur eine Handvoll namhafter Anbieter im Betriebssystem-Geschaeft teilen. In ihrem Visier stehen sowohl die Neukunden als auch umsteigewillige PC- Anwender. Das Geschaeft wird nicht nur mit dem Betriebssystem gemacht, sondern auch durch die Bindung des Kunden und die daraus folgenden Orders. Um die Gunst der Kaeufer buhlen mehrere herstellereigene DOS- und PC-Unix-Varianten, Mac-OS, OS/2, Nextstep, Windows NT und in wenigen Tagen auch Windows 95.

Von Horst-Joachim Hoffmann*

Der Markt ist schlicht gigantisch. Nach Zahlen der Gartner Group waren 1994 weltweit rund 170 Millionen PCs im Einsatz. Die Umsaetze fuer Software, angefuehrt von Windows-Anwendungen, erreichten in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres fast fuenf Milliarden Dollar. Analysten erwarten fuer dieses Jahr insgesamt zwoelf Prozent Wachstum - und das, obwohl das verzoegerte Erscheinen von Windows 95 und das Warten auf entsprechende 32-Bit-Applikationen den Markt gebremst haben duerften.

Geht der Anwender mit einer Umstellung auf Windows 95 auf eine der groessten Werbe- und PR-Kampagnen der PC-Geschichte ein, so ist die Umsatzmarke von einer Milliarde Dollar fuer Microsoft realistisch.

Ueber 100 Millionen Anwender haben weltweit - legal oder als Raubkopien - Windows 3.x auf ihren PCs installiert. Marktanalysten schaetzen, dass 20 bis 35 Prozent kurzfristig auf Windows 95 umsteigen werden.

Dazu kommen die Umsaetze durch PC-Neuverkaeufe. Das US-amerikanische Marktforschungsunternehmen Soundview schaetzt, dass 60 Prozent oder knapp 30 Millionen Einheiten der fast 50 Millionen geplanten PC- Neuverkaeufe in den ersten zwoelf Monaten nach Erscheinen von Windows 95 mit diesem Betriebssystem verkauft werden. Auch hier wartet bei einem voraussichtlichen Preis fuer die PC-Hersteller von 35 Dollar pro Version eine Umsatzmilliarde fuer Microsoft.

Dennoch spielt das Unternehmen ein riskantes Spiel, meinen die Experten der Gartner Group. Der geplante Coup kann auch misslingen. Bisher hat die Branche noch nie eine hinreichend fehlerfreie erste Version eines Betriebssystems erlebt.

Der groesste Betatest aller Zeiten verunsichert

Nicht zuletzt wohl deshalb verschob Microsoft die Freigabe bereits um gut ein Jahr und startete mit rund 400 000 Betatestern den groessten Testlauf aller Zeiten. Eine weitere Gefahr waere eine nochmalige Verzoegerung der Marktfreigabe in letzter Minute. Rund einen Monat vor dem geplanten Erscheinen ist die Frage, ob MS- Network in Windows 95 enthalten sein wird, immer noch nicht geklaert.

Ein Unsicherheitsfaktor liegt auch in der Produktpolitik selbst. Denn parallel zum Giganto-Push von Windows 95 muss Microsoft DOS und Windows 3.x dem Erfolg des neuen Produkts in irgendeiner Form opfern.

An dieser Basis zu kratzen ist nicht ganz ohne strategischen Kitzel. DOS insgesamt besass laut IDC im Jahr 1993 einen weltweiten Marktanteil von ueber 80 Prozent im Bereich der Desktop- Betriebssysteme. Die Anteile der anderen PC-Betriebssysteme nahmen sich dagegen sehr bescheiden aus: OS/2 hielt 3,7 Prozent, Mac-OS 7,2, PC-Unix in verschiedenen Versionen 1,2 und Windows NT 0,3 Prozent.

