Produktionsnahe IT/Im Spannungsfeld von CAx und ERP

Der steinige Weg zur digitalen Fabrik

21.02.2003
Kürzere Produktlebenszyklen und turbulente Absatzmärkte erfordern neue Konzepte für eine wandlungsfähige Fabrik. Die ständige Anpassung oder Gestaltung der Fertigungsstrukturen wird künftig zum Regelprozess gehören. Konventionelle IT-Werkzeuge reichen dafür nicht aus. Von Sabine Bierschenk und Jürgen Bischoff*

Drei wesentliche Elemente des Produktlebenszyklus prägen heute die fertigungsnahe IT: das Produktdesign, die Planung und Gestaltung der Anlagen, auf denen das Produkt hergestellt wird, sowie der Produktionsvorgang selbst einschließlich seiner Nebenprozesse. Derzeit sind sowohl im Bereich Produktdesign als auch in der Produktion eine Vielzahl von IT-Werkzeugen vorhanden, doch gerade diese große Auswahl an Methoden und Tools birgt auch Probleme hinsichtlich der damit verbundenen Integration sowie des systematischen Einsatzes. Darüber hinaus existieren noch einige "weiße Flecken" auf der Landkarte der zur Produktionsunterstützung benötigten Werkzeuge.

Das Thema Integration wird unter dem Aspekt kürzerer Lieferzeiten, der Globalisierung sowie der damit verbundenen Unternehmensnetzwerke und Lieferketten noch wichtiger: Steigende Anforderungen an Time-to-Market bei gleichzeitig hohem Kostendruck erfordern das Management der gesamten Lieferkette.

Im Gegensatz zu der Situation im Produktdesign und im Betrieb der Produktion werden zur Bewältigung des Wandels von der "Einmalplanung" zur kontinuierlichen Gestaltung wandlungsfähiger Produktionsstrukturen neue Methoden und Werkzeuge benötigt. Um diesen komplexen Paradigmenwechsel anschaulich zu beschreiben, wird im Folgenden zwischen Gestaltung und Betrieb unterteilt. Zwischen beiden gibt es Abhängigkeiten und Interaktionen bezüglich der eingesetzten IT sowie der Informationsbedarfe und -flüsse.

Der erste Ansatz, mit dem sich die Forderungen nach kurzem Time-to-Market von Produktionen erfüllen lassen, liegt im Produkt und der frühen Phase der Produktentwicklung. Wandlungsfähigkeit wird dabei durch die Gestaltung der Produktion entscheidend mitbestimmt. Grundvoraussetzungen sind zum einen die maximale Parallelität und Integration der beiden Prozesse Produktentwicklung und Produktionsgestaltung. Andererseits ist aber auch die Verfügbarkeit von intelligenten und flexiblen Werkzeugen zur Gestaltung der Produktion von Bedeutung, und zwar aus zwei Gründen: Die Gestaltung einer Produktion stellt an sich eine hochkomplexe Aufgabe mit zahlreichen Freiheitsgraden dar. Zudem muss die Produktionsgestaltung ständig den Veränderungen der Produktentwicklung angepasst werden.

Datenbasis entsteht in der Produktentwicklung

Die wesentlichen zu betrachtenden Werkzeuge der Produktentwicklung sind in diesem Zusammenhang CAD-Programme und die damit in aller Regel verbundenen Produktdaten-Management-(PDM-)Systeme sowie weitere CAx-Tools für die Produktentwicklung. Mit diesen Systemen werden die Daten erzeugt, genutzt, gespeichert und verwaltet, die das Produkt beschreiben. Sie bilden gleichzeitig die Datenbasis der Produktionsgestaltung.

Moderne Werkzeuge der Produktionsgestaltung werden seit einigen Jahren unter dem Begriff der digitalen Fabrik geformt und zusammengefasst. Nach heutigem Stand der Dinge verbirgt sich dahinter die mehr oder weniger vollständige Integration der IT-Werkzeuge, Planungsprozesse und der zur Produktionsgestaltung benötigten Daten. Die digitale Fabrik versteht sich dabei als Abbild der realen Fabrik in einem digitalen Modell, welches die Strukturen und Fertigungsprozesse visualisiert, simuliert und somit erlebbar macht. Sie umfasst also Software-Tools, die gerade diese Visualisierung und Simulation leisten. Bindeglied der Softwarewerkzeuge ist das Datenmodell, das die verschiedenen Aspekte wie Geometrie, technische und logistische Leistungsdaten beinhaltet. Hierunter fallen auch Werkzeuge zur Planung von Arbeitsinhalten und -prozessen, Materialflusssimulation, Prozess- und Kinematiksimulation, Layoutplanung, Arbeitsplatzgestaltung, Zeit-Management und Linienaustaktung sowie diverse Analysefunktionen. Die Werkzeuge bauen auf einer strukturierten Datenbasis einschließlich eines entsprechend erforderlichen Daten-Managements auf. Dies ist vergleichbar zum PDM in der Produktentwicklung

