Die Lehren aus dem Zuliefer-Konflikt von VW

Der Lieferant sollte darauf achten, nicht austauschbar zu werden

30.08.2016
Von 
Hans Königes war bis Dezember 2023 Ressortleiter Jobs & Karriere und damit zuständig für alle Themen rund um Arbeitsmarkt, Jobs, Berufe, Gehälter, Personalmanagement, Recruiting sowie Social Media im Berufsleben.
Konflikte wie zwischen VW und seinem Zulieferer Prevent finden auch in anderen Branchen statt, werden nur nicht so öffentlich ausgetragen. Der langjährige Vertriebsprofi Peter Schreiber aus Ilsfeld bei Heilbronn erläutert im CW-Interview, wie sich solche Auseinandersetzungen am besten vermeiden lassen.
Vertriebsprofi Peter Schreiber warnt davor, die Welt in böse Herrsteller und arme Lieferanten zu unterteilen.
Vertriebsprofi Peter Schreiber warnt davor, die Welt in böse Herrsteller und arme Lieferanten zu unterteilen.

CW: Ihre auf den B2B-Sektor spezialisierte Vertriebsberatung arbeitet auch im Automotive-Sektor. Wo sehen Sie die Ursachen für den laut Medienberichten zumindest in Deutschland beigelegten Konflikt zwischen VW und seinem Zulieferer Prevent?

PETER SCHREIBER: In den Marktstrukturen. Auf der einen Seite stehen die knapp ein Dutzend Autohersteller weltweit und auf deren anderen Seite Tausende von Automobilindustrie-Zulieferern, die mit diesen Herstellern aber auch deren Top-Lieferanten Geschäfte machen möchten. Diese Marktstruktur führt immer wieder zu Interessengegensätzen und Konflikten.

CW: Warum?

PETER SCHREIBER: Weil die Lieferanten, die auf der jeweils nächsthöheren Stufe der Lieferpyramide als Teilelieferant, Komponentenlieferant, System-/Modullieferant und Hersteller stehen, eigentlich stets die Auswahl zwischen einer Vielzahl von Lieferanten haben. Daraus resultiert ein Machtgefälle. Solche Strukturen gibt es aber nicht nur in der Automobilindustrie. Sie existieren, wenn auch meist nicht so stark ausgeprägt, auch in anderen Branchen – zum Beispiel im Maschinenbau, in weiten Teilen der Informations- und Kommunikationstechnik-Industrie, im Baugewerbe und im Einzelhandel.

CW: Auch die Zulieferer kämpfen mit harten Bandagen, was dazu führt, dass die Lieferanten von ihren Kunden abhängig und im Extremfall erpressbar sind.

PETER SCHREIBER: Das Wort erpressbar würde ich in diesem Zusammenhang ungern gebrauchen, obwohl dies faktisch viele Teile- und Komponentenlieferanten sind. Und zwar weil man dann schnell bei solchen Kategorien landet wie „der böse Hersteller“ und „die armen Lieferanten“. Solche moralischen Kategorien helfen nicht weiter.

CW: Was schlagen Sie vor?

PETER SCHREIBER: Alle Unternehmen, egal ob sie Autos, Waschmaschinen oder Handys, Getriebe, Sitze oder Sensoren produzieren, stehen in einem scharfen Wettbewerb und für ihre Kunden, sowohl Geschäfts- als auch Privatkunden, der Preis ein zentrales Kaufentscheidungskriterium ist. Deshalb ist es eine Kernaufgabe des Einkaufs, möglichst preiswert einzukaufen – unabhängig davon, ob es sich um einen Hersteller wie VW oder einen Industriezulieferer handelt. Also ist es auch seine originäre Aufgabe auszuloten: Was ist für uns noch drin, wenn wir zum Beispiel den Lieferanten wechseln? Oder den Lieferprozess neu strukturieren? Oder einen zweiten Lieferanten mit ins Boot holen? Deshalb bezweifle ich auch, dass zum Beispiel die großen System- und Modul- sowie Komponentenlieferanten weniger hart mit ihren Zulieferern verhandeln als dies die Autohersteller tun. Wenn sie es täten und beim Einkauf nicht auch ihre Marktmacht nutzen würden, nähmen ihre Einkäufer, überspitzt formuliert, ihren Job nicht wahr.