Laut Microsoft waren Ende 1994 etwa 65 Millionen Exemplare von Windows und Windows fuer Workgroups weltweit auf dem Markt. Ueber die monatliche Auslieferung schwanken die Angaben: Die Zahlen liegen je nach Quelle zwischen 1,5 und 2,8 Millionen Einheiten.

Selbst den Microsoft-Managern scheint die erwartungsvolle Euphorie um Windows 95 nicht ganz geheuer. So versuchte Brad Silverberg, Senior Vice-President von Microsoft, die Erwartungen, die mit dem neuen Produkt verbunden werden, in einem Gespraech mit amerikanischen Journalisten zu relativieren: "It's just software. It doesn't cure cancer. It doesn't grow hair. It is not a floor wax. It's Windows." ("Es ist nur Software. Es heilt keinen Krebs. Es laesst keine Haare wachsen. Es ist kein Fussbodenwachs. Es ist Windows.")

Das abwiegelnde Vorgehen macht Sinn. Zu oft in der Geschichte des PCs wurden die Anwender durch vollmundige Ankuendigungen mit zu hohen Erwartungen an ein neues Produkt herangefuehrt und dann enttaeuscht.

So wird Kritik an Windows 95 schon vor der Freigabe laut (vgl. ein Interview mit Andrew Schulman, Herausgeber des Buchs "Unauthorized Windows 95" in der CW-Schwesterpublikation "PC-Welt", 8/1995, Seite 46 ff.).

Ein Blick zurueck verdeutlicht das heutige Szenario: Die sagenhafte Speicherkapazitaet von mindestens 20 KB war fuer ein CP/M-System erforderlich - anno dazumal, als es noch 8080-Rechner gab. Inzwischen traeumt alle Welt von rund 15 Millionen Codezeilen, kurz Windows 95.

Der Ursprung aller Dinge, die heute auf der Basis von DOS am Markt sind, liegt in Seattle, im CP/M-aehnlichen QDOS der Seattle Computer Products fuer 8086/8088-Rechner. 1981 erwarb Microsoft das Betriebssystem - der Durchbruch kam gegen Ende des Jahres, als IBM dieses kurzerhand als PC-DOS fuer die eigenen neuen PCs propagierte.

Richtig spannend allerdings wurde die Geschichte erst mit der Version MS-DOS 3.3. Die Vorlaeufer 1.0/1.1 (1981), 2.0 (1983), 2.1 (1984), 3.0, 3.1 und 3.2 (1984 bis 1986) naeherten sich in ihren Funktionen allmaehlich dem, was heute ein Betriebssystem fuer einen PC ausmacht. 3.3 galt lange Zeit als stabilste DOS-Version und wurde deshalb haeufig auch dem nachfolgenden 4.x vorgezogen.

Als eine der wichtigsten Neuerungen des MS-DOS 4.0, dem wegen Bugs und Inkompatibilitaeten noch im Jahre 1988 die Version 4.1 nachgeschoben wurde, galt die Einfuehrung der DOS-Shell, einer zeichenorientierten grafischen Benutzeroberflaeche. Auch wurde die 32-MB-Grenze fuer Festplatten aufgehoben. 1991 ging Microsoft mit der Version 5.0 auf den Markt, die Hilfefunktionen, eine verbesserte Speichernutzung und eine ueberarbeitete DOS-Shell bot.

Um eine Reihe von Hilfsprogrammen, die meist jedoch von Fremdanbietern stammten, erweiterte Microsoft die Version 6.0 aus dem Jahre 1993, so beispielsweise mit dem Komprimierungsprogramm "Doublespace", dem "Memmaker", einer Antivirensoftware aus "PC- Tools Deluxe" und einem neuen Backup-Programm aus den "Norton Utilities".

MS-DOS 6.21 aus dem Jahre 1993 wurde um die Doublespace- Komprimierung erleichtert. Aufgrund eines Prozesses der Stac Electronics zog Microsoft dieses Komprimierungsprogramm vorsorglich zurueck, da Stac Electronics der Gates-Company Verletzungen von Patentrechten auf das Komprimierungsprogramm "Stacker" vorwarf. Seit 1994 liefert Microsoft die zur Zeit gueltige Version 6.22 mit dem Komprimierungsprogramm "Drivespace" aus.