Der Einsatz der bereits existierenden und noch weiterzuentwickelnden Lösungen der digitalen Fabrik soll die Dauer der Produktionsgestaltung um rund 40 Prozent verkürzen. Gleichzeitig soll sich die Planungsqualität um fünf bis zehn Prozent erhöhen, die Planungskosten sollen um 15 bis 20 Prozent sinken. So kann die digitale Fabrik die "Time-to-Market"-Zeit eines Produkts erheblich verkürzen.

Zwei Welten treffen aufeinander

Betrachtet man den Zusammenhang zwischen Produktdesign und Produktionsgestaltung, so ist deutlich zu erkennen, dass sich hier die Entwicklung von zwei Datenwelten abzeichnet - die der Produktentwicklung vertreten durch CAD/PDM und die der Produktionsgestaltung vertreten durch die digitale Fabrik. Beide Datenwelten sind durch die ihnen zugrunde liegenden Planungsprozesse aufeinander angewiesen beziehungsweise bauen aufeinander auf. Ihre Trennung führt zu den hinlänglich bekannten und viel zitierten Problemen von Redundanzen, Daten-Management, Schnittstellen und Formaten. Der reibungslose Datenaustausch scheitert an Medienbrüchen, die Aktualität von Informationen und Daten leidet.

Der Betrieb der Produktion wird im Hinblick auf die IT im Wesentlichen durch Enterprice-Resource-Planning-(ERP-)Systeme bestimmt. Hier erfolgt das gesamte Management einer Produktion, angefangen von der durch den Kundenbedarf bestimmten Planung des Produktionsprogramms einschließlich der erforderlichen Ressourcen über die innerbetriebliche Logistik bis hin zum Absatz sowie der grundsätzlichen Steuerung und Regelung. Darüber hinaus umfassen ERP-Systeme typischerweise auch die kaufmännische Abwicklung der genannten Bereiche. Hinzu kommen Manufacturing-Execution-Systeme (MES), die die Steuerung und Regelung der ERP-Systeme ergänzen.

Aufgrund der angesprochenen Verkürzung von Produktionslebenszyklen, der hohen Variantenvielfalt und Kundenindividualität ist zusätzlich die Anbindung der Produktentwicklung in Form von CAD/PDM erforderlich. Zum Management der mit den marktbedingten Bedarfsschwankungen verbundenen Umplanungen von Produktionsprogrammen greift man darüber hinaus oft auf Werkzeuge und Methoden der Produktionsplanung zurück. Beispielhaft sei hier die Materialfluss-Simulation genannt, die auf den Simulationsmodellen der Produktionsgestaltung basieren sollte.

Medienbrüche behindern Informationsfluss

Im Hinblick auf Globalisierung und Unternehmensnetze wird wie bereits angesprochen die unternehmensübergreifende Kommunikation und der entsprechende Informationsfluss unverzichtbar. Hierbei treten ebenfalls die Probleme von Daten-Management, Datenaustausch, Schnittstellen, Medienbrüchen und Datenformaten auf, denn es werden zwar die gleichen Systemklassen produktionsunterstützender IT eingesetzt, aber im Zweifelsfall unterschiedliche Systeme.

Zum Management der Unternehmensnetze beziehungsweise der entsprechenden Material- und Informationsflüsse kommt eine weitere Gruppe von Werkzeugen hinzu, und zwar die der Supply-Chain-Management-Systeme sowie entsprechende Materialfluss-Simulationswerkzeuge und -modelle.

Die Produktion steht hinsichtlich der IT in einem Spannungsfeld von drei Welten: Dies sind die Produktentwicklung (IT-seitig vertreten durch CAD und PDM), die Gestaltung der Produktion (repräsentiert durch die digitale Fabrik) und schließlich der Betrieb der Produktion (im Kern verkörpert durch ERP-Systeme und gegebenenfalls weiterführend durch MES). Alle drei Bereiche beziehen sich jeweils bilateral aufeinander beziehungsweise auf ihre Inhalte. Und alle drei IT-Welten basieren auf eigenen, proprietären Datenwelten (Datenbanken). Ihre Kommunikation oder Integration ist eine zentrale Entwicklungstendenz.

