Der Sprung ins kalte Wasser

29.11.2006
Wie das "Claims"-Programm der Winterthur Versicherungen zum Auslöser einer neuen, komponenten- basierenden IT-Architektur und zum Standard für die Softwareentwicklung wurde.

Eigentlich hatte Jörg Zinsli nur den Auftrag, das 3270-basierende Schadens-Management-Programm der Winterthur Versicherungen eins zu eins auf eine moderne technische Basis zu stellen. Heraus kam die Pilotanwendung für eine neue IT-Architektur.

Projektsteckbrief

Projektart: Neuentwicklung eines Kernprozesses (Schadens-Management).

Ziel: zunächst nur die Jahr-2000-Fähigkeit angepeilt, später ausgeweitet auf Neustrukturierung der Anwendungsarchitektur.

Auftraggeber: Leiter des Unternehmensbereichs Schaden.

Budget: 30 Millionen Schweizer Franken, etwa 20 Millionen Euro.

Team: 80 Mitglieder oder 60 Fulltime Equivalents (FTE).

Dauer: Erster Projektschritt - "Claims Core" für Autokasko - auf zwei Jahre angelegt, verzögerte sich aber um mehrere Monate.

Stand heute: für 350 Anwender im Kfz-Bereich eingeführt, bis Ende 2007 sollen rund 1000 Anwender damit arbeiten.

Technik: Komponentenbasierte Architektur mit Corba und EJB.

Nutzen: Kurze Einarbeitungszeiten der Mitarbeiter und hohe Flexibilität bei geschäftlichen Veränderungen, Prozesskostenersparnis um 20 Prozent.

Unternehmen

Geschäftsvolumen 2005: Winterthur Versicherungen 10,42 Millliarden Franken.

Ausgewiesener Gewinn: 1,06 Milliarden Franken für die Gruppe (keine Angaben für die Versicherung).

Mitarbeiterzahl: 5300 allein in der Winterthur Versicherung.

IT-Mitarbeiter: 700 auf Vollzeitbasis.

IT-Budget 2005: 270 Millionen Franken.

Zinsli ist eigentlich kein IT-, sondern ein Business-Mann. Vor sieben Jahren übernahm er die Verantwortung für die Neugestaltung der Schadensbearbeitung, eines der Winterthur-Kernprozesse. Das Vorhaben firmiert unter dem Projektnamen "Claims". Zinslis Pendant auf der technischen Seite ist der IT-Projekleiter Markus Werder.

Ein Gutteil der Winterthur-Anwendungen basiert - wie in vielen Versicherungskonzernen üblich - noch auf einer monolithischen Mainframe-Architektur mit 3270-Anbindung. Zu diesen Applikationen gehört auch der aus den 70er Jahren stammende Claims-Vorgänger "Tele Processing Schaden", kurz TPS. In das Blickfeld der IT-Fachleute geriet er 1996, weil berechtigte Zweifel an seiner Jahr-2000-Fähigkeit auftauchten. Den Auftrag, das System abzulösen, erhielt zunächst die IT-Abteilung. Dort sei das Projekt aber ohne Business-Innovation drei Jahre lang "hin- und hergedümpelt", wie Zinsli berichtet. Die Jahrtausendhürde hat TPS immerhin genommen.

Doch viel hatte sich damit nicht geändert. Ende 1999 wurde die Umstellung dann dem Fachbereichs-Manager Zinsli anvertraut. Der hielt die ursprünglich beabsichtigte Neucodierung von TPS für zu kurz gesprungen: "Ihr wollt doch nicht so viel Geld ausgeben, nur um den Code umzuschreiben?" lautete seine erste Reaktion auf den Projektauftrag. Er schlug vor, die Schadens-Management-Anwendungen auf der Grundlage einer neuen, nach den Business-Prozessen ausgerichteten Applikationslandschaft aufzusetzen.

Da sich der Nutzen von Projekten dieser Art nur schwer quantifizieren lässt, reagieren Geschäftsleitungen darauf mit Skepsis. So auch bei der Winterthur. Aber Zinsli hatte offenbar gute Argumente: Das Versprechen einer höheren Anwendungseffizienz und die Aussicht auf verringerte Wartungskosten brachten die Entscheider im Management auf seine Seite. Im Endeffekt genehmigten sie ein internes Gesamtbudget von 30 Millionen Schweizer Franken über zwei Jahre. Auftraggeber war der Leiter des Unternehmensbereichs Schaden.

