Desktop-Betriebssysteme/Fuer den gehobenen Massenmarkt und professionellen Einsatz OS/2 dokumentiert eine neue Politik der IBM in Sachen PC

04.08.1995

Von Wolfgang Sommergut*

Das Betriebssystem OS/2 hatte lange Zeit den Ruf, nur fuer IBM- treue Firmenkunden, sogenannte Blue Shops, interessant zu sein. Vor allem stand IBM im Verdacht, mit OS/2 den Anwender auf "blaue" Hardware festlegen zu wollen. Doch spaetestens seit dem Erscheinen der Version 2.1 ist das vorbei, inzwischen hat auch Big Blue die Zeichen der Zeit erkannt. Mit der neuesten Version 3.0, auch OS/2 Warp genannt, zielt IBM auf den gehobenen Massenmarkt und will zugleich den professionellen Einsatz unterstuetzen. Das zeigt sich bereits an der Palette des Warp-Angebots.

Das Basispaket Warp umfasst das Betriebssystem plus das sogenannte Bonuspak, eine Sammlung von Anwendungsprogrammen. IBM liefert OS/2 wahlweise mit oder ohne integriertes Windows aus. Die preiswertere Version ohne Windows kann ein bereits vorhandenes MS-Windows 3.x einbinden und so Windows-Anwendungen ausfuehren.

Soeben neu erschienen ist Warp Connect, das neben dem Betriebssystem jetzt endlich eine nicht mehr mangelhafte Netzwerkunterstuetzung bereitstellt. Es eignet sich insbesondere fuer den Einsatz in heterogenen Netzwerken und laesst aufgrund der integrierten Peer-to-peer-Funktionen den Aufbau kleiner OS/2-Netze zu.

Fuer den dedizierten Server-Betrieb sieht IBM den LAN Server vor: Die aktuelle Version 4.0 laeuft im Augenblick noch unter OS/2, Version 2.1. Den LAN-Server gibt es als Einsteigervariante fuer kleinere Netze in der Ausfuehrung "entry level", der grosse Bruder nennt sich "advanced".

Am oberen Ende des Leistungsspektrums bietet IBM eine OS/2-Version fuer symmetrisches Multiprocessing (SMP) an. Diese ist aber nur fuer ausgewaehlte Markengeraete von Compaq, Hewlett-Packard und natuerlich IBM selbst verfuegbar.

OS/2 Warp ist - kurz gesagt - ein 32-Bit-Einzelbenutzer-System mit Multitasking-Faehigkeit. Die besondere Ausrichtung auf die 80386- Architektur ermoeglicht preemptives Multitasking, virtuelle 8086- Maschinen, Memory paging und lineare Speicheradressierung bis 4 GB.

Fuer die Betriebssicherheit ist insbesondere das preemptive Multitasking relevant. Hierbei bestimmt der Kernel des OS, welche Prioritaet und wieviel Prozessorzeit einer Anwendung zugeordnet wird. Das bedeutet, dass ein Anwendungsprogramm die Systemressourcen nicht blockieren kann wie beim kooperativen Multitasking unter MS-Windows 3.x, wo die Programme selbst darueber entscheiden, wann sie die Ressourcen wieder freigeben.

Besonderen Wert legten die OS/2-Entwickler auf den Speicherschutz, so dass fehlerhafte Anwendungen Speicherbereiche anderer Anwendungen oder gar des Betriebssystems nicht ueberschreiben koennen. Bei Speicherschutzverletzungen durch Anwendungssoftware, zum Beispiel verursacht durch einen wilden Pointer, uebernimmt das Betriebssystem die Kontrolle und beendet das Programm.

Neben dem Multitasking unterstuetzt OS/2 auch Multithreading, also ein Multitasking innerhalb einer Anwendung. Eine Textverarbeitung kann beispielsweise das Drucken ueber einen eigenen Prozess, also einen Thread, abwickeln und so das Weiterarbeiten am Text erlauben, waehrend der Druckvorgang im Hintergrund ablaeuft.