Anforderungen an das IT-Umfeld von Produktdesign sowie Gestaltung und Betrieb der Produktion betreffen vorrangig die Organisation der Planungsabläufe sowie die Wirtschaftlichkeit, Handhabbarkeit, Funktionalität und Integrationsfähigkeit der IT-Werkzeuge. Wesentliches IT-Konzept ist dabei die Einführung der digitalen Fabrik, die als ein organisatorisches und datentechnisches Bindeglied zwischen den CAD/PDM-Systemen des Produktdesigns und den ERP/MES-Systemen des operativen Betriebs der Produktion fungieren kann.

Neben rein software- und datentechnischen Aspekten bedarf es einer an die neuen Technologien angepassten Vorgehensweise bei der Planung. Aufgaben werden zum Teil stärker rechnergestützt erledigt, und es werden automatisierte oder teilautomatisierte Anfangskonzepte erstellt. Zusätzlich muss die Arbeitsteilung und -organisation überdacht werden, damit man die Potenziale voll ausschöpfen kann.

Um diese organisatorische Gestaltung zu realisieren, müssen die Stoßrichtungen

- Standardisierung,

- Datenintegration,

- Workflow-Management,

- Systemintegration und

- Automatisierung der Planung verfolgt werden.

Standardisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, Best-Practice-Lösungen zu finden und als verbindlichen Standard für zukünftige Planungen festzulegen. Die Produktion entsteht anschließend aus solchen standardisierten Bausteinen. Die Datenintegration sorgt für Aktualität, Vollständigkeit und Konsistenz der Daten aus allen Entwicklungsbereichen. Daten sollen somit nur einmal abgelegt und durch ein entsprechendes Daten-Management verwaltet werden.

Die Stoßrichtung Workflow-Management hat zum Ziel, alle Planungsschritte in einem "digitalen Fabrikhandbuch" zu beschreiben. Mit ihm steht ergänzend zu der Datenintegration ein verbindlich vorgeschriebener Planungsablauf zur Verfügung. Die Systemintegration hat die Auswahl, Einführung und optimale Nutzung von IT-Werkzeugen im Fokus. Sind die genannten Randbedingungen gegeben, lassen sich einige Aufgaben der Planung automatisieren.

Anforderungen an IT-Werkzeuge

Auf der IT-Werkzeugseite sind die Anforderungen des Nutzers vorrangig hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit, Handhabbarkeit, Funktionalität und Integrationsfähigkeit zu erfüllen. Die Komplexität der eingeführten IT-Lösung muss handhabbar sein und sich langsam an die Erfahrungen und Ressourcen der Unternehmen anpassen. Darüber hinaus müssen vorhandene und bekannte Softwarewerkzeuge in die Lösung integriert werden können.

Zusätzlich soll die digitale Fabrik auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten realisiert werden können. Ihre Werkzeuge dürfen nicht überdimensioniert in ihrem Funktionsumfang und somit teuer in den Anschaffungs- und Schulungskosten sein. Hier gilt es, die Funktionen genau auf die Bedürfnisse der Unternehmen abzustimmen.

Sind die Anforderungen Skalierbarkeit in Bezug auf Einsatzbereich und Datenmodell, handhabbare Komplexität, Integrationsfähigkeit mit vorhandener Software sowie kostengünstige Umsetzung durch abgestimmten Funktionsumfang erfüllt, so muss die digitale Planung integriert werden. Dabei brauchen die Unternehmen häufig externe Unterstützung, um möglichst schnell die Potenziale zu erschließen und die Kosten für die Einführung zu decken. Unternehmensspezifische Richtlinien, Planungshandbücher und eigenentwickelte Systeme sind dabei einzubeziehen.

Unternehmensweite Akzeptanz vorausgesetzt

Fazit: Die heutigen Anwendungen der digitalen Fabrik zeigen das Potenzial der neuen Methoden und Konzepte. Die Planung kann schneller, besser und billiger werden, die Time-to-Market eines neuen Produkts sich verkürzen. Hierbei kommt der digitalen Fabrik die Rolle des Bindeglieds zwischen den CAD/PDM-Systemen und den ERP/MES-Systemen der operativen Produktion zu. Wesentliche Erfolgsfaktoren sind, dass die Einführung der digitalen Fabrik als ein strategisches Unternehmensziel vermittelt und akzeptiert ist, eine vollständige Datenintegration erfolgt und die Einführung mit einer Standardisierung der Planungsprozesslandschaft einhergeht. (ue)

*Diplomingenieurin Sabine Bierschenk und Dr. Jürgen Bischoff sind Mitarbeiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart.

Abb.1: Komponenten der digitalen Fabrik

Neben der Integration von Daten und Systemen ist das mit Workflow-Management angestrebte Ziel ein verbindlich vorgeschriebener Planungsablauf. Quelle: Fraunhofer IPA

Abb.2: Das IT-Umfeld

Flexibilität in der Produktionsplanung entsteht erst mit der Kopplung der Datenwelten. Quelle: Fraunhofer IPA