Open-Source-Systeme/Trotz hervorragender Wachstumsperspektiven im Linux-Umfeld:

Der Pinguin gehört nicht mehr zu den Lieblingen der Börsianer

12.05.2000
Ist die Linux-Euphorie schon wieder verflogen? Ist das Absacken der Aktien von Open-Source-Firmen auf ihre Ausgabewerte nur ein Ausdruck gesunkener Hoffnungen auf ein alternatives Gesamtkonzept der Softwareentwicklung und -vermarktung? Die Branchengrößen positionieren sich neu.Von Andrea Goder*

Es begann euphorisch - und läuft zur Zeit eher dramatisch. Red Hat, als erster Linux-Wert im August 1999 fulminant an der Nasdaq gestartet, brachte es in den Wochen nach dem IPO in der Spitze auf eine Börsenkapitalisierung von über 20 Milliarden Dollar, mehr als 1000-fach über dem aktuellen Umsatz. Diese Bewertung des US-Unternehmens aus Durham, South Carolina, stellte jede Internet-Aktie in den Schatten und war selbst aggressiven Technologie-Investoren einen Tick zu hoch. In den letzten Monaten fiel der Kurs denn auch von 150 vorübergehend auf unter 30 Dollar (nach 2:1-Split).

Noch spektakulärer gestaltete sich der Börsenstart von VA Linux im Dezember 1999: Die mit 30 Dollar ausgegebene Aktie des Linux-Hardwaredistributors schoss am Tag der Erstnotiz um 730 Prozent auf über 250 Dollar nach oben - der bis dato größte IPO-Kursgewinn eines Unternehmens an der New Yorker Börse. Im Sturzflug ging es dann in den nächsten Monaten nach unten. Mit nur mehr 29 Dollar rutschte der Linux-Titel Mitte April sogar zeitweise ins Minus.

Nicht anders sollte es in diesem Jahr Caldera und Andover Net ergehen. Wie sehr sich die Werte in den vergangenen Monaten im freien Fall befanden, spiegelt der Linux-Business-Index, kurz Libex, wider (www.linux-investor.de). Dieser Index, der den Kursverlauf von zehn an der Nasdaq gehandelten Linux-Werten abbildet, verlor seit dem Start im März um mher als 60 Prozent (siehe Abbildung).

Der Ausgabekurs von so genannten Linux-Aktien scheint eine "Bottom Line" zu bilden, an der sich der Absturz fängt. Die Börsenphantasie ist wieder auf Bodenhöhe null. Die anfängliche Euphorie um Linux-Aktien scheint einer nüchternen Betrachtung gewichen zu sein. "Langsam befinden sich die Werte in realistischeren Größenordnungen", glaubt Norbert Loeken, Analyst bei der WestLB Panmure in Düsseldorf.

Der sensationelle Aufstieg hatte Gründe: Die Ausgabe der ersten Linux-Titel überhaupt hatte einen Hype geschürt. Damalige Börseneuphorie gab unrealistischen Erwartungen - "die nächsten 1000-Prozenter" - Raum. Nach unten gerissen wurden die Aktien durch realistischere Einschätzungen des Softwaremarkts - und nicht zuletzt durch viele Zocker, die sich nach satten Kursgewinnen schnell von den Werten verabschiedeten.

So notwendig eine Kurskorrektur aus fundamentaler Sicht sicher war: Nach den drastischen Verlusten stellt sich die Frage nach einer fairen Bewertung dieser Aktien. Finanzexperte Andre Jäkel von der BHF-Bank hält beispielsweise die Aktie von VA Linux, gemessen an den Unternehmensdaten, auch bei der aktuellen Marktkapitalisierung von 1,5 Milliarden Dollar noch immer für überbewertet.

Doch kritischen Analystenstimmen und einer Serie von Rückschlägen an der Börse zum Trotz: Der Markt, der sich um das Freeware-Betriebssystem entwickelt, steht vor einem enormen Wachstum. Indiz dafür ist allein schon die beginnende Kommerzialisierung dieses IT-Segments.

Aus der Kooperation zahlloser einzelner Entwickler in Nonprofit-Organisationen werden zunehmend kommerzielle Firmen. Inzwischen lernen auch einst lockere "Clubs" von Chief Technology Officers, wozu sie einen CEO und einen CFO brauchen. Heute notieren an der Nasdaq bereits mehr als ein Dutzend Open-Source-Anbieter, die bei Investoren und Anlegern Kapital für ihr weiteres Wachstum gesammelt haben.