CW: Also bringt es nichts, über die „bösen“ Hersteller zu jammern?

PETER SCHREIBER: Richtig. Dafür, dass im Markt ein gewisses Fair-Play herrscht, sind die Kartellbehörden und Gesetzgeber zuständig. Dass die Unternehmen innerhalb dieses Rahmens ihre Marktposition und ihre Größenvorteile nutzen, darf ihnen niemand vorwerfen.

CW: Dessen ungeachtet klagen viele Industriezulieferer, ihre Kunden würden ihnen mit ihren harten Vorgaben zunehmend die Luft zum Atmen nehmen.

PETER SCHREIBER: Das ist so. Doch daran sind die Zulieferer zum Teil selbst schuld.

CW: Inwiefern?

PETER SCHREIBER: Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus dem Einzelhandel erläutern. Dort gibt es so starke Marken wie Nutella, Maggi und Coca Cola, die der Einzelhandel nicht auslisten kann, selbst wenn er dies gerne täte. Denn die Kunden erwarten, wenn sie in ein Einzelhandelsgeschäft kommen, dass es dort Nutella und Coca Cola gibt. Entsprechend selbstbewusst können die Anbieter dieser Marken – im Gegensatz zu den Herstellern von No-name-Produkten – in den Verhandlungen mit den Handelsketten agieren. Ähnlich ist es in der Industrie. Jedes Unternehmen unterscheidet dort bewusst oder unbewusst zwischen Lieferanten, die es nahezu beliebig austauschen kann, und solchen, auf deren Unterstützung es nicht verzichten kann oder nur ungern verzichten würde. Zum Beispiel, weil sie im Bereich Entwicklung Vorreiter sind. Oder extrem zuverlässig sind. Oder den Hersteller weltweit unterstützen können. Ziel jedes Lieferanten muss es sein, dass er für seine Zielkunden nahezu unverzichtbar wird, weil er ihnen erkennbar einen Mehrwert bietet – verglichen mit seinen Mitbewerbern. Gelingt dies einem Zulieferer nicht, wird er austauschbar und sein einziges Kaufargument ist der Preis. Also sollte er sich auch nicht beschweren, wenn der Einkauf ihm sozusagen die Pistole auf die Brust setzt und droht: „Entweder du gehst mit dem Preis runter oder wir wechseln den Anbieter.“

CW: Damit drohen die Einkäufer auch anderen, wichtigen Zulieferern.

PETER SCHREIBER: Oft ja, doch nicht mit der ernsten Absicht, dies zu tun, wenn sie wissen, welchen Mehrwert ihrem Unternehmen der Zulieferer oder Dienstleister bietet. Denn der Job der Einkäufer ist es zumindest bei strategisch relevanten Produkten und Dienstleistungen, die nicht beliebig ersetzbar sind, nicht, möglichst billig, sondern möglichst preiswert einzukaufen.

CW: Was heißt das in der Praxis?

PETER SCHREIBER: Ein Beispiel. Wenn in meinem Büro die Computeranlage defekt ist, rufe ich nicht den billigsten Computerspezialisten, um die Anlage zu reparieren. Ich rufe vielmehr einen Spezialisten, von dem ich weiß, der versteht sein Geschäft, er ist im Handumdrehen da und hat die Anlage schnellst möglich repariert – selbst wenn er doppelt so teuer ist wie der billigste Anbieter. Denn ich weiß: Wenn meine Mitarbeiter drei, vier Tage rumsetzen und Däumchen drehen, dann wird es nicht nur teurer, ich bekomme auch Probleme mit meinen Kunden, weil ich versprochene Leistungen nicht fristgerecht oder mit der gewohnten Qualität liefern kann. Ebenso ist es in der Industrie. Die Unternehmen fragen sich beim Einkauf von Produkten und Dienstleistungen stets auch: Was ist uns die Leistung wert?

