Immateriell und dynamisch

Der "Werkstoff" Software läßt sich nicht in Formen pressen

18.11.1977

ZÜRICH (uk) - Nicht als statisches Endprodukt "Programm", vielmehr als dynamisches System sei die "weiche Ware" der EDV zu verstehen. Zu diesem Schluß kommt Software-Entwickler Gerard Lüchinger vom schweizerischen Softwarehaus Systor AG in der neuesten Ausgabe der Kundenzeitschrift "Systor-Info". Nur so könne mit mehr Selbstverständlichkeit Datenverarbeitung betrieben werden, ohne bei den meisten DV-Betroffenen Unklarheit, Streß oder gar Zukunftsangst hervorzurufen. Wir drucken mit freundlicher Genehmigung der Systor AG diese Kolumne nach, weil wir meinen, daß der philosophische Ansatz Lüchingers zur Bewältigung der Software-Krise zur Diskussion gestellt werden sollte.

"Wenn zwei gleicher Meinung sind, hat bestimmt nur einer über die Sache nachgedacht." Dieser Ausspruch stammt von Lindon B. Johnson, ehemaliger President der USA. Er hat ganz sicher nichts mit EDV und noch weniger mit Software an sich zu tun. Und doch widerspiegelt er sehr treffend eine Parallelität zum Begriff Software, der die Gemüter seit Beginn der modernen Datenverarbeitung erhitzt, der ganze Wirtschaftszweige umwälzend beeinflußt, der Milliardenwerte verschiebt, für eine kleine Gruppe fast paradiesische Erfüllung und für eine weit größere Gruppe Unklarheit, Streß, ja oft sogar Zukunftsangst bedeutet: Software.

Allseitig, ganzheitlich, umfassend, universell, oder wie immer wir es ausdrücken versuchen, wir werden damit die Natur der Software nicht definieren können. Dieser Begriff ist schlechthin die Definition seiner selbst. Wir müssen lernen, "Software als Immaterialität" zu begreifen, sowohl in der Darstellung wie in den Auswirkungen. Wenn wir die EDV als Ganzes der Menschen gegenüberstellen, ist die Hardware der "Körper" und die Software der "Geist".

"Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer andern Welt", sagte Schopenhauer über den menschlichen Genius. Was soll?s: Philosophie ist das letzte, was wir brauchen, denken die einen, wo Umsätze, Kennzahlen, Prozente und allein Erfolge zählen; fromme Sprüche kann jeder daher philosophieren, die lösen die Alltagsprobleme auch nicht, denken die andern; leider. Und es ist wahr, die Wirklichkeit ist anders. Welcher EDV-Verantwortliche ist nicht schon seit geraumer Zeit damit beschäftigt, die Methode zu finden oder die Norm zu entwickeln oder die Richtlinie abzuschließen, die seiner Meinung nach endlich eine heilere EDV-Welt bringen soll. Überall wird standardisiert und genormt, Mißerfolg kritisiert und dabei alleweil wahrhaftig selbst drauflos "philosophiert".

Ich meine, jeder Versuch, den Menschen zu "uniformieren", war seit Menschengedenken mißlungen. Nur mit Gewalt ließen sich solche Versuche über längere Zeit erhalten. Und trotzdem besitzt der Mensch das ureigene Bedürfnis nach Ordnung, nach gesellschaftlichen Normen und unterordnet sich den Gesetzen, die er als notwendig und der Allgemeinheit dienlich anerkennt.

Er unterstellt sich ihnen, weil er sie als ordnende Elemente empfindet und nicht als sinnlose Verbote. Es ist die Ordnungsstruktur eines Systems, das aus der Instabilität stets zur Stabilität drängt. Entwickeln wir Normen und Methoden, schreiben wir Richtlinien! Sie werden unbefriedigende Substrate bleiben, solange wir darin nur das "Tun" festlegen. Sie werden bei jedem EDV-Mitarbeiter, der in der Praxis steht, innere Ablehnung verursachen, wenn sie ein statisches Gebilde bleiben; denn statische Software-Richtlinien verursachen paradoxerweise das Empfinden von Instabilität und wirken dadurch dem Ordnungsbedürfnis entgegen. Wir müssen lernen, Richtlinien zu entwickeln, die nicht in erster Linie der Empfindung des EDV-Chefs entsprechen, sondern dem ursächlichen Bedürfnis nach Ordnung des Anwenders Rechnung trägt. Wir müssen die Regelkreise des Systems erkennen lernen und sichtbar machen, und der Mensch wird, seinem Bedürfnis nach Ordnung folgend, versuchen, dem ständigen Zerfall des Systems, der Unordnung, entgegenzuwirken. Glauben wir doch daran, daß der Mitarbeiter dies tut. Denn wenn er sich wohl fühlt ist er bestrebt, sich mit dem Unternehmen zu identifizieren. Wir erkennen anhand eines Blattes die Gattung des Baumes oder des Strauches, und doch ist kein einziges Blatt gleich dem andern. Die bald vier Milliarden Menschen besitzen (im Normalfalle) zehn Finger und trotzdem gleicht keine Fingerkuppe der anderen. Professor Pauli von der ETH Zürich hat unter anderem beim Element Uran das 92 Elektronen besitzt, nachgewiesen, daß keines dem andern gleicht.

Der Mensch ist ein dynamisches System. Software als Ganzes gesehen ist ebenfalls ein dynamisches System. Wenn wir das zu akzeptieren beginnen und unter dem Begriff Software nicht mehr nur die Endprodukte in Form von Programmen, sondern auch die ganze Entwicklung sehen und deren Regelungsmechanismen im System zu erkennen versuchen, dann werden wir beginnen können, mit mehr Selbstverständlichkeit EDV zu betreiben. Das dynamische System Mensch und das dynamische System Software werden weniger oft auf Kollisionskurs geraten. Wir werden lernen, uns mit dem immateriellen "Werkstoff Software" so zu beschäftigen, daß er - gleich einem Adersystem - in den Regelkreis des ganzen Unternehmens einfließt und im gleichen Sinne lebenserhaltenden "Sauerstoff" einbringt wie Fremdkörper entfernt. Dann werden wir begreifen, daß Software eine nicht endende, zumindest nicht vorstellbare endende Permutation ist.