Und auch die Big Player der IT-Branche können es sich längst nicht mehr leisten, die Wachstumspotenziale, die dieses IT-Segment birgt, zu ignorieren. Sie bauen eigene Linux-Abteilungen auf und beteiligen sich an den jungen Firmen. So war Red Hat schon vor dem Börsengang reichlich mit Geld von Oracle, IBM, Novell, Compaq und SAP versorgt. An Caldera halten Sun, Novell, SCO und Citrix Anteile.

Das starke Wachstum im Linux-Markt spiegelt sich nicht zuletzt in den Bilanzen der großen Unternehmen in Sachen Open Source wider. So gelang es der Nürnberger Suse Linux AG, im Geschäftsjahr 1999 den Umsatz auf 46 Millionen Mark mehr als zu verdoppeln. Konkurrent Red Hat meldet für das Geschäftsjahr 2000 (Ende: 29. Februar) mehr als 42 Millionen Dollar Umsatz nach elf Millionen Dollar im Vorjahr.

Mit der an Tempo gewinnenden Kommerzialisierung wird das Klima für Linux-Firmen aber auch rauer. Es stellt sich die von jeher spannende Frage, wie sich mit freier Software Geld verdienen lässt.

"Wichtig ist im Linux-Markt vor allem ein vernünftig umsetzbares Business-Modell", glaubt Dirk Hohndel, Vorstand und Technikchef bei Suse. Das 1992 gegründete Unternehmen, in das auch Chipgigant Intel investiert hat, erzielte noch 1999 zwei Drittel seines Umsatzes mit dem Verkauf von Softwarepaketen. Nach Hohndels Angaben sollen Box-Produkte - hier zählt Suse bereits mehr als eine Million Endanwender zu den Kunden - auch weiterhin eine wichtige strategische Rolle spielen.

Auf lange Sicht soll der Vertrieb von CDs - in diesem Punkt sind sich Marktbeobachter einig - allerdings an Attraktivität verlieren. Die Gründe: immer schnellere Downloads via Internet, zunehmende Konkurrenz und vorinstallierte Linux-Systeme. Suse wandelt sich deshalb mehr und mehr zum Dienstleister. Diese Business-Sparte, auf die im Geschäftsjahr 1999 erst zehn Prozent des Umsatzes entfielen, soll laut Hohndel in Zukunft "einer der großen Schwerpunkte" des Unternehmens sein.

Dass sich mit Services im Linux-Umfeld stattliche Umsätze und gute Margen erzielen lassen, steht auch für Dirk Haaga, Geschäftsführer von Red Hat Deutschland, fest. Konsequenz: "Spätestens in drei Jahren soll Red Hat ein Dienstleistungsunternehmen sein." Man werde auch in Zukunft Produkte entwickeln und sie kostenlos zur Verfügung stellen. "Auf Dauer lässt sich im Open-Source-Umfeld jedoch nur mit Services Geld verdienen", ist Haaga überzeugt. Ähnlich wie Suse erwirtschaftete die Company im vergangenen Geschäftsjahr noch 70 Prozent der Einnahmen mit Softwareprodukten.

Für welche Feldzüge die Kriegskassen füllen?Ins Leistungsportfolio von Linux-Distributoren rücken heute immer mehr die allgemeinen Themen Support, Implementierung, Consulting und Training. Im Speziellen bietet Linux durch seine technisch bedingten Eigenarten weitere Chancen, zum Beispiel zum Einsatz in Umgebungen, die besondere Anforderungen an Zuverlässigkeit, Performance und Sicherheit stellen. Um auf diesem Gebiet größere Projekte stemmen zu können, sind Kooperationen mit kommerziellen Anbietern wichtig. So gaben Suse und SGI vor kurzem eine Kooperation zur Entwicklung von hochverfügbaren Anwendungen im Linux-Umfeld bekannt.

Auch der Aufbau von Web-Portalen genießt in der Agenda der Open-Source-Firmen einen hohen Stellenwert. An diesen Internet-Services wollen beispielsweise Firmen wie Red Hat, VA Linux oder Andover Net mitverdienen.

