Messaging Systeme/SMTP-Mail gehört die Zukunft

Der unabwendbare Tod proprietärer E-Mail-Systeme

08.11.1996

Die heutige E-Mail-Realität in den Unternehmen überzeugt nicht. Sie ist immer noch durch unterschiedliche Kommunika- tionsansätze geprägt. Drei Lösungstypen lassen sich derzeit erkennen: proprietäre, X.400-basierende und auf dem Simple Mail Transfer Protocol (SMTP) aufsetzende E-Mail-Systeme.

Proprietäre E-Mail-Systeme wie Novell Groupwise, Microsoft Exchange und Lotus Notes überzeugen meist durch eine große Anwenderfreundlichkeit und gute Verwaltbarkeit. Auch Workflow-Prozesse und Workgroup-Computing lassen sich mit diesen herstellerspezifischen Lösungen in Ansätzen bereits realisieren.

Manko: Ihre Funktionalität reicht kaum über den Horizont der eigenen Systemwelt hinaus. Bei Microsoft ist es am schlimmsten. MS-Exchange paßt nicht einmal ins eigene Betriebssystem-Konzept von Windows NT (Domain-Konzept). Das heißt, hier tun sich für den Benutzer sogar Grenzen innerhalb der proprietären Systemwelt auf.

Auf eine weitgehend globale Kommunikation sind X.400-basierende E-Mail-Systeme, beispielsweise von Isocor, ausgerichtet. Immerhin basieren sie auf dem anerkannten X.400-E-Mail-Standard. Allerdings fordern auch X.400-basierende Systeme dem Benutzer eine beträchtliche Kompromißbereitschaft ab, denn der Zugriffs- und Verwaltungskomfort ist in der Regel nur gering ausgeprägt.

SMTP-Lösungen wie das häufig eingesetzte "Sendmail" schließen den Reigen der möglichen E-Mail-Lösungen. Ähnlich wie X.400-basierende Systeme überzeugen sie durch ihren globalen Einsatz - zumindest solange sich der Benutzer innerhalb der TCP/IP-Welt bewegt. Ihre zusätzliche Stärke ist die hohe Skalierbarkeit. Ihren Schwachpunkt bildet die wenig komfortable Oberfläche, die die Bedienung und Verwaltung aufwendig gestaltet.

Stärken und Schwächen allenthalben. Dennoch läßt sich eine eindeutige Tendenz für E-Mail-Anwender ausmachen: Mit dem Vordringen der Internet- beziehungsweise Intranet-Technik und damit der TCP/IP-Welt in die Unternehmen gehört SMTP-basierenden E-Mail-Systemen eindeutig die Zukunft. Ein Grund ist, daß sich via SMTP das Vielerlei an proprietären E-Mail-Systemen für eine unternehmensübergreifende Kommunikation endlich auf eine gemeinsame Protokollschiene festlegen läßt.

Welches Wachstumspotential in der Intranet- beziehungsweise Internet-Technik als Motor für SMTP-Mail steckt, macht eine Erhebung von IDC deutlich. Das Unternehmen prognostiziert für das Jahr 2000 einen Intranet-Umsatz (eingeschlossen Web-Server, Browser, Firewalls, Autorisierungswerkzeuge und E-Mail) von 3,13 Milliarden Dollar - rund elfmal soviel wie 1995 (276 Millionen Dollar). Internet-Lösungen sollen laut IDC im Jahr 2000 einen Umsatz von 1,17 Milliarden Dollar machen, 1995 waren es noch 83 Millionen Dollar. Unter dem Druck von Intranet und Internet sowie SMTP wird die andere E-Mail-Alternative mit weltweiten Kommunikationsambitionen, X.400, voraussichtlich an Fahrt verlieren.

Vor diesem Hintergrund verlangen die E-Mail-Benutzer in den Unternehmen verstärkt nach der Browser-Technik und einem POP-3-Zugang, um elektronische Post aus der Internet-Oberfläche heraus zu senden und zu empfangen oder auf Workflow-Anwendungen zuzugreifen. Und die proprietären Größen des Markts wie Microsoft, Novell und IBM/Lotus? Sie kommen dem Anwender bisher nur auf halbem Wege entgegen.

So wird zwar die Browser-Technik inklusive POP-3-Schnittstelle zügig unterstützt. Für die Kommunikation via SMTP bietet man jedoch weiterhin nur umständliche Gateway-Lösungen an - SMTP-Gateways, mit denen sich die Anwender in der Regel Konvertierungsprobleme und Schwierigkeiten bei Verzeichnisabgleichen ins Haus holen.

Vom eigentlichen Lösungsansatz, den SMTP-Service in die eigene Produktwelt zu integrieren, hält man hingegen trotz propagierter Internet-Offenheit wenig, will man doch die Kunden weiterhin an die gewohnten proprietären Tools binden. Entsprechend gering ist auch die Bereitschaft dieser Hersteller, bei der SMTP-E-Mail-Kommunikation mit einer komfortableren Bedienoberfläche aufzuwarten.

So sind die SMTP-Dienste-Integration und der SMTP-Dienste-Komfort bisher nur Ansätze, die Firmen aus der Internet-Ecke ernsthaft verfolgen. Netscape beispielsweise hat SMTP-E-Mail in seine Produkte integriert, um diesen Dienst für unterschiedliche Systemwelten wie Unix, Windows NT und Netware bereitzustellen. Der Anbieter Coordinate.Com hat seine Lösung "Beyond Mail" im ersten Schritt mit SMTP- und POP-3-Funktionalität ausgerüstet, bevor er im zweiten Schritt an die Integration der hauseigenen E-Mail-Lösung "Intelligent Messaging" geht.