Eine weitere Besonderheit von OS/2 ist die Unterstuetzung ladbarer Dateisysteme. Nur der Code fuer die Verwaltung von FAT-Laufwerken (File Allocation Table) ist fest in das Betriebssystem eingebaut; die Unterstuetzung fuer weitere Dateisysteme wie HPFS oder das CD- ROM-File-System sind ueber Treiber ladbar.

Das High Performance File System (HPFS) ist das OS/2-eigene Dateisystem fuer Festplattenlaufwerke. Es ueberwindet zahlreiche Einschraenkungen des von DOS her bekannten FAT-Systems: Es erlaubt Dateinamen bis zu 255 Zeichen (einschliesslich Leerzeichen), vermeidet die Dateifragmentierung und nutzt den verfuegbaren Speicherplatz besser aus. Ausserdem beschleunigt HPFS den Datenzugriff deutlich, indem es die Schreib-Lese-Koepfe nicht bei jedem Zugriff zum Anfang der Festplatte zwingt, sondern Verzeichnis und Dateiinformationen nahe bei den Dateien selbst verwaltet.

Ein Pluspunkt ist der Presentation Manager

Die grafische Benutzeroberflaeche von OS/2 ist der Presentation Manager (PM). Er laesst wie andere grafische Benutzeroberflaechen (X- Windows, Macintosh oder MS Windows) Programme im Fenster ablaufen. PM-Programme machen Gebrauch von PM-API-Funktionen, was die Programmierung nicht unbedingt vereinfacht, aber deren Aussehen und Bedienung vereinheitlicht.

Standardmaessig installiert OS/2 als Benutzer-Schnittstelle die sogenannte Workplace-Shell. Sie erlaubt eine objektorientierte Verwaltung von Daten und Programmen. Dateien koennen etwa mit Drag and drop kopiert, verschoben, geloescht oder gedruckt werden. Die Konfiguration von Datenobjekten erfolgt ueber ein Notizbuch, dessen Gestaltung sich nach der Art des betroffenen Objekts richtet. Diese intuitiv schnell zugaengliche und bis auf einige Ausnahmen auch konsequente Gestaltung der Benutzeroberflaeche ist sicherlich ein Pluspunkt fuer OS/2.

Um den Umstieg auf OS/2 zu erleichtern, unterstuetzt Warp die Ausfuehrung von DOS- und MS-Windows-Programmen. Faktisch erhaelt man beim Kauf von OS/2 also ein Betriebssystem und eine Benutzeroberflaeche zusaetzlich.

DOS- und Windows-Programme laufen entweder in einem Fenster oder als Vollbildsitzungen. Fuer jede Session lassen sich zahlreiche DOS-Einstellungen vornehmen, ja man kann jeder DOS-Session bei Bedarf eine eigene Autoexec.bat zuordnen oder nur fuer einzelne Programme DOS-Treiber laden.

Die DOS- und Windows-Kompatibilitaet ist ausgesprochen gut. Einschraenkungen gibt es lediglich bei Programmen, die direkt auf bestimmte Hardwarekomponenten zugreifen wollen wie der "Norton Diskdoktor". Das gilt auch fuer zeitkritische Programme, etwa Terminalsoftware und einige Spiele. Ebenfalls nicht unterstuetzt werden einige Eigenheiten aus der Windows-Welt, zum Beispiel Win 32s nach der Version 1.1, virtuelle Geraetetreiber (VxDs) und daher auch nicht die Netzwerkfunktionalitaet von Windows fuer Workgroups.

Die gute Kompatibilitaet hat allerdings den paradoxen Effekt, dass zahlreiche Softwarehaeuser ihre Programme nicht auf OS/2 portieren, da die DOS- beziehungsweise Windows-Versionen problemlos unter Warp funktionieren.

