Der schoene Traum von einer Silicon City in Frankfurt/Oder

06.01.1995

Waehrend sich in Ostdeutschland die Forschungslandschaft nach Evaluierung und Privatisierung langsam zu erholen scheint, sehen Optimisten in der Grenzregion an zwar kein Silicon Valley, jedoch in Frankfurt an der Oder immerhin eine Silicon City entstehen. Eine Vision, die in den naechsten fuenf Jahren zur Realitaet werden soll.

Der Mann muss laecheln: "Ein Silicon Valley - hier? Das ist eine Erfindung von Optimisten und Journalisten." Franz Weinl, administrativer Geschaeftsfuehrer der Institut fuer Halbleiterphysik Frankfurt/Oder GmbH (IHP), findet das Attribut etwas uebertrieben. Viele hochqualifizierte Mitarbeiter des ehemaligen VEB Halbleiter- kombinats seien, sofern nicht abgewandert, in akademischen Auffanggesellschaften untergekommen. Wann sie wieder einen festen Arbeitsplatz finden, stehe in den Sternen.

Hinzu kommt, dass das neue Mikroelektronikzentrum in Werder bei Potsdam entstehen wird. Weinl ueber Frankfurts Chancen: "Man kann von einer kuenftigen Silicon City sprechen. Neben unserem Forschungsinstitut und der System Microelectronic Innovation GmbH (SMI) haben wir eine Reihe von erfolgreichen High-Tech- Ausgruendungen aus dem frueheren Halbleiterwerk, die sich international nicht zu verstecken brauchen."

Viele kleine Institute und Firmen der Mikroelektronikbranche kaempfen jedoch ums Ueberleben. Trotz Innovation und guter Produkte fehlt ihnen das noetige Eigenkapital.

Seit der muntere Jenoptik-Chef Lothar Spaeth Thueringen als Silicon Valley propagierte, silicon-valleyt es vielerorts: in Thueringen, Sachsen und nun in Brandenburg. Nicht nur deshalb sieht Albert Hamacher vom Bundesministerium fuer Forschung und Technologie (BMFT) "gute Chancen fuer die Zukunft". Allerdings, raeumt er ein, koenne die Innovationsfoerderung noch verstaerkt werden.

Doch das BMFT scheint bei der Zuteilung von Zuschuessen eher reaktiv zu sein: Liegen keine Antraege vor, wird auch nicht gefoerdert. Ausserdem mangelt es an einer schnellen und unbuerokratischen Bearbeitung.

Erst juengst haben die Forschungs- und Wirtschaftsminister der Europaeischen Union gegen die Forderung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie entschieden: Eine schnellere Bearbeitung der Antraege und ein vereinfachtes Prozedere bei den Formalitaeten wird es nicht geben. Vor dem Riesenaufwand der komplizierten Antragstellung und einer Ablehnungsrate von 90 Prozent kapitulierten bisher die meisten Ostbetriebe.

Seit der Wende ist die Zahl der Unternehmen mit eigener klassischer Industrieforschung von etwa 2700 auf 385 Firmen gesunken. Entweder fielen sie der Evaluierung oder Abwicklung zum Opfer, oder sie wurden von der Treuhandanstalt einfach zu Forschungsfirmen umbenannt - und ausgegruendet.

Pech fuer die einen, Glueck fuer anderen, meint Christian Wegerdt, Mitinhaber der Institut fuer Materialforschung und Anwendungstechnik GmbH (IMA) in Dresden und Vorstandsvorsitzender des Verbandes innovativer Unternehmen in Ostdeutschland: "Von der Treuhand war das eine weitsichtige Entscheidung. Ein Teil der frueheren ostdeutschen Forschungsbasis konnte damit erhalten werden." Allerdings, warnt der Forscher, duerfe die "industrienahe Forschung nicht ausbluten", waehrend die Grundlagenforschung als bluehende Landschaft mit finanzieller Unterstuetzung ueberlebte.

