Öffentliche Verwaltung/Landesversorgungsamt gibt kleiner Softwareschmiede eine Chance

Der Rostocker Amtsschimmel avancierte zum Vorreiter

17.01.1997

Ausgerechnet eine Behörde ist es, die Mut und Kreativität bewiesen hat, als es 1993 darum ging, einen Weg zu finden, die Bearbeitung von Anträgen und Anfragen nach dem Schwerbehindertengesetz schneller, preisgünstiger und bürgerfreundlicher zu machen. Das dem Sozialministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern untergeordnete Landesversorgungsamt in Rostock hat ähnliche Aufgaben zu erfüllen wie die entsprechenden Stellen in den anderen Bundesländern. Grundlage der Tätigkeit sind das Bundesversorgungsgesetz und Nebengesetze wie etwa das Opferentschädigungsgesetz. Im einzelnen sind zum Beispiel Anträge auf Schwerbehindertenausweise oder Erziehungsgeld zu bearbeiten, dazu kommt seit jüngster Zeit die Arbeitsmarktförderung.

Gerade schwerbehinderte Mitbürger sind auf eine rasche Bearbeitung ihrer Eingaben angewiesen. So sind die Versorgungsämter in Rostock, Stralsund, Neubrandenburg und Schwerin auf dem Weg zu einer (fast) papierlosen Bearbeitung von Schwerbehindertenanträgen. Zugunsten einer strukturellen Veränderung setzte das Landesversorgungsamt auf neue Technologie. Die alte Akte hat ausgedient.

In den Ämtern wurden zwischen 35 000 und 51 000 Schwerbehinderten-Akten verwaltet. Das geschieht seit Beginn des Jahres 1996 mit Hilfe einer Client-Server-Lösung. Bis zu 30 PCs sind installiert und mit einem Server pro Amt verbunden. Die Daten dieser Server werden ihrerseits von einem Zentral-Server abgerufen, der im Landesversorgungsamt für zentrale Aufgaben in Rostock steht. Die Kommunikation zwischen den Ämtern erfolgt automatisch und kostengünstig via ISDN.

Für den Bürger entstehen durch diese Lösung entscheidende Vorteile. Er wird nicht mehr erleben, daß er nach geraumer Wartezeit unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt wird, wenn er im Amt nach dem Bearbeitungsstand seines Antrages fragt. Oft genug kam es in der Vergangenheit vor, daß der Bearbeiter keine genaue Auskunft geben konnte, da sich die Akte im dienstlichen Umlauf befand. Heute lassen sich alle Datenstände einschließlich Veränderungen rasch auf den Bildschirm holen. Auch wenn der zuständige Sachbearbeiter krank oder im Urlaub ist, kann die Arbeit reibungslos weitergehen. Die Vertretung informiert sich mit Hilfe des PCs über den Bearbeitungsstand und vermag dann jederzeit Auskunft zu geben.

Es war jedoch ein weiter Weg zu dieser kundenorientierten Lösung. Der Entschluß, die Verwaltungsabläufe zu optimieren, wurde Mitte 1993 gefaßt. Nur wenige Vorbilder und Orientierungshilfen boten sich an. Das ehrgeizige Vorhaben wurde systematisch angepackt und begann mit der Formulierung und Vergabe eines Pflichtenheftes.

Auf dieser Grundlage wurde öffentlich ausgeschrieben und die eingehenden Offerten überprüft. Letztlich entschloß man sich für das Angebot des System- und Softwarehauses aus dem Rostocker Hafenstadtteil Warnemünde, die BEC GmbH & CO KG.

Aber auch diese Entscheidung fiel nicht leicht und nicht auf Anhieb. "Ein wesentlicher Punkt, der die Vergabe des Zuschlages mit beeinflußte, war die Preisvorstellung der jungen ostdeutschen Firma, die bis zu 300 Prozent unter der ihrer Mitbewerber lag", erinnert sich Heiko Will, Abteilungsleiter in dem Rostocker Amt.

Die Systemlösung beruht auf einem objektorientierten Verfahrensmodell, das sich jedoch, wie alles Neue, erst noch in der Praxis bewähren mußte. Wenngleich Klaus Weigelt, Geschäftsführer der BEC, auch geringe Pflege- und Zusatzkosten zusicherte, so ging man doch ein gewisses Risiko ein. Denn die erst 1990 gegründete Firma mit heute knapp zehn Mitarbeitern konnte noch keine Erfahrungen mit gleichartigen Projekten vorweisen. "Von verschiedener Seite wurden wir gewarnt", bestätigt auch Jens Kutschke, DV-Projektleiter im Amt. Mut zum Risiko zeigte dann die Direktorin des Amtes, Christel Sattler, als sie sich ohne viel Rückendeckung gegen alle Wenn und Aber durchsetzte und die Sache ins Rollen brachte.