CW: Das heißt, der Zulieferer oder Dienstleister muss seinen Kunden eine Top-Leistung bieten.

PETER SCHREIBER: Ja, und zwar eine Top-Leistung aus Kundensicht. Denn was für die Kunden eine Top-Leistung ist, kann abhängig unter anderem von deren Marktposition und -positionierung, Ressourcen und Zielen sehr verschieden sein. Mal liegt der Fokus stärker auf der Produktqualität, mal stärker auf der Sicherheit und Zuverlässigkeit, mal stärker auf dem Preis. Das gilt es im Kundenkontakt auszuloten.

CW: Tun das die Zulieferer nicht?

PETER SCHREIBER: Häufig nicht. Teile- und Komponenten-Lieferanten gehen zum Beispiel oft davon aus: Hauptsache unser Produkt ist technisch okay. Dass ihre Zielkunden meist noch eine Vielzahl anderer Erwartungen beispielsweise hinsichtlich der Lieferung, der Rechnungstellung, der Mitarbeiterschulung – oder allgemein des Services – haben, machen sie sich nicht bewusst. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Es nutzt wenig, einem Kunden allein eine Top-Leistung zu bieten. Ich muss auch ein entsprechendes Wertebewusstsein bei ihm hierfür schaffen. Denn was habe ich als Zulieferer davon, wenn mein Produkt die technischen Vorzüge A, B und C hat, der Kunde dies aber nicht weiß? Oder wenn dies nur die Techniker, die die Teile einbauen, wissen, jedoch nicht der Einkauf und die Geschäftsleitung? Oder wenn ich den Kunden einen 1A-Service biete, aber dies den Entscheidern im Unternehmen nicht bewusst ist? Wenig! Hier besteht bei den Vertriebsmitarbeitern vieler Zulieferer ein enormer Schulungsbedarf – auch weil sie im Arbeitsalltag meist zu wenig mit den Mitarbeitern auf der operativen Ebene sowohl im eigenen Unternehmen als auch in der Kundenorganisation kommunizieren. Deshalb wissen sie oft nicht, was ihr Produkt, ihre Leistung für den Kunden so wertvoll macht.

CW: Können auch die großen Hersteller aus dem Konflikt von VW mit seinem Zulieferer etwas lernen?

PETER SCHREIBER: Selbstverständlich. Für die meisten produzierenden Unternehmen, egal welcher Branche, gilt: Sie können ihre System-, Komponenten- und oft auch Teilelieferanten, anders als die Lieferanten von Büroklammern und Kugelschreibern, nicht von heute auf morgen austauschen. Denn bei einem Lieferantenwechsel ist oft ein Umrüsten der Produktion oder ein Schulen und Einarbeiten der Mitarbeiter nötig. Das heißt, der Lieferantenwechsel hat eine gewisse Vorlaufzeit, in der der Hersteller noch vom aktuellen Lieferanten abhängig ist. Also muss er darauf achten, dass der Interessengegensatz „Ich als Hersteller möchte den Lieferanten ganz oder teilweise austauschen“ und „Ich als Lieferant möchte weiterhin im gewohnten Umfang liefern“ nicht zu einem heißen Konflikt wird, und der Lieferant, der aus seiner Warte wenig zu verlieren hat, dem Hersteller zum Beispiel die Produktion lahmlegt.

CW: Dieses Problembewusstsein fehlte bei VW?

PETER SCHREIBER: Zumindest hatte ich als Außenstehender den Eindruck, das Konfliktpotenzial, das dieser Interessengegensatz enthält, wurde bei VW unterschätzt.