Die Diskrepanz zwischen Industrie- und Grundlagenforschung ist ein hausgemachtes Problem der deutschen Vereinigung. Bereits im Einigungsvertrag ist hier etwas falsch gelaufen: Waehrend fuer die Grundlagenforschung spezielle Regeln festgeschrieben wurden, schweigt sich das Papier ueber das kuenftige Schicksal der Industrieforschung aus. Ein politisches und wirtschaftliches Hemmnis, das mehr als nur Unbehagen verursacht, mit dem aber beide Disziplinen erst einmal leben muessen.

Ein Gluecksfall, nicht nur fuer die Ostszene, ist das IHP. Geschaeftsfuehrer Weinl ist immer noch froh darueber, dass "wir als relativ grosses Unternehmen die Abwicklung ueberlebt haben". Als eines von acht Blaue-Liste-Instituten (Zusammenfassung aller Einrichtungen mit ueberregionaler Bedeutung) in Brandenburg kann es aufgrund seiner Mensch-Maschine-Kapazitaeten und physikalisch- technologischen Grundlagenforschung "alles unter einem Dach machen": Von der Material- ueber die Teilschrittforschung bis hin zur Praeparation von Chip-Prototypen im Reinraum.

Aus dem ehemaligen Institut fuer Halbleitertechnik der Akademie der Wissenschaften hervorgegangen, ist das IHP seit 1992 wieder aktiv und moechte in der Nanoelektronik kuenftig ein Wort mitsprechen. In der Halbleiterphysik haben sich die Frankfurter in Deutschland bereits einen guten Ruf geschaffen. Schwerpunkt: Die Integration von Silizium-Germanium-Schichten in Silizium.

Rund 150 Mitarbeiter, die zum Teil auch aus dem benachbarten frueheren Halbleiterwerk Frankfurt/Oder kommen, forschen derzeit nach Materialkomponenten, die es der Industrie ermoeglichen, kostenguestig immer kleinere und schnellere Schaltungen zu bauen. Wolfgang Mehr, Abteilungsleiter Mikrostrukturierung, dazu: "Wer meint, Silizium-Germanium waere eine Sackgasse, der irrt sich. Dieses Material wird sich kuenftig einen Platz in der Halbleiterfertigung erobern."

Die Vision dabei ist, auch elektronische und optoelektronische Informationen auf einem Chip verarbeiten zu koennen.

Ausser auf diesem Gebiet arbeiten die Forscher an moeglichst kleinen Halbleiterkomponenten. Bei ihnen gilt: Einhundert Nanometer sind gut, fuenfzig sind besser, zehn jedoch am besten:

"Hier sind wir relativ weit gekommen", erklaert Mehr. Derzeit liege das Institut bei Strukturmessungen unter einhundert Nanometern, also etwa 0,1 bis 0,05 Mikrometer in der seitlichen Ebene und vierzig bis zwanzig Nanometer (0,04 bis 0,02 Mikrometer) vertikal. Stolz verweist er auf Halbleiterelemente in Nanometergroesse, die auf Siliziumscheiben aus dem saechsischen Freiberg praepariert wurden. Dafuer hat das Institut eine eigene Technologie auf den Markt gebracht, fuer die sich bereits andere Unternehmen interessieren. "Sonatec", ein selbstordnendes Verfahren, dessen Entwicklung zu DDR-Zeiten begonnen wurde, koenne die von einer Lithografie erzeugte Halbleiterstruktur "nochmals automatisch reduzieren", heisst es. Ein Trick, der Entwicklungskosten spare.

Das Frankfurter Institut, das je zur Haelfte von Bund und Land finanziert wird, braucht sich um seine Zukunft nicht zu sorgen. Angst vor Konkurrenzdruck kennt man nicht. Auch die fuer den Forschungsbetrieb wichtige Kooperation mit der Industrie sei bereits Praxis.