RAM-Ausbau bringt mehr als schnellere CPUs

Nach offiziellen Angaben von IBM laeuft OS/2 bereits auf einem Intel-386SX-basierten Rechner mit 4 MB RAM und 35 bis 55 MB freiem Festplattenplatz. Das stimmt nur theoretisch. Sinnvoll arbeiten laesst sich erst auf einem 486er mit mindestens 8 MB RAM. Bei der Verwendung von PM- oder Windows-Programmen sollten es mindestens 12 MB sein. Tatsaechlich bringt fuer OS/2 die Steigerung der Prozessorleistung keine so spuerbare Verbesserung der Performance wie der Ausbau des RAM ueber 8 MB hinaus.

Warp wird mit dem Bonuspak ausgeliefert, einem umfangreichen Softwarepaket. Es umfasst Works fuer OS/2, das neben einer einfachen Textverarbeitung eine Datenbank, Tabellenkalkulation und einen Personal Information Manager besitzt. Zusammen mit dem ebenfalls mitgelieferten Faxworks sind also alle Applikationen fuer einfachere Bueroloesungen vorhanden.

Ausserdem enthaelt das Bonuspak vom Web-Browser ueber ein Mail- Programm bis zu FTP alles fuer den Wahlzugang zum Internet. Weitere Programme ergaenzen dieses Angebot an Kommunikationssoftware noch: das Terminalprogramm Hyper Access, ein Compuserve Information Manager fuer den PM und Person2Person, das Videokonferenzen, die gemeinsame Nutzung der Zwischenablage und andere Features zur Gruppenarbeit bereitstellt. In der deutschen Version ist auch ein Btx-Dekoder namens Opalis enthalten, der allerdings eher Demo- Charakter fuer das Vollprodukt hat. Ebenfalls im Bonuspak enthalten ist ein Multimedia-Viewer. Er erlaubt das Abspielen von Sound- und Videodateien in den gaengigen Formaten.

IBM stellt auf allen Plattformen, von PC-DOS 7 bis zum Mainframe, die maechtige Batch-Sprache Rexx zur Verfuegung. Dutzende vordefinierte Funktionen erleichtern dem Anwender die Erstellung von Rexx-Scripts, die komplexe Arbeitsablaeufe automatisieren und sogar das Aussehen und Verhalten der Workplace-Shell bestimmen koennen. Unter Warp nutzen viele Anwendungsprogramme Rexx zudem als Makrosprache. Das einmal erworbene Know-how im Umgang mit der Batch-Sprache macht sich also in vielen Kontexten bezahlt.

Nach IBM-Quellen gibt es weltweit rund acht Millionen OS/2- Benutzer. Andere schaetzen den Anteil von OS/2 an PC- Betriebssystemen auf etwa zehn Prozent. Auf jeden Fall hat OS/2 nach dem Erscheinen der Version 2.1 durch positive Berichterstattung in der Fachpresse und durch Marketing-Kampagnen einen groesseren Bekanntheitsgrad erlangt. Einen regelrechten Popularitaetsschub bewirkte OS/2 Warp, das durch geringeren Hauptspeicherbedarf und Multimedia-Unterstuetzung noch deutlicher auf den Massenmarkt abzielt. Das Kalkuel von IBM, mit OS/2 den Markt fuer ein PC-basiertes 32-Bit-Betriebssystem im grossen Stil besetzen zu koennen, hat sich bislang dennoch nicht als erfolgreich erwiesen.

IBM hat sehr lange die Gegebenheiten des Massenmarkts falsch eingeschaetzt. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass das Betriebssystem lange Zeit nur gehobene Hardware-Ausstattung unterstuetzte.

Doch hier hat sich die Situation in den letzten zwei Jahren grundlegend geaendert: IBM bemueht sich zunehmend um moeglichst umfangreiche Hardware-Unterstuetzung von OS/2 und bietet ueber Compuserve sowie Internet staendig neue Treiber und Updates an. Auch die Hardwarefirmen selbst liefern inzwischen immer oefter nicht nur DOS- und Windows-, sondern auch gleich OS/2-Treiber mit.