Gute Marktchancen in Sachen Linux wittern auch die Unternehmen, die von vornherein als Dienstleister an den Start gingen. In den USA sind das Anbieter wie Linuxcare, Cosource oder Sourcexchange, in Deutschland die Startup-Firmen ID-Pro und Innominate. "Unser Plus ist die Distributionsunabhängigkeit, das heißt, der Support beschränkt sich nicht nur auf eine Linux-Version", hebt Raphael Leiteritz, CEO von Innominate, die Stärke seiner Company hervor. Innominate wurde 1997 gegründet und ist in Deutschland das erste Linux-Unternehmen, in das eine Venture-Capital-Gesellschaft investierte. 2001 soll es an die Börse gehen.

Unbeeindruckt von Aktieneinbrüchen, prophezeien Analysten aller Couleur Open-Source-Software die besten Marktchancen. Angesichts solcher Perspektiven fahren einige Linux-Firmen eine aggressive Expansionsstrategie. Vor allem die "Schwergewichte" der Linux-Szene sind vom Akquisitionsfieber erfasst. Gut möglich, dass selbst heutige Größen in nicht ferner Zukunft geschluckt werden.

Red Hat, nach dem Börsengang mit einem dicken Finanzpolster ausgestattet, traute sich im November den 674 Millionen Dollar teuren Brocken Cygnus Solutions zu. Damit holte man sich einen Konkurrenten ins Haus, der ein bisher nicht abgedecktes Feld bearbeitet: Embedded Systems. Sie rechnen Branchenbeobachter zu den interessantesten Wachstumssegmenten der nächsten Jahre im Linux-Umfeld (siehe Seite 59).

Gewicht im Open-Source-Umfeld ist auch eine Frage internationaler Präsenz. Ob Suse, Red Hat, Caldera oder Turbolinux - jeder der heutigen Major Player hat die Globalisierung als Ziel. Kaum an der Börse notiert, kaufte sich Red Hat im Oktober 1999 mit der Übernahme der Stuttgarter Delix Computer GmbH einen Türöffner zum deutschen Markt.

Suse dagegen schaffte die bisherige Expansion aus eigener Kraft und ging 1997 den US-Markt direkt an. Heute ist das Unternehmen, dessen Logo ein grünes Chamäleon mit dem Namen "Geeko" ziert, nach Red Hat der umsatzstärkste Linux-Anbieter in den Staaten. Laut einer aktuellen Marktstudie von PC-Data reklamierten die Nürnberger im US-Retail-Markt Platz vier - nach Red Hat, Macmillan und Corel.

Kurios ist die Situation bislang im asiatischen Markt, wo Turbolinux noch vor kurzem ein Alleinregiment führte. Die Konkurrenz zieht allerdings mit Riesenschritten nach. Bluepoint etwa, ein US-Anbieter, sieht sich mit "mehr als 300 Geschäftsstellen" in China als führender Distributor.

Große chinesische Computerherstellern wie Great Wall, TCL oder Xiahue bieten das Linux-Betriebssystem Blue Point schon vorinstalliert an. Aufgrund der restriktiven Haltung der chinesischen Regierung gegenüber proprietären Softwareprodukten werden Open-Source-Entwicklungen im Reich der Mitte hervorragende Erfolgsaussichten eingeräumt.

Der Tanz auf dem internationalen Parkett wird für die Open-Source-Unternehmen in den nächsten Jahren zum finanziellen Kraftakt werden und die Bilanzen schwächen. Keiner der heutigen Key Player rechnet denn auch vor dem Jahr 2002 mit Gewinnen.

"Im Moment ist es für die Firmen wichtig, möglichst schnell Marktanteile zu gewinnen, da der Markt noch relativ jung ist und sich global positioniert", so die Einschätzung von WestLB-Analyst Loeken. Wie im Internet-Business wird langfristig das Rennen von jenen Firmen entschieden, die im Weltmarkt bereits heute die Nase vorn haben.

Wer vorn mit dabei sein will, muss eine gefüllte "Kriegskasse" besitzen oder Aktien als Akquisitionswährung einsetzen können. Mit Suse wird nach mehreren Verzögerungen noch in diesem Jahr der Startschuss für deutsche Linux-IPOs fallen. Man darf gespannt sein, ob der europäische Marktführer am Neuen Markt in Frankfurt ähnlich euphorisch gefeiert wird wie die ersten Linux-Werte an der Nasdaq.

* Andrea Goder ist freie Journalistin in München.

Abb.: Der Libex ist ein Aktienindex, der einen Schnitt aus Nasdaq-gehandelten Titeln von derzeit zehn nach Marktkapitalisierung wichtigsten Linux-Firmen bildet. Der Startwert am 1. März 2000 war 500. Genaue Erläuterungen unter www.linux-investor.de Quelle: Computerwoche