Gute Kooperation in der Anfangsphase

Nach dem Startschuß Ende 1994 begann eine für alle Beteiligten sehr anstrengende Zeit. Bei der konkreten Ausgestaltung mußten die Interessen von vier Ämtern und dem Landesversorgungsamt unter einen Hut gebracht werden. Daß alles so gut geklappt hat, "ist nur möglich gewesen, weil es in der Versorgungsverwaltung sehr engagierte Mitarbeiter gab, die permanent zur Verfügung standen, und weil die Softwerker eben auch sehr gut gearbeitet haben", meint Will im Rückblick: "Die Zahl der benötigten Manntage lag klar unter dem Durchschnitt, was natürlich bedeutet, daß Weigelt sich und seinen Mitarbeitern derzeit einen Lohn einräumt, wofür in den alten Ländern eine Reinigungskraft nicht mehr aufsteht." Dazu kam ein hohes Maß an Geduld und Zeit, "denn", so Will, "manche Entscheidungsfindung hat sich lange hingezogen, weil das alles ja auch für uns ganz neu war."

Am 1. Januar 1996, nach einem Jahr Programmierarbeit, wurde die Lösung in Betrieb genommen. Die Weichen für die Hardware-Anschaffung stellten die Software-Anforderungen. Auch hier erfolgte eine Ausschreibung, und wieder machte das wirtschaftlichste Angebot das Rennen. Aufgrund seiner Leistungsfähigkeit in der Verarbeitung sehr großer Datenmengen wurde der Unix-Server "IBM RS/6000 Modell C10" eingesetzt. Als Clients dienen PCs mit dem IBM-Betriebssystem OS/2.

Der Arbeitsplatz in den Ämtern hat sich seither gründlich verändert. Zentrales Hilfsmittel ist der PC geworden. Dieser "Technologieschock" mußte von den Sachbearbeitern erst einmal verkraftet werden. Neben dem Umgang mit der Technik hatten die im Durchschnitt über vierzigjährigen Sachbearbeiter auch ganz neue Bearbeitungsverfahren zu erlernen.

Hier machte sich die relativ einfache Bedienung des Systems bezahlt. Eine übersichtliche Benutzeroberfläche erleichterte den Einstieg. "Der Ansatz war, daß der Arbeitsplatz mit den vertrauten Formblättern auf den PC übertragen wird. Die Stammdaten werden vorbereitet eingegeben. Damit wurde vielen schon die Angst genommen", so Will.

Neben der Antragsbearbeitung in den vielfältigsten Formen je nach den gesetzlichen Vorgaben sind auch Module für eine bausteinorientierte Textverarbeitung mit automatischer Einfügung der Personen- und Antragsdaten sowie eine Freitexteingabe integriert. Möglich ist auch die Bearbeitung und Ausgabe von Zahlungsanweisungen, Beiblättern und Streckenverzeichnissen.

Aufgabenverteilung ist neu zu definieren

Neben Rationalisierungseffekten kann das neue System aber auch Belastungen für die Ämter bringen. Dateneingabe und Arbeitsweise müssen nach genauen Regeln erfolgen. Dabei ist größte Sorgfalt nötig. Die Sachbearbeiter bedienen PCs, die in einem Netzwerk arbeiten. Eine kontinuierliche Betriebsbereitschaft muß jederzeit sichergestellt werden. Bei einem Ausfall wäre es mit der Auskunftsfähigkeit der Behörde nicht mehr weit her.

Nach der Einführung des Systems kann man nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen. Eine Fülle von Fragen ergibt sich. Die Aufgabenverteilung innerhalb der einzelnen Behörden ist ebenso neu zu definieren wie die auf Landesebene. Und könnten nicht weitere Kosten gespart werden, wenn man mit angrenzenden Bundesländern eine gemeinsame Lösung fände? Alle Bearbeitungen erfolgen schließlich auf derselben Gesetzesgrundlage.

Bei anhaltendem Erfolg des Systems böte es sich an, weitere Vorgänge ebenfalls auf DV umzustellen, etwa beim Wohn- oder Erziehungsgeld. Die Entwicklung ist also mit der Einführung des Systems keinesfalls abgeschlossen, sondern eher erst in Gang gebracht worden.

Für BEC öffnen sich bereits neue Türen. Auch im Berliner Versorgungsamt wird die Software installiert. Die Grundeinführung ausgewählter Sachbearbeiter ist bereits im Gange. "Aus einer ganzen Reihe anderer Bundesländer gibt es eine sehr positive Resonanz", freut sich Firmenchef Weigelt.

Auch in den alten Bundesländern sind Versorgungsämter auf die Rostocker Lösung aufmerksam geworden, nicht zuletzt deshalb, weil das eine oder andere Land schon seit längerem Lösungen prüft, die viel teurer kämen beziehungsweise kommen. BEC-Chef Weigelt strebt "eine Veränderung des Preis-Leistungs-Verhältnisses bei der Software durch objektorientierte Lösungen an, ähnlich wie bei der Hardware, wo die Preise fallen, während die Leistung steigt"..

Angeklickt

Risikofreudig war die Leiterin des Landesversorgungsamtes in Rostock. Sie ließ eine kleine, ortsansässige Softwareschmiede mit nur zehn Mitarbeitern eine komplett neue DV-Lösung erarbeiten, die das Amt heute vom Papier (fast) unabhängig macht. Vorurteile über "kleine Unternehmen", "verstaubte Behörden" und "verschlafene Beamte" können in Rostock nicht bedient werden, wohl hingegen der Bürger, dem jetzt ein sehr auskunftsfreudiges, schnelles Amt zur Verfügung steht.

Anne Christina Remus ist freie Journalistin in Kuddewörde bei Hamburg.