16-Bit-Code in Win 95 freut die Konkurrenz

Die grafische Benutzeroberflaeche Windows, die jetzt als Version 3.11 auf dem Markt ist, setzt auf DOS auf. Sie wurde bereits 1985 erstmals von Microsoft vorgestellt. Erst Windows 95 aber soll laut Hersteller ein eigenstaendiges Betriebssystem sein - es meldet sich in den hauseigenen Anwenderprogrammen unter Systeminformationen als Windows 4.0; laut Kritiker Andrew Schulman baut Win 95 weiterhin auf DOS auf und nutzt alten 16-Bit-Code von Windows, um damit beispielsweise Fenster und Benutzereingaben wie Mausklicks abzuarbeiten.

Andere 32-Bit-Betriebssysteme wie OS/2, Mac-OS, Unix oder Windows NT sind da eindeutiger. Die Intel-basierenden Systeme dieser Auflistung koennten - wenn es auch unwahrscheinlich ist - von einer Schlappe des Windows 95 profitieren. OS/2 besitzt derzeit schon fast zehn Prozent Marktanteil. Es stammt in seinen Grundzuegen aus der einstigen Zusammenarbeit von IBM und Microsoft und ist seit 1987 auf dem Markt.

Bereits die erste Version 1.0 des Jahres 1987 enthielt eine zeichenorientierte Benutzeroberflaeche und besass eine DOS- Kompatibilitaetsbox fuer DOS-Programme. Fuer damalige Verhaeltnisse allerdings erschienen die RAM-Speicheranforderungen von 2 MB als sehr hoch. 1988 kam der Presentation Manager als grafische Benutzeroberflaeche hinzu, der in der Version 1.3 (1990) bereits stark an Windows erinnerte. Mit der Workplace-Shell als Benutzeroberflaeche zaehlt OS/2 ab Version 2.0 zu den reinen 32-Bit- Betriebssystemen.

Dennoch gelang ihm bislang nicht der Durchbruch; lange Zeit titulierten Computer-Freaks das Betriebssystem als OS-Halbe. Auch heute leidet es noch darunter, dass zuwenig echte OS/2-Anwendungen existieren, und so wird OS/2 oft nur als Task-Switcher fuer Windows-Programme benutzt.

OS/2 hat eine starke Position errungen

Immerhin gelang es IBM, bei Escom und Vobis europaweit das aktuelle OS/2 Warp, Version 3, anstelle von MS-DOS und Windows mit allen verkauften PCs auszuliefern. Wahlweise kann jedoch auch weiterhin Windows bezogen werden. Bereits in den ersten zwei Monaten nach Erscheinen wurde Warp weltweit rund 800 000mal verkauft.

Apples Mac-OS ist ein weiterer Player im Betriebssystem-Karussell. Es soll das System 7.5 auf dem Macintosh und dem Power-Mac abloesen, wobei die wesentlichen Neuerungen die Benutzeroberflaeche betreffen. Auch Apple geht im Kampf um den Kunden-Dollar in die Offensive und kuendigte an, Vertriebslizenzen zu vergeben. Wie es heisst, will Apple zur Erhoehung der Praesenz im Markt 25 Millionen Dollar bereitstellen.

Bleibt noch Windows NT: Es wurde 1993 von Microsoft vorgestellt und urspruenglich als Desktop-Betriebssystem angepriesen. Aufgrund hoher Hardware-Anforderungen (unter anderem mindestens 16 MB RAM) konnte sich Windows NT aber nicht im PC-Massenmarkt etablieren und fristet vorerst ein Dasein als Server-System. Mit Einfuehrung der Version 3.5 gegen Ende 1994 wurde Windows NT in den Versionen "Server" und "Workstation" vertrieben.