Warp Connect behebt nicht alle Netzwerk-Defizite

Die Anzahl der OS/2-Anwendungen ist verhaeltnismaessig gering - das ist zur Zeit sicherlich das wesentliche Argument gegen dieses Betriebssystem. Zwar gibt es inzwischen Office-Pakete, doch sind sie meist teurer als ihre Gegenstuecke in der Windows-Welt und im Funktionsumfang eingeschraenkt. Vor allem Applikationen, die die besonderen Faehigkeiten von OS/2 ausnutzen, sind noch selten.

Die mangelnde Netzwerkunterstuetzung von OS/2 war laengere Zeit ein weiterer Minuspunkt, den aber das neue Warp Connect beseitigt. Bereits die Moeglichkeit, Warp Connect uebers Netz zu installieren, zeigt die neue Netztauglichkeit.

Das Paket enthaelt unter anderem das Peer-to-peer-Netzwerk OS/2- Peer 1.0, das nicht nur Festplatten und Drucker im Netz zur Verfuegung stellt, sondern auch den gemeinsamen Zugriff auf serielle Schnittstellen erlaubt. Zum Lieferumfang von Warp Connect gehoert TCP/IP 3.0 (inklusive aller Internet-Anwendungen des Bonuspak in neuesten Versionen), die Client-Software fuer LAN Server und Novell Netware sowie der IBM LAN Distance Client.

Portierung auf Power-PCs laesst noch auf sich warten

Allerdings sind diese Module noch nicht optimal aufeinander abgestimmt, das gemeinsame Installationsprogramm taeuscht Einheitlichkeit eher nur vor. So ist die gleichzeitige Anbindung an Novell Netware und LAN Server noch laengst nicht zufriedenstellend geloest.

Ein spuerbarer Mangel von Warp Connect ist nach wie vor das Fehlen einer benutzerspezifischen Verwaltung der Oberflaeche. Ein OS/2- Rechner laesst sich also nur mit Einschraenkungen mehreren Benutzern zugaenglich machen, da kein lokales Login moeglich ist. Soll jeder Anwender an einem OS/2-Arbeitsplatz seine individuelle Arbeitsumgebung erhalten, muessen sich Systemverwalter mit Shareware-Utilities behelfen.

Ende des Jahres soll ein Bundle aus OS/2 Warp und LAN Server Entry 4.0 fuer kleinere und mittlere Netze bis zu 250 Usern auf den Markt kommen. Kurze Zeit spaeter wird Warp mit LAN Server Advanced 4.0 fuer bis zu 1000 Anwender folgen.

Die kommende Version von Warp soll die wichtigsten 700 Win-32-API- Aufrufe direkt unterstuetzen, was eine Portierung von Win-32- Programmen auf OS/2 erheblich erleichtern wird. Dort soll auch der neue Standard fuer Verbunddokumente, Opendoc, implementiert werden.

Den naechsten groesseren Schritt in der Entwicklung von OS/2 will IBM mit der Portierung auf den Power-PC tun. Neben der Unabhaengigkeit von einer Intel-CPU soll OS/2 durch eine Microkernel-Architektur aufgewertet werden. OS/2 fuer den Power-PC war urspruenglich fuer Mitte 1995 angekuendigt, sein Liefertermin verschiebt sich aber mindestens auf Anfang 1996.

Unter Mitarbeit von Big Blue erscheint demnaechst ein Office-Paket der deutschen Firma Star Division. Eine neue Office-Loesung von Lotus soll bald folgen.

"Smartsuite" gilt, da ihr Hersteller Lotus ja inzwischen von IBM uebernommen wurde, als "strategisches Produkt". Insgesamt koennte der Kauf von Lotus eine wichtige Rolle fuer den Erfolg von OS/2 spielen. Wenn es IBM gelingen sollte, OS/2 als meistverbreiteten Lotus-Notes-Server und -Client zu etablieren, dann waere das Betriebssystem in puncto Groupware seinen Konkurrenten einen wichtigen Schritt voraus.

*Wolfgang Sommergut ist Redakteur der CW-Schwesternpublikation "PC-Welt".