In den letzten drei Jahren hat das IHP ueber 30 Millionen Mark, darunter eine Anschubfinanzierung des BMFT von zehn Millionen Mark, in moderne Technik investiert, um die "uns so mancher beneidet", so Weinl. Fuer ihn hat das Frankfurter Haus einen Vorzug, der ein Vorsprung sein kann: "Wir sind dabei, in Europa einen guten Platz in der Halbleiterforschung zu uebernehmen." Nicht von ungefaehr bestehen auch gute Kontakte zum Frankfurter Nachbarn SMI (System Microelektronic Innovation GmbH), der im Juli vergangenen Jahres mit einer neuen Asset (All Spacer Separated Element Transistor)-Technologie die ersten superschnellen bipolaren Schaltkreise der Oeffentlichkeit praesentierte. Somit ist Weinl guter Dinge, zumal man von Spaeths Jenoptik kuerzlich ein weiteres Elektronenstrahl-Lithografiegeraet kaufen konnte, das Aufloesungen unter zehn Nanometer als (kleiner 0,01 Mikrometer) erlaubt.

Optimismus auch wieder in Markendorf: Am Standort des ehemaligen VEB-Halbleiterwerkes vor den Toren Frankfurt/Oder ist man an tiefes Durchatmen gewoehnt. Nach der Wende waren von den insgesamt 23 Betrieben des ehemaligen groessten Mikroelektronik-Produzenten der DDR nur noch Fragmente uebrig. Von 8000 Mitarbeitern in der Maerkischen Heide, davon 2500 im Kernbereich, hatten im Juli 1993 noch 375 Personen einen Arbeitsplatz beim Hoffnungstraeger SMI.

Die verbreitete Zuversicht hat ihren Grund: Das Land Brandenburg hat sein Versprechen eingehalten und - bis ein neuer Partner gefunden ist - die 51 Prozent der Gesellschaftsanteile von der Berliner Treuhand uebernommen. Nun wollen die Markendorfer unter der Fuehrung der amerikanischen Synergy Semiconductor Corp., Kalifornien, in Europa die Nummer eins bei superschnellen Schaltkreisen fuer die Informations- und Telekommunikationsbranche werden. Die Chancen dafuer stehen nicht schlecht. Im Juli letzten Jahres, eineinhalb Jahre nach dem Start des Joint-ventures mit den Amerikanern, praesentierte man die ersten bipolaren Hochgeschwindigkeits-Bausteine auf Silizium-Basis.

Moeglich war das durch die Installation einer Wafer-Linie von Synergy. Weltweit sollen nur noch die kalifornische Mutter und der japanische Lizenznehmer Toshiba ueber dieses Verfahren verfuegen. Die Amerikaner sind schliesslich an einem "hochqualifizierten Standbein" in Europa interessiert, heisst es.

Waehrend Synergy die technischen Kenntnisse in die Partnerschaft einbringt, verfuegen die Ostdeutschen ueber gutes Know-how im analogen Hochfrequenzbereich (zwei Gigahertz), in der Niederfrequenztechnik sowie bei intelligenten Leistungsschaltern (Smart Power), das den Amerikanern fehlt.

Die Frankfurter setzen bewusst auf Innovation und Systemloesungen, die kostenguenstig und auf "den weltweiten Anwender" zugeschnitten sind.

Kunden kommen aus Westeuropa

Laut Hauptgeschaeftsfuehrer Georg Brown ist SMI in der Lage, schnell auf die Anforderungen der Kunden zu reagieren. Der Erfolg scheint ihm recht zu geben: Rund 90 Prozent seiner Produkte verkauft das 1994 mit dem 9001-Zertifikat praemierte Unternehmen im westeuropaeischen Markt.

Trotzdem schreiben die Ostdeutschen noch keine schwarzen Zahlen, wenn man im vergangenen Jahr auch etwa 25 Millionen Mark eingenommen habe. Den Break-even-Point erwartet Brown erst fuer das naechste Jahr. Dann soll die 60-Millionen-Mark-Grenze erreicht sein.

Der Traum von einer Silicon-City geistert weiter durch die Frankfurter Landschaft. Dabei setzt man auch auf die regionale Zusammenarbeit. Ausser "regen Kontakten" gibt es jedoch zwischen dem Halbleiterinstitut und der SMI bisher noch keine engeren Bindungen. Doch eins ist fuer den Frankfurter Amerikaner sicher: Beide Firmen koennen kuenftig "eine Keimzelle der High-Tech-Basis in Deutschland" sein.

Klaus Lindlar

Der Autor ist freier Journalist in Muenchen.