Von Power-Usern wird NT den anderen Windows-Varianten, inklusive wohl auch dem kommenden Windows 95, vorgezogen. Es gilt als hoechst stabil, als recht sicher (C2-Standard) und professionell. Als skalierbares Betriebssystem auf Microkernel-Architektur laeuft es nicht nur auf leistungsfaehigen normalen PCs, sondern auch auf Multiprozessormaschinen, RISC-Prozessoren und den neuen Power-PCs.

An Teilnehmer des Microsoft Developer Network, Level 2, wird zur Zeit das Premium Release der Windows-NT-Workstation-Version 3.51 ausgeliefert. Das auf der CD enthaltene Programm "SH-Update" erzeugt auch fuer Windows-NT-User die Win-95-Benutzeroberflaeche - und behaelt die laufstabile Technik von NT bei. Beim Neustart meldet letzteres sich dann neben anderen technischen Daten mit "Windows NT 4.0". Die Qual der Wahl, ob Win 95 oder NT, haengt dann wohl mehr an der Leistungsfaehigkeit des Rechners.

Es kommt also Bewegung in das Betriebssystem-Szenario. Das Beratungsunternehmen Diebold sieht eine staerkere Fragmentierung in diesem Sektor, die nicht unbedingt dazu dient, die Markttransparenz zu erhoehen.

Die Berater gehen davon aus, dass die Marktfuehrerschaft der naechsten Jahre weniger von der Funktionalitaet der Betriebssysteme oder der Verfuegbarkeit von Application Programming Interfaces (APIs) abhaengen wird, sondern vom Erfolg der Marketing-Strategen und dem Angebot an Standardsoftware. Insofern ist auch der im Markt kursierende Budgetwert von 100 Millionen Dollar zur Markteinfuehrung von Windows 95 wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Laut Diebold zeichnet sich am Horizont ein Betriebssystem-Konzept ab, das die Schichten Microkernel, Personality-Funktionen, Middleware- und Netzwerkebene sowie Benutzerebene umfasst.

Der Microkernel unterhaelt die Verbindung zur Hardware und die Kommunikation zwischen dem Prozessor und der eigentlichen Systemumgebung. Bereits im Markt befindet sich Windows NT als Beispiel fuer diese Architektur. Das von Apple, IBM und HP projektierte Betriebssystem Taligent mit objektorientierter Benutzeroberflaeche fuer den Power-PC zeigt ebenfalls eine Ausrichtung auf diesen Ansatz.

In Zukunft modulare Betriebssysteme

Die Personality-Funktionen betreffen das jeweilige Betriebssystem, wobei eine modulare Architektur Anwendung und BS voneinander trennt und ueber allgemein gueltige Schnittstellen kommunizieren laesst. Die Middleware- und Netzwerkebene stellt die Kommunikation der Anwendung mit den Netzwerkservices sicher, und die Benutzeroberflaeche schliesslich ist der fuer den Anwender bedeutsame Teil.

Es wird nach Diebold-Prognose irgendwann einmal moeglich sein, solche Betriebssystem-Teilmodule verschiedener Hersteller ueber geeignete Schnittstellen zu mixen. Bis dahin allerdings vergeht noch einige Zeit. Vorerst erwarten Marktbeobachter nach Freigabe von Windows 95 einen Nachfrageschub von einigen Prozenten vor allem auch in puncto 32-Bit-Anwendungsprogrammen.

Der Markt bleibt spannend. Sicher erscheint im Moment die Dominanz von Microsoft. Wie sich diese Position auf die Zukunft des BS- Markts und das kuenftige Angebot auswirkt, wird sich in den naechsten Jahren zeigen. An einem Schwarzen Brett bei Microsoft schrieb ein Mitarbeiter unter die Frage "Where do you want to go when we ship?" in orakelhafter oder ironischer Antwort: "To get a cup of coffee, then start work on Win 96".

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in Muenchen