Darüber hinaus gibt es bereits richtungsweisende Entwicklungen, mit denen auch in der SMTP-Welt allmählich Bedienungs- und Verwaltungskomfort einkehren. "Post Office" von Software.Com beispielsweise erlaubt es, mit wenig Verwaltungsaufwand via Internet flächendeckende, SMTP-basierende E-Mail-Systeme aufzubauen.

Um den weltweiten Zugriff auf Benutzer komfortabler zu gestalten, wird in die Post-Office-Lösung außerdem gerade ein Verzeichnissystem - Universal Streettalk von Banyan Systems - implementiert, das es erlauben wird, E-Mail-Teilnehmer weltweit nicht nur über "sprechende" Namen, sondern auch über beschreibende Attribute aufzufinden.

Weil dieses Verzeichnissystem mit einer LDAP-Schnittstelle (Lightweight Directory Access Protocol, eine abgespeckte Version des Directory Access Protocol aus der X.500-Welt) ausgerüstet sein wird, wird Post Office darüber hinaus bald für seine E-Mail-Dienste andere Verzeichnissysteme wie Netware Directory Service (NDS) von Novell oder Streettalk von Banyan Vines nutzen können.

Interessant ist die Post-Office-Offerte schon deshalb, weil Software.Com mit besonders niedrigen Preisen in den Markt geht. So kostet die aktuelle Post-Office-Version für 500 E-Mail-Benutzer lediglich 1900 Mark, also nur rund vier Mark pro Benutzer. Für zusätzliche 80 Mark erhält man einen Browser inklusive Java-Interpreter.

Damit zeichnet sich für den E-Mail-Benutzer via LDAP eine interessante Synthese zwischen SMTP-E-Mail und durchgriffsstarken Verzeichnissystemen ab. Diese Kombination wird in naher Zukunft zu einer transparenteren Kommunikation zwischen Unternehmen sowie zu einer einfacheren, unternehmensübergreifenden Verwaltung der E-Mail-Systeme beitragen, zumal sich das standardisierte Zugangsprotokoll für Verzeichnissysteme mittlerweile einer immer breiteren Unterstützung erfreut.

Nachdem Netscape einen LDAP-Server mit dem Namen "Directory Server" für die Windows-NT- und Unix-Welt angekündigt hat, will auch Microsoft LDAP mit der nächsten Version von Exchange unterstützen. Novell und Banyan Systems wollen die LDAP-Schnittstelle ebenfalls in ihr Verzeichnissystem NDS beziehungsweise Streettalk integrieren.

In Universal Streettalk, dem bisher einzigen herstellerunabhängigen Verzeichnissystem von Banyan Systems, ist die LDAP-Schnittstelle bereits realisiert. Damit könnte sich LDAP allmählich als Wegbereiter für einen herstellerneutralen Meta-Verzeichnisdienst erweisen.

Welches Directory letztlich in Verbindung mit LDAP zu einem Meta-Verzeichnissystem avancieren wird, steht noch in den Sternen. Ein Aspirant sind sicherlich Novells NDS, die gerade für andere Netzwerk-Betriebssystem-Welten wie Windows NT und Unix geöffnet werden.

Dennoch sollte man die derzeitige Breite des NDS-Einsatzes in den Unternehmen nicht überschätzen. So basiert nach Ansicht von Marktkennern nur ein Drittel aller Netware-Installationen auf NDS (Netware 4.1 und höher). Universal Streettalk von Banyan Systems könnte ein weiterer heißer Aspirant für ein künftiges Überverzeichnis sein. Die Banyan-Entwicklung fußt auf dem Vines- und ENS-internen Streettalk, dem derzeit wohl leistungsstärksten Verzeichnissystem im Markt.

Genausogut könnte das Meta-Verzeichnis aus einer Entwicklung in der Internet-Ecke hervorgehen. So ist Netscape gerade dabei, ein vollwertiges Verzeichnissystem zu entwickeln, das die E-Mail-Kommunikation im weltweiten Internet transparenter und komfortabler gestalten soll. Auch eine Neuentwicklung, die auf dem X.500-Standard beruht, ist denkbar.

Welches Verzeichnissystem letztlich als Meta-Directory auch das Rennen machen wird, Nutznießer dieser Entwicklung werden auf jeden Fall die E-Mail-Benutzer sein. Werden doch mit dem Überverzeichnis endlich proprietäre Grenzen zugunsten eines schnellen, transparenten und weltweiten E-Mail-Austauschs fallen und sich damit auch Wege für grenzüberschreitende Workflow-Prozesse eröffnen. Das Nachsehen werden zweifellos proprietäre E-Mail-Systeme haben. Ihr Ende ist im Zeitalter globaler Kommunikation bereits abzusehen.

Angeklickt

Neue Systeme auf SMTP-Basis beginnen, den Markt für E-Mail radikal zu verändern. Äußerst flexibel einsetzbar, mit allem ausgestattet, was den Anwendern an neuen Internet-Techniken so gefällt, und zu sehr aggressiven Preisen angeboten, nehmen sie proprietären und X.400-basierten Lösungen rasch die Marktchancen. Deren Herstellern fällt es oft schwer, von ihren alten Konzepten abzulassen und sich neuen Entwicklungen zu öffnen.

*Andreas Martin ist Geschäftsführer der Cornet Gesellschaft für Kommunikations-Dienstleistungen mbH Idstein.