Stilbildend für andere Projekte

Unter der Ägide der Architekturfachleute Fiorenzo Maletta und Peter Horat schuf das Projektteam eine Umgebung, in der sich die Einzelaktivitäten ("Use Cases") der Schadens-Management-Anwendung als Services abbilden lassen. Insgesamt wurden mehr als 300 Softwareservices konstruiert - teilweise nach dem Corba-Standard (Common Object Request Broker Architecture), teilweise als Enterprise Javabeans (EJB). Gespeichert sind sie in einem Service-Repository, das ein vierköpfiges Service-Management-Team überwacht. Den Mitarbeitern wird die Architektur in Form von plattformunabhängigen Dokumentationen, Guidelines, Konventionen sowie Design- und Implementierungsmustern nahe gebracht.

Laut Werder hat das Claims-Team diese Umgebung "aus Eigennutz" geschaffen, doch die Architektur sei schließlich stilbildend für künftige Projekte im Unternehmen geworden. Dasselbe treffe auch auf den Entwicklungsprozess zu; der Konzern habe ihn in vielen Disziplinen - wenn auch in angepasster Form - als Standardvorgehensweise übernommen. Innerhalb dieses Prozesses lassen sich sowohl das Wasserfall- als auch das iterative Modell anwenden. Für Claims bot sich Letzteres an, weil es eine bessere Rückkopplung mit dem Business erlaubt.

In drei Phasen unterteilt

Das Mammutvorhaben wurde zunächst in drei Phasen unterteilt: Als Pilotanwendung für den Anwendungskern ("Claims Core") war der Bereich Motorfahrzeuge Kasko ausersehen. Die Applikation sollte im November 2005 in den produktiven Betrieb gehen. Allerdings verzögerte sich die Fertigstellung um einige Monate. Zum einen war der Zeitpunkt nicht günstig, denn zu Projektbeginn strukturierte die Winterthur gerade ihr Geschäft neu, so dass die Veränderungen auf der Business-Seite ständig nachgezogen werden mussten. Zudem bestand die Geschäftsführung auf einem aus Entwicklersicht "falschen" Vorgehen: Sie wollte vor der Entwicklung von Claims Core zunächst die neu etablierten "Teleclaims"-Geschäftsprozesse, also die Schadensmeldung über ein Call-Center, implementiert haben. Darüber hinaus waren die ersten Monate stark vom Teambuilding bestimmt. Eine Industrialisierung der Softwareentwicklung habe ja auch eine negative Seite, wie Zinsli formuliert: "Es fehlt das Gefühl, für eine ganze Komponente die Verantwortung zu haben." Die Lösung bestand darin, Funktionsblöcke zu definieren und kleine Kompetenzteams zu gründen. Insgesamt beschäftigte das Projekt 80 Personen beziehungsweise 60 Vollzeitbeschäftigte.

Live gegangen ist Claims-Core im April dieses Jahres. Im Kfz-Versicherungsbereich profitieren bereits 350 Nutzer davon. Wenn Ende 2007 alle Branchen mit der Applikation arbeiten, steigt die Zahl der Anwender auf 1000. Das Korrespondenz- und Zahlungssystem wird in der dritten Phase abgelöst.

Hochgradig automatisiert

Die neuen, hochgradig automatisierten Schadensbearbeitungs-Prozesse gründen auf einer Unterscheidung nach Standard- oder Sonderprozessen. Damit ist es prinzipiell möglich, etwa 80 Prozent aller Vorfälle bereits im ersten Schritt zu erledigen - mit Klärung des Sachverhalts und Einleiten der Regulierung.

Um Sonderprozesse, die nicht ganz so glatt durchlaufen, handelt es sich beispielsweise bei einem Verkehrsunfall mit Personenschäden. Anhand einiger Schlüsselfragen sollen die Mitarbeiter im Call-Center innerhalb weniger Minuten eruieren, ob ein solcher Schaden vorliegt und wie hoch die Kosten eventuell ausfallen. Für die Versicherung ist diese Anwendung unbedingt geschäftskritisch.

Unempfindlich und flexibel

Wie Werder und Zinsli übereinstimmend feststellen, war das Projekt durchaus ein Sprung ins kalte Wasser: "Wir selbst hatten auch unsere Bedenken", räumen sie ein, "denn wir konnten uns an nichts anlehnen." Aber die erzielten Ergebnisse hätten das Risiko gerechtfertigt: Dank der Standardisierung könne das System nun von neuen Mitarbeitern nach einer kurzen Einarbeitungszeit bedient werden. Zugleich sei es unempfindlich gegen Veränderungen des Business und der IT-Organisation. Die Winterthur-Mitarbeiter im "industrialisierten" Segment des Kfz-Bereichs können nun 6000 klassische Schadensfälle im Jahr bearbeiten. Mit der alten Arbeitsweise waren es nur 1800. Letztlich ließen sich auf diese Weise die Prozesskosten um 20 Prozent senken.